Digitales Programm

Do 08.06.2023 Emmanuel Tjeknavorian

20:00 Konzerthaus

Aram Chatschaturjan

„Gajaneh“ – Suite aus der Ballettmusik

Sergei Rachmaninow

„Paganini-Rhapsodie“ für Klavier und Orchester

Modest Mussorgski

„Bilder einer Ausstellung“

Besetzung

Emmanuel Tjeknavorian, Dirigent

Anna Vinnitskaya, Klavier

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

 

18.06.2023 21:05 Konzertübertragung bei Deutschlandfunk in Konzertdokument der Woche

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Konzerteinführung von Steffen Georgi

Echte Klassiker!

Am 08.06.2023 im Konzerthaus, werden Sie bestimmt mindestens einmal denken "Das kenne ich doch!". Die Pianistin Anna Vinnitskaya interpretiert Rachmaninows "Rhapsodie über ein Thema von Paganini" - eines der bekanntesten und erfolgreichsten Stücke, die je für Klavier geschrieben wurden und das an Virtuosität und Farbenreichtum seinesgleichen sucht. Außerdem steht Modest Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung" auf dem Programm, das zu den bekanntesten Musikstücken überhaupt zählt und dem Sie vielleicht sogar schonmal im Schulunterricht begegnet sind.

Podcast „Muss es sein?“

Aram Chatschaturjan

Suite aus der Musik zum Ballett „Gajaneh“, zusammengestellt von Emmanuel Tjeknavorian

Aufbruch am Schwarzen Meer

Արամ Խաչատրյան, wissenschaftliche Transliteration Aram Xač’atryan, russische Schreibweise Арам Хачатурян, deutsche Umschrift laut Duden Aram Chatschaturjan, im englischen Sprachraum Aram Khachaturian – wurde 1903 in der georgischen Hauptstadt Tbilissi geboren. Seine Eltern stammten aus Nachitschevan, jener autonomen Provinz zwischen Armenien und Aserbaidschan, die traurige Berühmtheit durch den Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren erlangte.

Transkaukasien/ Südkaukasus

Transkaukasien, buchstäblich hinter dem Kaukasus gelegen, weit weg, exotisch, faszinierend – Georgien, Armenien, Aserbaidschan, jahrhundertelang ein Ort des fruchtbaren Austauschs von christlicher, arabischer und persischer Kultur, ehemals drei nationalstolze, aber friedlich nebeneinander existierende Sowjetrepubliken, wurden nach dem Zerfall der UdSSR zu Brennpunkten blutiger militärischer Auseinandersetzungen, ein Hort von Korruption, Religionskriegen und Separatismus.

Während die heutigen Einwohner Nachitschevans größtenteils Aserbaidschaner sind und der schiitischen Richtung des Islam angehören, war die Provinz ursprünglich sehr viel stärker armenisch und damit christlich bevölkert. In den 1920er-Jahren waren bis zu einem Drittel der Bewohner Armenier. Bereits 1989 betrug der Anteil der Armenier nur noch 1%, nachdem die armenische Bevölkerung aufgrund anhaltender Repressionen in der Endphase des Staatsgebildes der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken fast vollständig ausgewandert war. Seit dem Bürgerkrieg vor 30 Jahren hat Aserbaidschan die wichtigsten Verkehrsverbindungen zu der Exklave vorsichtshalber auf iranisches Territorium verlegt.

Nicht ernsthaft genug?

