Digitales Programm

Fr 24.10.2025 Roderick Cox & Leila Josefowicz

20:00 Uhr Konzerthaus

Esa-Pekka Salonen

„Helix“ für Orchester

Igor Strawinsky

Concerto en Ré – Konzert für Violine und Orchester D-Dur

Pause

Pjotr Tschaikowsky

Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

Mitwirkende

Roderick Cox Dirigent

Leila Josefowicz Violine

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Konzerteinführung: 19:10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Steffen Georgi

Das Konzert wird live bei Deutschlandfunk Kultur gesendet.

Teilchenbeschleunigende Musik

Am 23. Oktober 1931 musizierte das Orchester der Berliner Funk-Stunde, mithin der Vorgänger des heutigen Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, dem Violinkonzert von Igor Strawinsky in der alten Philharmonie vor vollem Saal und geöffneten Mikrofonen sozusagen den Ur-Erfolg. „Schärfe in Klang und Rhythmus. Das ganze Orchester hämmerte. Ein grandioser Eindruck. Unheimliche Begeisterung der ausverkauften Philharmonie“, jubelte Heinrich Strobel 1931 in der Zeitschrift „Melos“. Möge es auch diesmal so sein!

Die Sinfonie Nr. 4 von Pjotr Tschaikowsky wird jedenfalls in dieses Feuer weiteres Öl gießen. Grollt am Anfang noch das Schicksal, verkörpert von einem wuchtigen Hörnermotiv, so steigert sich das Finale unter Zuhilfenahme des russischen Volksliedes „Stand ein Birkenbäumchen“ zu übermütiger Raserei. „Wenn Sie an sich selbst keinen Anlass zur Freude finden, blicken Sie auf andere. Gehen Sie unter das Volk. Schauen Sie, wie es versteht, heiter zu sein, wie die Leute sich ihrer Freude hingeben!“ Wilde, betäubende Schläge fahren die Sinfonie an die Wand.

Zu Beginn des Abends ereignet sich im großen Sinfonieorchester eine neun Minuten andauernde Beschleunigung. Esa-Pekka Salonen hat sie 2005 komponiert und ihr den Titel „Helix“ gegeben. Doch wenn das Tempo schneller, die Notenwerte aber zugleich länger werden, ändert sich „nicht unbedingt der Eindruck von Geschwindigkeit selbst. Daher die Spiralmetapher. Das Material … wird durch sich ständig verengende konzentrische Kreise geschoben, bis die Musik einen Punkt erreicht, an dem sie anhalten muss, da sie nirgendwo hin kann.“ (Esa-Pekka Salonen)

"Muss es sein?" - Der Konzertpodcast

Esa-Pekka Salonen

„Helix“ für Orchester

„Die Form von Helix lässt sich tatsächlich als Spirale beschreiben, wie sie einer Spule zugrunde liegt; oder, etwas akademischer ausgedrückt, bildet sie eine Kurve, die auf einem Kegel liegt und einen konstanten Winkel mit den zur Kegelbasis parallelen Geraden innehat.“

Esa-Pekka Salonen

Spitz zulaufend

Helix – der altgriechische Begriff steht für eine Kurve, die sich gleichmäßig um den Mantel eines Zylinders windet. Wenn aber der umwickelte Körper kein gerader Zylinder ist, sondern ein spitz zulaufender Kegel, dann wird die Sache spannend. Willkommen im heutigen Konzert!„Ich beschloss, ein feierliches und direktes, ouvertürenartiges Stück zu komponieren, das dennoch sehr streng strukturiert sein und im Wesentlichen auf einem kontinuierlichen Prozess basieren sollte.“ Der Dirigent und Komponist Esa-Pekka Salonen weiß aus großer Erfahrung, wie man ein Publikum beeindrucken kann. Das Orchesterwerk „Helix“ erklang zum ersten Mal am 27. August 2005 bei den legendären Londoner Proms für die BBC, in deren Auftrag es komponiert worden war und erzielte auf Anhieb einen großen Erfolg. Seither wurde es bereits 75-mal rund um die Welt aufgeführt. Die heutige 76. Aufführung ist zugleich die fünfte unter der Leitung des Dirigenten Roderick Cox. „Die Form von Helix lässt sich tatsächlich als Spirale beschreiben, wie sie einer Spule zugrunde liegt; oder, etwas akademischer ausgedrückt, bildet sie eine Kurve, die auf einem Kegel liegt und einen konstanten Winkel mit den zur Kegelbasis parallelen Geraden innehat.“ (Esa-Pekka Salonen)

Erst fang se janz langsam an…

Einem Trichter gleich, füllt sich der Kegel allmählich mit musikalischem Material. Dieses gerät zunehmend unter Druck und wird kontinuierlich ans andere Ende gepresst – wie in einer veritablen Sahnespritze, nur dass es am andere Ende so gut wie keinen Ausgang gibt. „Der Ablauf von Helix entspricht im Wesentlichen einem neunminütigen Accelerando. Das Tempo wird schneller, aber die Notenwerte der Phrasen werden entsprechend länger.

