Christian Tetzlaff

Artist in Residence 2025/26

Christian Tetzlaff vermag es, Konzerte zu einer existenziellen Erfahrung für Interpreten und Publikum werden zu lassen. Der Geiger nimmt den Notentext beim Wort, er versteht Musik konsequent als Sprache, er liest die großen Werke als Erzählungen, die tiefe Einsichten spiegeln. Dieser Ansatz erlaubt den Zugriff auf die bekannten, großen Werke oft in neuer Klarheit und Schärfe. Immer wieder fällt sein Blick auch auf vergessene Meisterwerke. Gleichzeitig interpretiert er Brahms und Beethoven in schier unerhörter Art und Weise. Überdies engagiert sich Christian Tetzlaff für gehaltvolle neue Werke, er pflegt ein ungewöhnlich breites Repertoire und gibt rund 100 Konzerte pro Jahr. Dabei tritt er an der Seite der renommiertesten Dirigenten und Orchester auf vier Kontinenten auf.

In der Spielzeit 2025/26 ist Christian Tetzlaff Artist in Residence beim RSB und wird mehrmals bei Sinfoniekonzerte, Kammerkonzerten oder einer moderierten Probe zu erleben sein.

Im Interview mit Julia Spinola spricht er über die Kunst des gemeinsamen Musizierens, das feine Gleichgewicht zwischen Solist, Orchester und Dirigent – und darüber, warum große Musik mehr verlangt als Virtuosität.

Julia Spinola (JS): Als Solist nehmen Sie auf der Bühne eine besondere Position zum Orchester und zum Dirigenten ein. Wer ist Ihr wichtigster Kommunikationspartner?

Christian Tetzlaff (CT): Das wechselt beständig. Wenn ich neben einem Dirigenten stehe und wir ein größeres, etwas komplexeres Stück aufführen wollen, findet zuerst eine Abstimmung zwischen uns beiden statt. Das geschieht teilweise auch verbal. Ich spiele etwas auf der Geige, der Dirigent sagt, was er empfindet und andersherum. Wenn ich dann vor dem Orchester stehe, ist das vollkommen anders. Ich versuche genau das zu tun, was ich auf selbstverständliche Weise auch in einer Kammerbesetzung tun würde: Geben und Nehmen. Man hört zu, was der andere spielt, man passt sich ein und färbt es durch die eigene Stimme. Das findet für mich ganz genauso im Orchester statt. Die Idee, dass ein Mensch ganz vorne steht und sein Violinkonzert spielt, während die restlichen 90 Musiker und Musikerinnen auf der Bühne auch alle genau das tun sollen, was er sich vorstellt, ist nicht nur falsch, sondern das wäre auch sehr kompliziert. Denn es ist nicht einfacher, 90 Menschen imitieren zu lassen, was ein einzelner musikalisch vorgibt. Zudem würde es zur kompositorischen Struktur der meisten großen Werke in völligem Widerspruch stehen. Gerade die Brahms- und Beethoven-Konzerte verlangen in den Hauptsätzen an vielen Stellen, dass der Solist das Orchester begleitet. Große Melodien liegen in den Bläsern, man spielt als Solist Girlanden und virtuose Formulierungen, die man einpasst in das, was der Oboist oder die Oboistin schön singen möchten. Die Exponiertheit von Solist oder Solistin wird im Musikbetrieb oft verzerrt dargestellt. Als ob es in der Musik darum gehen könnte, wie ein Mensch sich selbst darstellt. Das gilt genauso für Dirigenten und Dirigentinnen. Beide sind gleichermaßen Interpreten, Vermittler von dem, was Herr Brahms oder Herr Beethoven sagen wollten. Es geht darum, dieses Kunstwerk gemeinsam so erklingen zu lassen, dass alle ergriffen sind.

JS: Wie funktioniert die Kommunikation mit dem Orchester, wenn man in dieser Haltung musiziert?