All diese nationalistischen Ränke spielten am Anfang des 20. Jahrhunderts kaum eine Rolle, so dass der Armenier Aram Chatschaturjan in Georgien als Sohn einer bescheiden begüterten Buchbinderfamilie aserbaidschanischer Herkunft aufwuchs, ohne dass irgendwelche Berührungsängste mit den Kulturen der Region existierten. Früh war er gleichermaßen von der armenischen, georgischen und aserbaidschanischen Musik seiner Umgebung fasziniert. Er eignete sich musikalische Grundkenntnisse auf einem klapprigen Klavier an, indem er mit zwei Fingern die gehörten Melodien nachspielte und allmählich improvisierend ausschmückte. Ebenso spielerisch widmete er sich als Schüler dem Tenorhorn. Ausgestattet mit Kenntnissen der russischen Sprache, der damals im nördlichen Schwarzmeerraum wichtigsten Fremdsprache, ging er 1922 nach Moskau, um Biologie zu studieren. Doch die Musik und die persönlichen Beziehungen zu Jelena und Michail Gnessin, den Begründern des bis heute renommierten Gnessin-Institutes für Musik, waren stärker, so dass er nach wenigen Monaten das Berufsziel änderte. Der junge Armenier ließ sich von den Fachleuten überreden, ein weiteres Instrument zu erlernen, das Violoncello. Nach zwei Jahren jedoch bot eine Handverletzung (vom Kistenschleppen in einem Weinkeller, womit sich der Student sein Geld verdiente), die Gelegenheit, nochmals zu wechseln und endgültig Komposition bei Michail Gnessin zu studieren. Der jüdische Musiker, ein Vorreiter der Verbindung von jüdischer Folklore mit russischer Kunstmusik, ermutigte seinen Schüler, sich seiner armenischen Wurzeln zu besinnen und den Stil der transkaukasischen Folklore zu pflegen. Chatschaturjans früheste Kompositionen – bezaubernde Miniaturen für Klavier, gewürzt mit jenen Melismen und Dissonanzen, wie sie für die Straßenmusik von Tbilissi typisch waren – zeugten ganz nebenbei auch von der Bewunderung Chatschaturjans für die Musik von Maurice Ravel.

Ein weiteres Studium am Moskauer Konservatorium in der Kompositionsklasse von Nikolai Mjaskowski stattete ihn mit dem Wissen um traditionelle russische Kompositionstechnik aus, so dass seine Examensarbeit, die Sinfonie Nr. 1, im Jahr 1934 zwar nicht zeitgemäß war, dafür umso schwelgerischer klang.

Noch ein Name sei genannt: George Gershwin.

Georg Gershwin

Ganz anders als dieser Künstler, der in den USA Entertainment und Anspruch genial miteinander verband, und doch mit ihm vergleichbar, bewegte sich (der leidenschaftliche Gershwin-Bewunderer) Aram Chatschaturjan im Spannungsfeld zwischen transkaukasischer Folklore, sowjetisch-russischer Romantik und westlicher moderner Kompositionstechnik. Dabei schrieb er „mit derselben Leichtigkeit Gebrauchs- und Auftragsmusik für Bühne, Film und Komponistenverband, wie er Sinfonien, Konzerte und Instrumentalsoli produzierte“ (Maria Biesold).

Mit dem Säbeltanz um die Welt

Weltruhm erlangte Chatschaturjan vor allem mit dem Ballett „Gajaneh“, woraus der Säbeltanz in sämtliche Klassikcharts aufstieg und weit darüber hinaus: Im Film „Eins, Zwei, Drei“ von Billy Wilder tanzte Liselotte Pulver zu der Musik auf einem Tisch. 1970 flimmerte ein TV-Werbespot für einen Kaffeelikör („Komm Brüderchen trink – Kosakenkaffee!“) durch die westdeutschen Wohnzimmer. Stanley Kubrick bediente sich Chatschaturjans für „2001: Odyssee im Weltraum“. Der amerikanische Filmkomponist James Horner zitiert „Gajaneh“ in mehreren seiner Soundtracks, vor allem – ohne Erwähnung – im Abspann („Resolution and Hyperspace“) des Films „Aliens – Die Rückkehr“ von James Cameron.

1948 fiel Aram Chatschaturjan, der hochdekorierte Volkskünstler der UdSSR und Komponist der armenischen Nationalhymne, wie so viele andere Künstler dem ideologischen Verdikt des „Formalismus“ zum Opfer. Der wortführende Eiferer der Partei, Andrei Shdanow, bezichtigte Chatschaturjan ebenso wie Schostakowitsch und Prokofjew „formalistischer“ und „anti-sowjetischer“ Tendenzen. Eingeschüchtert und ratlos meldete sich Chatschaturjan erst 1956 mit dem Ballett „Spartakus“ auf der Bühne zurück. Zwischenzeitlich war er ab 1950 im In- und Ausland als Konzertdirigent aufgetreten, wobei er sich naturgemäß auf eigene Werke konzentrierte. Ab 1951 Professor für Komposition am Moskauer Konservatorium, unterrichtete er auch am Gnessin-Institut. Als langjähriges Mitglied des Organisationskomitees des sowjetischen Komponistenverbandes setzte er sich für gute Arbeitsbedingungen seiner Kollegen ein. 1961 ernannte ihn die Deutsche Akademie der Künste in Ost-Berlin zum Korrespondierenden Mitglied. Sein Lebenswerk umfasst zahlreiche Ballette (und Suiten daraus), jedoch keine Opern, aber Schauspiel- und Filmmusik sowie Sinfonien, Solokonzerte, Märsche, Lieder, Klaviermusik und Kammermusik. Aram Chatschaturjan starb 1978 in Moskau.