Daher ändert sich nur die Beziehung des Materials zum Puls, nicht unbedingt der Eindruck von Geschwindigkeit selbst. Daher die Spiralmetapher: Das Material (das im Wesentlichen aus zwei verschiedenen Phrasen besteht) wird durch immer enger werdende, konzentrische Kreise geschoben, bis die Musik einen Punkt erreicht, an dem sie anhalten muss, da sie nirgendwo hinkann.“ Salonens hörenswerte Studie über die Illusion von Geschwindigkeit und Beschleunigung in der Musik endet laut und hektisch: „Der musikalische Ausdruck verändert sich im Laufe dieser neun Minuten drastisch: Die idyllische, fast pastorale Eröffnungsphrase für Piccoloflöte und Kontrafagott kehrt viel später in den Hörnern und Trompeten im Fortissimo zurück, umgeben von einem sehr geschäftigen Tutti-Orchester. Der Schlussteil zeigt das Material in einem fast manischen Licht.“ (Esa-Pekka Salonen)

Esa-Pekka Salonen

Der finnische Komponist und Dirigent tritt 2026/2027 die Position des Kreativdirektores des Los Angeles Philharmonic an, 2027/2028 wird er für Kreativität und Innovation der Philharmonie de Paris zuständig sein und das Amt des Chefdirigenten des Orchestre de Paris übernehmen. Zuvor war er von 2020 bis 2025 Musikdirektor des San Francisco Symphony Orchestra und ist derzeit Ehrendirigent des Philharmonia Orchestra, des Los Angeles Philharmonic und des Swedish Radio Symphony Orchestra. Er leitet das berufsvorbereitende Negaunee Conducting Program an der Colburn School und war Mitbegründer des Baltic Sea Festival, dessen künstlerischer Leiter er von 2003 bis 2018 war. Im Jahr 2023 leitete er das Nobelpreiskonzert, 2024 gewann er den Polar Music Prize. Er residierte als Komponist und Dirigent bei den Berliner Philharmonikern und an der Elbphilharmonie in Hamburg. Das Finnische Rundfunk-Sinfonieorchester spielte unter seiner Leitung bei den Salzburger Osterfestspielen die Musik von Mussorgskis „Chowanschtschina“ in der Produktion von Simon McBurney.

Esa-Pekka Salonen ist sowohl als Dirigent als auch als Komponist bekannt. Er wird immer wieder eingeladen, seine eigenen Kompositionen zu dirigieren, darunter aktuell „Tiu“ und „Dona Nobis Pacem“ mit dem Schwedischen Rundfunk-Sinfonieorchester und seine Sinfonia concertante mit dem Organisten Olivier Latry und dem Göteborger Sinfonieorchester. Außerdem erklingt seine Musik mit anderen Dirigenten bei Orchestern und Ensembles weltweit, darunter heute erstmals beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin.

Zu Salonens Hauptwerken gehören Konzerte für Klavier (Yefim Bronfman), Violine (Leila Josefowicz) und Violoncello (Yo-Yo Ma), die alle als von ihm selbst dirigierte Aufnahmen erschienen sind; „Karawane“, ein Werk für Chor und Orchester nach einem dadaistischen Gedicht von Hugo Ball; die Sinfonia concertante für Orgel und Orchester sowie das Hornkonzert (Uraufführung mit Stefan Dohr beim Lucerne Festival, danach u.a. in Boston, Mailand, Paris und Hongkong).

Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören die mit einem GRAMMY® Award (Beste Opernaufnahme) ausgezeichnete Weltersteinspielung von Kaija Saariahos „Adriana Mater“, Aufnahmen von Bartóks drei Klavierkonzerten mit Pierre-Laurent Aimard sowie Raumklangaufnahmen von Ligetis „Clocks and Clouds“, „Lux Aeterna“ und „Ramifications“.