CT: Wunderbar, über eine nonverbale Kommunikation. Natürlich geht sie, allein wegen der Sichtbarkeit, etwas mehr von denen aus, die vorne stehen. Ich will also nicht behaupten, dass es ein komplett demokratischer Prozess ist. Was vorne geschieht, bündelt erstmal alle anderen. Aber wenn das musikalische Geschehen gerade bei einzelnen Orchestermitgliedern liegt, werden sich auch gute Dirigenten zurückhalten und sich davor hüten, einem Solisten oder einer Solistin im Orchester vorzudirigieren, wie er oder sie spielen soll. Das würde die Freiheit rausnehmen. Der Dirigent gibt die großen Linien vor, aber der einzelne Moment gehört eigentlich immer den Spielern und Spielerinnen. Und ein großer Dirigent schafft es zu sagen: Hier braucht ihr mich – und hier braucht ihr mich nicht.

JS: Das Bild vom diktatorischen Pultherrscher ist ebenso überkommen wie das vom selbstverliebten Virtuosen, dem alle folgen müssen. War es möglicherweise seit jeher eher eine Wunschprojektion des Publikums?

CT: In jedem Fall war es für die Komponisten immer schon traurig, weil es den Fokus weg von der Musik lenkt. Was für ein trauriges Bild, dass man als Solist weit entfernt vor dem Orchester steht, selbst gar nicht auf seine Kollegen und Kolleginnen schaut, sondern erwartet, dass sie alle folgen und schauen, was der Gott da vorne macht. Teil des musikalischen Gebildes zu sein, ist doch die viel größere, wirkliche Freude. Als Konsequenz dieser alten Vorstellung wird auch in der Kammermusik oft bis heute noch der Name des Geigers größer geschrieben als der des Pianisten. Ich verstehe nicht, warum der Starkult um den Violinisten so wichtig wurde auf Kosten der Musik. Mit dem Orchester ist es ähnlich wie in der Kammermusik. Lasst uns doch bitte schön zusammen musizieren, dann haben alle mehr Spaß und der Komponist auch.

JS: Ein Orchester ist ein in sich bereits seismografisch austarierter Organismus. Wie funktioniert dieses gemeinsame Musizieren, wenn man sich als Solist einfügt in diesen vielstimmigen Kosmos?

CT: Das ist ganz einfach, wenn man die Ohren aufmacht und einander versteht. Sobald ein paar Takte auf eine gewisse Art erklungen sind, gibt es meistens nur eine wirklich folgerichtige Antwort für die nächsten vier Takte. Das spürt jeder Musiker. Ich habe zum Beispiel fast nie das Bedürfnis, einen Dirigenten wirklich anzugucken oder zu erwarten, dass er mit diesem Ich-begleite-dich-Blick an der Geige hängt. Man merkt sofort, was passieren soll. Und wir dürfen auch der Musik eine gewisse Mystik und Esoterik belassen – die ist nämlich einfach da, warum auch immer. Man antizipiert an kleinsten Bewegungen, was als nächstes passieren wird. Deswegen kann man auch vom ersten Pult aus oder als Solist ein Orchester führen, ohne große Gesten und ohne viel zu sagen, weil die Sprache der Musik in sich eine logische Sprache ist. Nur wenn man anfängt, einen komplizierten Interpretations-Überbau zu erfinden, muss man sich stärker verabreden und mit großen Blicken oder Gesten agieren. Die meiste große Musik hat eine natürliche Folgerichtigkeit.

JS: Das klingt, als sei die innere musikalische Logik – also letztlich das Werk – der eigentliche Dirigent?

CT: Dem würde ich zustimmen. Und wer die Musik als Muttersprache hat, wird sich miteinander beim Musizieren meistens ohne große Zeichen verstehen. In meiner Erfahrung wird es immer nur dann kompliziert, wenn man andere Dinge vorhat mit einem Stück. Man muss die Komposition ernst nehmen. Und das ist, gerade unter Solisten, nicht immer selbstverständlich. Wenn man zum Beispiel ein Stück 20 Schläge unter der angegebenen Metronomzahl spielt, dann muss man extrem an ihm herumdrehen, dass es irgendwie funktioniert. Es ist ein böses Missverständnis zu glauben, dass die künstlerische Freiheit eingeschränkt würde, wenn man der Komposition folgt. Es gehören eine gewisse Andacht und Bescheidenheit dazu, damit alle gleichberechtigt an einem Werk beteiligt sein können.

Konzerte mit Christian Tetzlaff