Das moderne Märchen von Gajaneh

Gutmütiger sozialistischer Realismus geht so: Anno 1941 hilft die junge Kolchosbäuerin Gajaneh tatkräftig bei der Baumwollernte. Ihr Mann Giko ist dem Alkohol verfallen, kann seine Aufgaben in der Gemeinschaft nicht mehr erfüllen und sieht nur noch neidisch auf die Lebensfreude seiner Frau. Die attraktive Gajaneh wird umworben und mit Rosen beschenkt, in einer Version von einem Offizier, in einer anderen vom Vorsitzenden der Kolchose. Giko zieht sich eifersüchtig zurück und schmiedet Rachepläne.

Auf der Bühne wird altes Handwerk zelebriert: Herstellung eines Teppichs, das Backen von Fladenbrot. Giko unterbricht die gute Stimmung mit drei Männern, die in seinem Auftrag die Baumwollspeicher der Kolchose in Brand setzen werden, um die Ernte zu vernichten. Armen, Gajanehs Bruder, und seine Verlobte Aischa können die Brandstifter überführen. Von Kräften der Staatsmacht werden die Missetäter ins Arbeitslager gebracht. Gajaneh ist nun für ihre Tochter allein verantwortlich. Der Wiederaufbau der abgebrannten Speicher geht bei Tanz und Musik flott voran. Zum Richtfest erklingt der berühmte Säbeltanz. Gajaneh wird wohl nicht lange allein bleiben…

Chatschaturjans Musik zu dem Ballett blüht in prächtigen Farben, tobt und wirbelt, lacht und weint leidenschaftlich durch die bunte Folklore Transkaukasiens. Weil sie ganz und gar unideologisch und unpolitisch ist, kann man sie problemlos mit anderen Inhalten und Personenkonstellationen versehen (was Chatschaturjan selber bereits tat, indem er „Gajaneh“ aus einem anderen, 1939 komponierten Ballett namens „Glück“ ableitete).

1972 legte der Choreograph Imre Keres eine Neufassung für das Theater in Wiesbaden vor. Dort ist Armen ein kurdischer Hirte, der Gajaneh ebenso wie der Trinker Giko begehrt. Mit Aische und Nune, ihren Freundinnen, berät sich Gajaneh. Armen muss zu seiner Arbeit in die Berge zurück. Giko steckt im Rausch Gajanehs Haus an, das Feuer greift auf das gesamte Dorf über. Im letzten Moment können die alarmierten Männer aus den Bergen das Feuer löschen. Giko wird davongejagt. Armen und Gajaneh heiraten in einem rauschenden Fest.

Das Ballett „Gajaneh“ gehorcht der traditionellen klassischen Ballettkunst des 19. Jahrhunderts. Im Wechsel von Tänzen und mimischem Spiel geht die Handlung voran. Die meisten Tänze bilden in bunter Folge die ethnischen Gruppen des Kaukasus ab und nutzen die Rhythmen der entsprechenden Volkstänze und deren charakteristische Instrumentierungen. Chatschaturjan, ganz pragmatisch, löste drei Suiten aus der Musik des Ballettes für den Konzertsaal heraus. Aus denen wiederum – und aus der noch immer üppigen Ballettmusik, die nicht in den Suiten auftaucht, mag sich jeder Dirigent seine eigene Version zusammenstellen. Emmanuel Tjeknavorian hat genau dies getan für das heutige Konzert. Er begibt sich dabei auf die Spuren seines Vaters Loris Tjeknavorian, eines berühmten Dirigenten.

Sergei Rachmaninow

Rhapsodie über ein Thema von Paganini für Klavier und Orchester op. 43

Zornesausbruch mit Paganini und Liszt

Es bedarf blitzschneller Reflexe und „wissender“ Finger, um den stupend schwierigen Solopart von Rachmaninows „Paganini-Variationen“ zu bewältigen. Zusätzlich bedarf es musikalischer Intelligenz und entspannter Abgeklärtheit, um trotz der notwendigen Konzentration locker zu bleiben. Nur dann gelingt Rachmaninows aberwitzige Potenzierung der pianistischen Extreme.