Esa-Pekka Salonen hat ein Faible für Spitzentechnologien. Er hat digitale Projekte wie Multimediaproduktionen, Virtual-Reality-Installationen und KI-Kooperationen geleitet. Auf diesem Gebiet sorgten die Wanderinstallationen RE-RITE und Universe of Sound mit dem Philharmonia Orchestra ebenso für Aufmerksamkeit wie die preisgekrönte KI-Operninstallation „Laila“, die das Publikum einbezogen hat, und digitale Projekte mit dem San Francisco Symphony Orchestra, an denen bildende Künstler beteiligt waren.

Igor Strawinsky

Concerto en Ré – Konzert für Violine und Orchester D-Dur

Handgreiflichkeiten wegen eines Violinkonzertes

Das „Concerto en ré“ ist ein Meilenstein in der Orchestergeschichte des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Strawinsky selbst dirigierte am 23. Oktober 1931 die Uraufführung in Berlin mit dem Funkorchester und dem Solisten Samuil Dushkin. Das Konzert der Berliner Funkstunde reihte sich ein in eine ganze Serie von Strawinsky-Aufführungen des Orchesters: 13. Januar 1930 Sinfonie für Blasinstrumente (Dirigent: Igor Strawinsky); 13. Januar 1931 „Die Geschichte vom Soldaten“ (Dirigent: Hermann Scherchen); 1. Juni 1932 Sinfonie Es-Dur op. 1 (Dirigent: Leo Borchard). Später erinnerte sich Strawinsky in seinen „Chroniques de ma vie“ lobend der zweiten Aufführung des Violinkonzertes in gleicher Besetzung ein Jahr später, am 28. Oktober 1932.

„Der Rundfunk tut, was die Konzertgeber tun sollten“, unterstützte Heinrich Strobel 1931 in der Zeitschrift „Melos“ das Konzert, bewunderte außerdem Strawinskys äußerste „Schärfe in Klang und Rhythmus. Das ganze Orchester hämmerte. Ein grandioser Eindruck. Unheimliche Begeisterung der ausverkauften Philharmonie.“

Ganz anders die „Zeitschrift für Musik“. Deren Kritiker schäumte: „... Dann versteht man auch, weshalb Strawinsky seine neueste Musikware, für die er in seiner neuen Heimat keine Abnehmer findet, nach Berlin importiert. Und begreift den Jubel eines ausverkauften Konzertsaales, den die „Berliner Funkstunde“ (natürlich!) nach erfolgreicher Radio-Impfung mit Menschenmassen bis zum letzten Platz füllte. Bedauerlich, daß die öffentliche Meinung einen zu beschämend geringen Mut zur Aufrichtigkeit besaß, um die „Welt-Uraufführung“ dieses Violinkonzertes, das Samuel Dushkin vortrug, beim richtigen Namen zu nennen: Als eine Bachschändung, die auf den Urgrund Bachscher Stileigenheiten das wirre Gedankengestrüpp hypermodernen Unfugs verpflanzte mit Anklängen von Kirmes-Musik in bäurisch-derber Instrumentation, und die unter der Schminke französischer Zivilisation die Wildheit halbasiatischer Instinkte erkennbar genug aufleuchten ließ.“

Saitenspielereien

Strawinsky hielt das Violinkonzert für eines seiner besten Werke. Dass nicht nur er, für den der Umgang mit traditionellen Formen seiner unmittelbaren Vorgänger stets problematisch war, sich um 1930 auf das Konzertprinzip fixierte, entsprach offensichtlich dem musikalischen Zeitgeist und beschenkte uns mit einer stattlichen Zahl von singulären Violinkonzerten gerade aus dieser Epoche.

„Vom rein musikalischen Standpunkt schien es mir nun richtig und sogar dringend erforderlich, dieses Element wieder zu studieren und zu pflegen. Es lockte mich, eine Musik zu komponieren, bei der das melodische Prinzip im Mittelpunkt steht. Welche Freude, sich wieder dem vielstimmigen Wohllaut der Saiten hinzugeben und aus ihm das polyphone Gewebe zu wirken!“

Igor Strawinsky

Hatte er bereits während der 1920er-Jahre zwei Klavierkonzerte verfasst – 1935 folgte ein drittes –, so eignet diesen wie dem Violinkonzert und zahlreichen Kammermusikwerken dieser Zeit der höchst pragmatische Aspekt, für den eigenen Aufführungsbedarf geschrieben worden zu sein. Strawinsky befand sich damals jährlich mehrere Monate auf Konzertreisen und verdiente damit den wesentlichen Lebensunterhalt für die Familie.