Der Komponist hat die Rhapsodie über Paganinis berühmte Violincaprice a-Moll zuerst für sich selbst geschrieben und damit in gewisser Hinsicht die ironisch-resignative Konsequenz aus seinem eigenen öffentlichen Bild gezogen: Er präsentiert sich als „Tastentitan“, bedient die Lust des Publikums am Zirzensischen, indem er direkt bei den beiden größten Virtuosen des 19. Jahrhunderts anknüpft, bei Niccolò Paganini und Franz Liszt. Was der eine auf der Geige zauberte, das entlockte der andere dem Klavier – sehr zum Entzücken sowohl der Herren-, vor allem aber der Damenwelt.

Rachmaninow reiht nun in 24 Minuten 24 Variationen auf das berühmte Paganini-Thema auf, manche davon nur 20 Sekunden lang. Der russische Komponist befindet sich mit dieser Idee in guter Gesellschaft. Auch Johannes Brahms, Boris Blacher und viele andere haben an diesem kurzen Motiv ihre Variationskünste erprobt. Aber Rachmaninow flicht ein weiteres Motiv ein: das „Dies irae“ (Tag des Zornes) aus der mittelalterlichen Totenmesse. Zunehmend beherrscht die schauerliche Sequenz die Paganini-Variationen. Die Verwendung dieses Motives ist ebenfalls keine Erfindung Rachmaninows, zieht sich aber durch sein Lebenswerk bis hin zu den Sinfonischen Tänzen (1943) wie ein sehr, sehr dunkelroter Faden. Ihm als Pianisten war die dämonische Wirkung u.a. aus der „Danse macabre“ (dem „Totentanz“) von Franz Liszt wohl bekannt.

Adrenalin pur

Auf dem Manuskript der Paganini-Variationen, die Rachmaninow innerhalb von sechs Wochen an seinem geliebten Sommersitz „Senar“ bei Luzern niedergeschrieben hat, vermerkt er dankbar: „18. August 1934/ Senar / Ehre sei Gott“. Allein in der Saison 1934/1935 nimmt er die ob ihrer technischen Finessen stets Staunen erregenden Variationen acht Mal in seine eigenen Konzertprogramme auf.

Nach Ansicht ihres Komponisten geht die Rhapsodie weit über die formalen Grenzen eines Klavierkonzertes hinaus. Höhepunkte sind die Variationen 9, 18 und 24, in denen die Themen geschickt kontrapunktisch verarbeitet werden. Namentlich die letzte der Variationen fegt durch den Saal wie der Teufel persönlich.

Modest Mussorgski

„Bilder einer Ausstellung“ (Instrumentierung: Maurice Ravel)

„Niemand hat so sehr und so zart und so tief das Gute in uns angesprochen wie er: Er ist einmalig und wird es immer bleiben durch seine absichtslose, von aller trockenen Methodik freie Kunst. Niemals hat eine so bis ins letzte verfeinerte Sensibilität sich durch so einfache Mittel auszudrücken vermocht ...”

Claude Debussy

Genie und Wahnsinn

Claude Debussy formulierte seine Begeisterung für den russischen Kollegen Modest Mussorgski mit Worten, während Maurice Ravel den Klavier-„Bildern einer Ausstellung“ orchestrales Leben einhauchte – und damit zu Weltruhm verhalf. Ravel war nicht der einzige Instrumentator der russischen Tongemälde, wohl aber der einfühlsamste. Bereits 1913 hatte er gemeinsam mit Igor Strawinsky im Auftrag des Impresarios Sergei Diaghilew Mussorgskis „Chowanschtschina“ vervollständigt, bearbeitet und instrumentiert. Im Auftrag des russischen Dirigenten Sergei Kussewizki (Leiter des Boston Symphony Orchestra) orchestrierte Ravel zwischen Mai und September 1922 die „Bilder einer Ausstellung“. Kussewizki dirigierte die Uraufführung dieser kongenialen Orchesterfassung unter dem französischen Titel „Les Tableaux d’une exposition“ am 9. Oktober 1922 im Rahmen der „Concerts Koussevitzky“ in der Pariser Oper.

Ein Haufen Dilettanten

Mussorgski entstammte altem russischem Landadel. Die Familie verarmte nach der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland im Jahre 1861. Pianistisch gründlich ausgebildet, entdeckte Modest Petrowitsch bald seine Neigung zum Komponieren. Doch die Pflicht zum – ungewohnten – Brotverdienen hinderte ihn an einer soliden kompositorischen Ausbildung. Aus diesem Umstand erwuchs das Klischee vom ungebildeten musikalischen Laien Mussorgski, das dem „Mächtigen Häuflein”, einer Gruppe von fünf Petersburger Komponisten unter ästhetischer Wortführung des Kritikers Wladimir Stassow, insgesamt anhaftete.

Angeblich wurde das geringschätzige Klischee vom akademisch-professionellen Kreis um Rubinstein und Tschaikowsky in Moskau geprägt. Aber es war gerade Tschaikowsky, der später Rimski-Korsakow und Mussorgski hochschätzte. Was jenseits des ästhetischen Streites bleibt, das sind die Verdienste sowohl der „Akademiker“ als auch der „Novatoren”, wie die fünf „Komponisten im Nebenberuf” auch genannt wurden, um eine russische Nationalmusik.

Große Unterschiede innerhalb des „Mächtigen Häufleins“ gab es im jeweils individuellen Verhältnis zwischen Wollen und Können der fünf „Dilettanten”. Mili Balakirew tat sich als Lehrer der übrigen Kollegen hervor, weniger durch seine eigenen Werke. Mussorgski kann als der genialste, unbewussteste, ästhetisch kaum reflektierende Kopf gelten. Rimski-Korsakow war der fleißigste, unermüdlichste und produktivste Komponist – eine Vaterfigur, die sich nicht selten zuerst um die Vollendung der Werke der Freunde, vor allem Mussorgskis – kümmerte. Borodin ist vor allem durch seine Oper „Fürst Igor” ins heutige Bewusstsein gedrungen. So gut wie vergessen ist Cesar Cui, der allerdings das Maul besonders weit aufgerissen hat, beispielsweise 1895 gegenüber der Sinfonie Nr. 1 von Sergei Rachmaninow: „Wenn es in der Hölle ein Konservatorium gäbe, und wenn einer von dessen begabtesten Schülern den Auftrag erhielte, eine Programmsinfonie über ‚Die Sieben Plagen Ägyptens’ zu schreiben, und wenn er dann eine Sinfonie wie die von Herrn Rachmaninow schriebe, dann hätte er seine Aufgabe brillant erfüllt und sicher den Bewohnern der Hölle Freude bereitet.“

Haltlose Seele

Modest Mussorgski arbeitete als Beamter in verschiedenen Ministerien, während er von 1868 bis 1872 die Oper „Boris Godunow“ komponierte. Er lebte in einer Fünf-Personen-Kommune, bewohnte einige Zeit ein möbliertes Zimmer gemeinsam mit Rimski-Korsakow, der allerdings im Sommer 1872 heiratete und auszog. Trotz einiger künstlerischer Erfolge fand Mussorgski keinen Halt, verfiel dem Alkohol, wurde von Halluzinationen gequält. Der Tod der beiden Freunde Viktor Hartmann (1873) und Nadeshda Opotschinina (1874) verheerte seine Psyche vollends.

Neununddreißig Jahre Leben waren dem Architekten und Maler Viktor Hartmann gewährt, als der Tod ihn holte.

Modest Mussorgski, der Musiker und Freund Hartmanns, wurde zweiundvierzig Jahre alt. Alkoholkrank, von tiefen Depressionen zerstört, verstarb er acht Jahre nach Hartmann im Nikolaus-Militärhospital in St. Petersburg. Sein gesamtes Œuvre umfasst 13 (meist unvollendete) Opern, 4 mehrteilige Liedzyklen, 52 Einzellieder, 6 Chorwerke, 8 Orchesterwerke und 22 Klavierwerke.

Mehr Musik als Malerei

Mussorgski an Wladimir Stassow, St. Petersburg, 12. Juni 1874

Zehn Bilder Hartmanns legte Mussorgski seinem Klavierzyklus zugrunde. Er wurde dazu inspiriert durch eine Gedenkausstellung, die Stassow im Februar 1874 für den verstorbenen Freund organisierte. Für die Ausstellung verlieh Mussorgski selbst zwei Zeichnungen Hartmanns, die in seinem Besitz waren. Die Musik spricht eine wesentlich farbigere Sprache als die Bilder von Hartmann. Drei, „Das alte Schloss“, „Bydlo“, „Der Marktplatz von Limoges“, sind im Ausstellungskatalog gar nicht enthalten, die übrigen oft stellen nur einfache Skizzen dar oder andeutende Zeichnungen. Mussorgski hat die Bilder nicht vertont, sondern er hat sie weitergedacht, ergänzt. Er selbst ist Teil des Zyklus: als Betrachter in dem „Promenade“ genannten Verbindungsglied zwischen manchen Bildern.