Samuil Dushkin

Obwohl Strawinsky in anderen Schaffensphasen gerade die Violine stiefmütterlich behandelte, entstanden während weniger Jahre mehrere Kompositionen, die dem höchsten Streichinstrument, seiner „italienischen Herkunft entsprechend die Pflege des Gesangs, der Melodie“ (Strawinsky) betonend, solistischen Raum gaben. Wesentlichen Anteil an Strawinskys „Violin-Interesse“ hatte der junge amerikanische Geiger Samuel Dushkin, ein engagierter, talentierter und aufgeschlossener Musiker von hohem kulturellem Format, der bei dem berühmten Violinpädagogen Leopold Auer (1845-1930) studiert hatte. Strawinsky lernte Dushkin im Wiesbadener Haus von Willy Strecker, einem Mitbesitzer des Schott-Verlages und Freund Paul Hindemiths, kennen. Nach eigenen Aussagen sowohl Strawinskys als auch Dushkins überwanden beide schnell ihre anfänglichen Vorbehalte gegeneinander, und es begann eine intensive Zusammenarbeit. Dushkin nahm zu diesem Zweck extra seine Wohnung nahe bei Strawinsky, anfangs in Nizza, später in Voreppe en Isère. Entgegen seiner Gewohnheit prüfte Strawinsky Dushkins Vorschläge sehr wohlwollend und überdachte jeweils das bereits Geschriebene neu, wenn er auf Dushkins Rat etwas verändert hatte. Der Geiger, der sich wie Joseph Joachim an der Seite Johannes Brahms’ fühlte, verglich den Arbeitsstil des Komponisten mit dem eines Architekten,der immer das Fundament im Auge behielt, während er einen Raum im dritten Stock gestaltete.

Igor Stravinski und Samuel Dushkin

Bachianas Igoriensis

Alle vier Sätze werden durch ein Dreiton-Motiv d‘ - e‘‘ - a‘‘‘ eröffnet. Gerade dieses „Passwort“, wie es Strawinsky selbst nannte, war Gegenstand der Diskussion zwischen beiden Künstlern gewesen. Strawinsky hatte Dushkin gefragt, ob ein derart weit auseinanderliegender Akkord auf der Violine spielbar sei. Dushkin antwortete mit Nein. Die maßlose Enttäuschung aber, die er Strawinsky damit ganz offenkundig bereitete, veranlasste ihn, die Violine zu nehmen und solange zu probieren, bis er am nächsten Tag seine Meinung stolz ändern konnte. Während die beiden Ecksätze das virtuose spielerische Element bedienen, machen die beiden Mittelsätze Aria I und II ihrem Namen alle Ehre. Im Orchester dominieren die Bläser, verhelfen der Solovioline erst recht zur Entfaltung. Da spielen sich Solist und einzelne Instrumente und Instrumentengruppen des Orchesters wie agierende Individuen mit eigener Persönlichkeit gegenseitig den Ball zu: Motive werden aufgegriffen und fortgesponnen, ausgetauscht, kontrapunktiert und verknüpft, wobei Strawinsky die Gleichzeitigkeit dem Nacheinander vorzieht – „concertare“ reinsten Wassers.

Der Russe entdeckte das Konzertieren im Sinne Vivaldis und Bachs für sich neu. Dabei bediente er sich allein der Prinzipien und Ideen, nicht aber der unmittelbaren musikalischen Details. Rigoros baute er in das neoklassizistische Gerüst seine eigene Sprache ein, was die Traditionalisten immer das Fehlen Bachscher Intonationen bei Strawinsky bemängeln ließ, während die Modernisten geringschätzig auf den vermeintlich zopfigen Papa-Bach-Nachfolger herablächelten. „Strawinskys Wiederentdeckung des 18. Jahrhunderts war eine leidenschaftliche Anverwandlung, glich eher musikalischen Raubzügen und Einvernahmen.“ (Wolfgang Burde)

Pjotr Tschaikowsky

Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

"Diese Musik dringt so tief in die
Seele"

Antonín Dvořák

Ein bewunderndes Urteil. Antonín Dvořák bedachte damit die Musik seines Kollegen Pjotr Tschaikowsky. Zwei Seelenverwandte – Slawen, Romantiker – , denen manch anderer Kollege ohne weiteres an die Seite gestellt werden könnte. Ähnlich waren sie sich sogar in ihrem Habitus: Hochgeschlossener schwarzer Gehrock, in die Ferne schweifender, abgeklärter Blick, vor allem aber würdiger grauer Vollbart; so ungefähr stellt man sich heute einen spätromantischen Komponisten vor.

Hinter der würdevollen Fassade sah es oft ganz anders aus: „Trunkenheit... Ich trank soviel, dass ich mich an nichts mehr erinnere... Endlose Trunkenheit...“, verrät ein intimes Tagebuch von 1887 die Situation Tschaikowskys. Aufgeschrieben auf der Höhe seines Ruhmes – gerade von einer triumphalen Konzertreise zurückgekehrt, während der er in Leipzig, Berlin, Nürnberg, Prag und London eigene Werke dirigiert hatte. Gleichzeitig warf er mit souveräner Hand eine effektvolle, routinierte Sinfonie, die fünfte, aufs Papier – so scheint es. Die Realität? Skrupel und Selbstzweifel: „Ich will jetzt tüchtig arbeiten, um mir selbst, aber auch den anderen zu beweisen, dass ich mich noch nicht ausgeschrieben habe.“

Im Finale der Fünften wandelt sich der Trauer- noch in einen Triumphmarsch, der nach stürmischer Entwicklung in purer Siegerpose gipfelt. Doch diese Triumphmusik lügt, und das Publikum lässt sich jedesmal aufs Neue täuschen. Schostakowitsch hat aus dem Finale von Tschaikowskys Fünfter für seine eigene Fünfte viel gelernt.

Zwei Frauen

Zehn Jahre zuvor hatte die Sinfonie Nr. 4, die erste der berühmten drei letzten, den Beginn der „Ruhmesjahre“ von Pjotr Tschaikowsky markiert, zugleich bedeutete sie das Ende eines einschneidenden Lebensabschnittes. Als Professor am Konservatorium und bekanntes Mitglied der russischen Oberschicht, vermochte er das verlogene Doppelleben nicht länger zu ertragen, das er wegen seiner Homosexualität führen musste. „Russland gehörte wie Deutschland und England zu den wenigen Ländern, die aus Moralheuchelei Homosexualität durch das Strafgesetz zu unterdrücken versuchten. Die ständige Angst machte Tschaikowsky auch körperlich krank.“ (Bernd Feuchtner)

Während der Arbeit an seiner Oper „Eugen Onegin“ entschloss er sich zu einem folgenschweren Schritt: Er heiratete im August 1877 seine ehemalige Schülerin Antonina Miljukowa in einem Anflug von Selbstkasteiung, nicht zuletzt, um dem verunglimpfenden Gerede über sein Privatleben den Boden zu entziehen. Das Zusammenleben mit der ungeliebten, seinem Schaffen gegenüber völlig unempfänglichen Frau machte ihn unfähig zu schöpferischer Arbeit und ließ ihn am Leben verzweifeln.

Tschaikowsky und seine Ehefrau Antonina Miljukowa

Nach elf Wochen trennte er sich von ihr und unternahm einen Selbstmordversuch. In den folgenden Monaten rang er um seine psychische und physische Gesundheit. Dabei spendete ihm die Freundschaft mit Nadeshda von Meck Trost und Hoffnung.

Nadeshda von Meck

1876 hatte die ebenso eigenartige wie einzigartige Verbindung des Komponisten mit der reichen Witwe eines Eisenbahningenieurs, Nadeshda Filaretowna von Meck, begonnen. Der Komponist schrieb ihr mehrere hundert Briefe und vertraute ihr seine innersten Regungen an, vermied lebenslang jedoch ein unmittelbares persönliches Gespräch mit dieser bemerkenswerten Frau, beide sahen einander nur wenige Male von weitem. Frau von Meck akzeptierte das menschenscheue Wesen Tschaikowskys, der ihr (wie später auch Claude Debussy) viel zu verdanken hatte. Ihre Anteilnahme an seinem Schaffen, an seinen Sorgen und Nöten, nicht zuletzt ihre finanzielle Unterstützung in Form einer Jahresrente gaben Tschaikowsky neuen Lebensmut, und so vollendete er die vierte Sinfonie nach der Wiederaufnahme der Arbeit in verhältnismäßig kurzer Zeit.

Das Fatum schlägt zu

Unerhört ist schon der Beginn. Eine wagnerisch blecherne Hörnerfanfare meißelt sich martialisch ins Bewusstsein. Tschaikowsky bezeichnet das Motiv als „Fatum, jene Schicksalsgewalt, die unser Streben nach Glückseligkeit hindert, die eifersüchtig darüber wacht, dass Glück und Friede nicht vollkommen oder ungetrübt seien, die über unserem Haupte schwebt wie ein Damokles-Schwert und beständig, unentwegt die Seele vergiftet.“ Nur zögernd gewinnt die Musik im Laufe des ersten Satzes ihre Fassung zurück. Ein Marschthema, beständig vorwärtsgepeitscht vom Eingangsmotiv, kommt ins Straucheln, unterliegt schließlich den Schlägen des Schicksals.

Wir erfahren aus dem Briefwechsel mit Frau von Meck wichtige Hintergründe über die Entstehung der vierten Sinfonie, die der Komponist in seinen Briefen als „unsere Sinfonie“ bezeichnet und die er ihr, seinem „besten Freund“, gewidmet hat. Die Uraufführung fand am 10. [22.] Februar 1878 unter der Leitung von Nikolai Rubinstein in Moskau statt. Tschaikowsky, der zu dieser Zeit gerade in Florenz weilte, erfuhr davon aus einem Brief der Freundin; gleichzeitig fragte sie an, ob der Sinfonie „ein bestimmtes Programm“ zugrunde liege. Seiner berühmt gewordenen Antwort vom 17. Februar [1. März] 1878 entstammen das oben stehende wie auch die folgenden Zitate.

Eingedenk der Unüberwindlichkeit des Schicksals, resigniert Tschaikowsky, müsse man „sich ihm unterwerfen und seine Zuflucht in vergeblichen Sehnsüchten suchen.“ Eine solche erblüht im zweiten Satz: „Es ist das melancholische Gefühl, das uns gegen Abend durchströmt, wenn wir allein, vom Tagwerk ermüdet, dasitzen. Sie haben ein Buch zur Hand genommen, aber es ist Ihnen aus der Hand geglitten. Ein Schwarm von Erinnerungen taucht auf. Und Sie sind traurig, weil so vieles schon hinter Ihnen liegt... Es gab glückliche Augenblicke, damals, als junges Blut warm in uns pulste und das Leben erfreulich war. Es gab auch Augenblicke voll Kummer, voll unwiederbringlicher Verluste. Das alles ist fern, vergangen. Traurig ist’s und doch irgendwie süß, sich in die Vergangenheit zu verlieren.

Der dritte Satz drückt keine bestimmten Empfindungen aus. Es ist eine launige Arabeske, flüchtige Erscheinungen, wie sie unsere Phantasie durchziehen, wenn man ein Glas Wein trinkt und nun die erste Stufe des Berauschtseins zu spüren beginnt. Die Seele ist weder glücklich noch traurig. Sie denken an nichts Bestimmtes; die Phantasie ist vollkommen frei und fängt aus irgendeinem Grunde an, seltsame Bilder zu malen...

Unter ihnen werden plötzlich einige Muschiks bei einem Gelage deutlich und ein Gassenhauer. Irgendwo in der Ferne bewegt sich eine Militär-Parade. Das sind die unzusammehängenden Bilder, die unsere Einbildung durchziehen, wenn wir anfangen, in Schlaf zu fallen. Nichts haben sie mit der Wirklichkeit gemein, sie sind seltsam, fremdartig, beziehungslos.“

Das Ersatzglück

Das Finale beginnt wie ein übermütiges Spiel mit dem russischen Volkslied „Stand ein Birkenbäumchen“. „Wenn Sie an sich selbst keinen Anlass zur Freude finden, blicken Sie auf andere. Gehen Sie unter das Volk. Schauen Sie, wie es versteht, heiter zu sein, wie die Leute sich ihrer Freude hingeben!“ Mitten hinein in das fröhliche Treiben wuchtet unvermutet das eherne Hörnermotiv aus dem ersten Satz. Entsetzt erstarrt die Musik, gelähmt von der tödlichen Gewalt. Danach bricht die Festmusik wieder los. Sie lärmt und tobt um das Birkenbäumchen mit einer Hysterie, als ob die überdrehte Lustigkeit die Verzweiflung des Helden überschreien möchte.

„O, wie lustig sind jene! Wie glücklich sie sind, da ihre Gefühle ursprünglich und unkompliziert sind!“
Wilde, betäubende Schläge beenden sie Sinfonie. Und das Publikum? Es jubelt.

Texte  ©Steffen Georgi

Kurzbiographien

Roderick Cox

Der junge, in Berlin lebende amerikanische Dirigent Roderick Cox, Gewinner des Sir Georg Solti Conducting Award 2018, debütierte in den letzten Jahren bei einer Reihe von renommierten Orchestern, darunter das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Seattle und das New World Symphony Orchestra, das Cincinnati Symphony Orchestra, das BBC Philharmonic. Als Gastdirigent leitete er wiederholt Orchester in Malmö, Kristiansand, Lahti, Washington, Bremen, Dresden, London, Paris, Cleveland, Dallas, Los Angeles, Detroit, Minnesota und beim Aspen Music Festival.

Als Operndirigent leitete Roderick Cox Produktionen an der Houston Grand Opera („Pêcheurs de Perles“) und an der San Francisco Opera („Il barbiere di Siviglia“) und nahm Jeanine Tesoris „Blue“ an der Washington National Opera auf. 2022/2023 kehrt er für „Rigoletto“ an die Opéra national de Montpellier zurück, nachdem er dort zuvor mit einem Sinfoniekonzert beeindruckt hatte.

Roderick Cox setzt sich nachhaltig für Bildung, Vielfalt und Inklusion in der Kunst ein. 2018 hat er die Roderick Cox Music Initiative (RCMI) ins Leben gerufen – ein Projekt, das Stipendien für junge farbige Musiker aus unterrepräsentierten Gesellschaftsschichten bereitstellt und es ihnen die Teilhabe  an Instrumenten, Musikunterricht und Sommercamps zu ermöglichen. Roderick und seine neue Initiative sind Gegenstand der Dokumentation „Conducting Life“.

Geboren in Macon, Georgia, besuchte Roderick Cox die Schwob School of Music an der Columbus State University und studierte später an der Northwestern University, wo er 2011 einen Master-Abschluss erwarb. Er wurde 2013 mit dem Robert J. Harth Conducting Prize des Aspen Music Festival ausgezeichnet und war Stipendiat der Chicago Sinfonietta sowie des Chautauqua Music Festivals. Im Jahr 2016 wurde Roderick Cox von Osmo Vänskä für drei Spielzeiten zum stellvertretenden Dirigenten des Minnesota Orchestra ernannt, nachdem er zuvor ein Jahr lang als Assistenzdirigent tätig gewesen war.

Leila Josefowicz

Leila Josefowicz’ leidenschaftliches Engagement für zeitgenössische Musik für Violine spiegelt sich in ihren vielfältigen Programmen und ihrer Begeisterung für die Aufführung neuer Werke wider. Als Favoritin lebender Komponisten hat Josefowicz viele Konzerte uraufgeführt, darunter Werke von Colin Matthews, Luca Francesconi, John Adams und Esa-Pekka Salonen, die alle speziell für sie geschrieben wurden.

In dieser Saison präsentiert Josefowicz die Weltpremiere von Jüri Reinveres Konzert für Violine, Harfe und Orchester mit dem Cleveland Orchestra unter der Leitung seines Musikdirektors Franz Welser-Möst. Weitere Engagements umfassen das Philadelphia Orchestra, das Pittsburgh Symphony Orchestra, das Tonhalle-Orchester Zürich, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, das Hong Kong Philharmonic Orchestra, die Warschauer Philharmoniker und das Minnesota Orchestra. Josefowicz spielt in dieser Saison eine Reihe von Konzerten, darunter Karol Szymanowskis Konzert für Violine Nr. 2 mit dem New York Philharmonic und Marta Gardolinska sowie eine mit Spannung erwartete Wiedervereinigung mit John Adams für eine Aufführung seiner dramatischen Sinfonie für Solovioline und Orchester, Scheherazade.2, mit dem Hallé Orchestra – ein Werk, das sie 2015 mit Adams und dem New York Philharmonic uraufgeführt hat.

Josefowicz pflegte eine enge Zusammenarbeit mit dem verstorbenen Oliver Knussen und spielte über 30 Mal verschiedene Konzerte mit ihm, darunter auch sein Violinkonzert. In dieser Saison wird sie erneut Knussens Violinkonzert mit den Münchner Philharmonikern unter der Leitung von Brad Lubman aufführen. Weitere Premieren waren Matthias Pintschers „Assonanza“ mit dem Cincinnati Symphony Orchestra, Luca Francesconis „Duende – The Dark Notes“ mit dem Swedish Radio Symphony Orchestra und Steven Mackeys „Beautiful Passing“ mit dem BBC Philharmonic. In der vergangenen Saison spielte sie die britische Premiere von Helen Grimes Violinkonzert mit dem BBC Symphony Orchestra und Sakari Oramo beim Aldeburgh Festival, wo sie als Featured Artist 2025 auftrat.

Zusammen mit John Novacek, mit dem sie seit 1985 eng zusammenarbeitet, hat Josefowicz Konzerte an weltberühmten Veranstaltungsorten wie der Zankel Hall und der Park Avenue Armory in New York, dem Kennedy Center und der Library of Congress in Washington DC sowie in Reykjavik, Trient, Bilbao und Chicago gegeben. In dieser Saison geben sie die US-Premiere von Charlotte Brays Mriya im Lincoln Center.
Josefowicz hat mehrere Aufnahmen veröffentlicht, insbesondere für Deutsche Grammophon, Philips/Universal und Warner Classics, und war in der renommierten iPad-App „The Orchestra“ von Touch Press zu hören. Ihre neueste Aufnahme, die 2019 veröffentlicht wurde, enthält Bernd Alois Zimmermanns Violinkonzert mit dem Finnischen Radio-Sinfonieorchester unter der Leitung von Hannu Lintu. Zuvor wurde sie für ihre Aufnahmen von Scheherazade.2 mit dem St. Louis Symphony Orchestra unter der Leitung von David Robertson und Esa-Pekka Salonens Violinkonzert mit dem Finnischen Radio-Sinfonieorchester unter der Leitung des Komponisten für den GRAMMY Award nominiert.

In Anerkennung ihrer herausragenden Leistungen und Exzellenz in der Musik gewann sie 2018 den Avery Fisher Prize und wurde 2008 mit dem renommierten MacArthur Fellowship ausgezeichnet, womit sie sich in die Reihe prominenter Wissenschaftler, Schriftsteller und Musiker einreiht, die einzigartige Beiträge zum zeitgenössischen Leben geleistet haben.

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Nebel, David
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Beckert, Philipp
Feltz, Anne
Kynast, Karin
Morgunowa, Anna
Polle, Richard
Shalyha, Bohdan
Stangorra, Christa-Maria
Yamada, Misa
Kim, Myung Joo
Eschenburg, Sophia

Violine 2

Kurochkin, Oleh
Simon, Maximilian
Petzold, Sylvia
Buczkowski, Maciej
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Färber-Rambo, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Manyak, Juliane
Seidel, Anne-Kathrin
Cazac, Cristina
Sak, Muge
Fan, Yu-Chen
Wieck, Sarah

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Silber, Christiane
Drop, Jana
Solle, Miriam
Nell, Lucia
Roske, Martha
Olgun, Berkay
Mütze, Antonia
Sullivan, Nancy
Maschkowski, Anastasia

Violoncello

Eschenburg, Hans-Jakob
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Boge, Georg
Kipp, Andreas
Weigle, Andreas
Lee, Danbin
Jung, Yujoo

Kontrabass

Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Schwärsky, Georg
Moon, Junha
Yeung, Yuen Kiu Marco

Flöte

Bogner, Magdalena
Döbler, Rudolf
Schreiter, Markus

Oboe

Lazzari, Leandro
Vogler, Gudrun
Herzog, Thomas

Klarinette

Kern Michael
Pfeifer, Peter
Korn, Christoph

Fagott

You, Sung Kwon
Voigt, Alexander
Shih, Yisol

Horn

Kühner, Martin
Rast, Quirin
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Jansky, Lorenz
Ranch, Lars
Takeda, Mai

Posaune

Pollock, Louise
Hauer, Dominik
Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud

Percussion

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Reddemann, Ingo
Zeuner, Lukas
Putz, Richard

Pauke

Wahlich, Arndt

Kooperation

Bild- und Videorechte

Portrait Roderick Cox (Desktop-Version) © Susie Knoll

Portrait Roderick Cox (Mobile Version) © Dennis-Weber
Portrait Esa-Pekka Salonen © Benjamin Suomela

https://www.youtube.com/watch?v=ckZvSDnMhs8

Bilder Leila Josefowicz © Chris Lee

Portrait Roderick Cox © Alexander-F
Portrait Leila Josefowicz © Tom Zimberoff

Orchester im KOnzerthaus (Desktop-Version) © Stefan Maria Rother

Orchester im Konzerthaus (Mobile Version) © Peter Meisel