Stolpernde Zwerge und leuchtende Schädel

Die „Promenade“ steht im Fünfvierteltakt, bedient das Vorsänger-Chor-Prinzip und fußt auf einer „pentatonischen” Skala, einer Fünftonreihe – alles typische Merkmale russischer Melodiebildung. Seine große Beliebtheit verdankt der Zyklus sicher der Plastizität der einzelnen Bilder: „Gnomus“der groteske Zwerg, den selbst eine Treppenstufe in Zorn bringt, gemahnt an das Rumpelstilzchen – eine Figur nicht ohne Tragik. Über einem ostinaten Bassfundament erhebt sich „Das alte Schloss“mit seinen geisterhaften einstigen Bewohnern, Mussorgski ergänzt das Bild um die schwermütige Weise eines mittelalterlichen Troubadours – von Ravel genialerweise dem Altsaxophon anvertraut. In den Gärten der Pariser „Tuilerien“ toben und spielen die Kinder – das Bild Hartmanns zeigt nur die Landschaft. „Bydlo“ – ein schwerer polnischer Ochsenkarren ächzt vorüber – Alltag im jüdischen Ghetto von Sandomir, wo der 3. Akt von „Boris Godunow“ spielt. Das „Ballett der Küken in ihren Eierschalen“ entbehrt der Notwendigkeit eines Kommentars – Mussorgski nimmt Bezug auf Kostümentwürfe Hartmanns zu einem Ballett „Trilby“. Was folgt, ist eine psychologische Charakterstudie zweier streitender Juden, die sich fühlbar in allem unterscheiden: Besitz, Temperament, Körperbau, Intelligenz: „Samuel Goldenberg und Schmuyle“.Lebensfreude atmet das aufgeregte Treiben auf dem „Marktplatz von Limoges“. In den „Katakomben“,  dem tödlichen Labyrinth unterirdischer römischer Grabstätten, tritt der Komponist in den direkten Dialog mit seinem verstorbenen Freund: Hartmann hatte sich auf dem Bild selbst dargestellt, die Katakomben durchstreifend. Der zweite Teil der Musik trägt die Überschrift „Cum mortis in lingua mortua” und ist eine Variation von Mussorgskis eigener Identität, der „Promenade“. Der Komponist dazu: „Der lateinische Text lautet: mit den Toten in der Sprache der Toten. Was besagt der lateinische Text? – Der schöpferische Geist des verstorbenen Hartmann führt mich zu den Schädeln und ruft sie an; die Schädel leuchten sanft auf”.

Hexe, Helm und Hymnus

Der „Hütte der Baba-Jaga“ liegt eine Zeichnung zugrunde, die das auf Hühnerfüßen stehende Haus der Hexe des russischen Märchens als Uhr darstellt. Mussorgski lässt die Alte wüten, die sich von Menschenknochen ernährt, die sie in einem Mörser zerstampft, – das ganze klingt nicht unfreundlich. Schließlich ein kolossaler Hymnus mit dem Titel „Das Große Tor von Kiew“ krönt den Zyklus und verherrlicht ein Stück russischer Geschichte. Auch wenn das Tor nicht wirklich existiert, nur als architektonischer Entwurf Hartmanns in altrussischem Stil mit einer Kuppel in Form eines slawischen Helmes, überhöht Mussorgski damit die „Bilder einer Ausstellung“ zu einem gewaltigen Monument russischer Musik und zu einem Denkmal für seinen Freund Hartmann. Ein Requiem wollte er ihm nicht schreiben.

Hartmann „Tor von Kiew“:

Kurzbiographien, Abendbesetzung

Emmanuel Tjeknavorian

Emmanuel Tjeknavorian © Lukas Beck

Emmanuel Tjeknavorian wurde 1995 in Wien in eine Musikerfamilie geboren und begann seine musikalische Ausbildung im Alter von fünf Jahren. Zeitgleich zu seinem Violinstudium wurde er seit seiner frühesten Jugend von seinem Vater, dem Komponisten und Dirigenten Loris Tjeknavorian, an das Dirigieren herangeführt.

Von Publikum und Fachwelt gleichermaßen als vielseitige Künstlerpersönlichkeit geschätzt, hat Emmanuel Tjeknavorian seit der Spielzeit 2022/23 den Schwerpunkt seines musikalischen Schaffens auf das Dirigieren verlagert. So leitete er zuletzt Orchester wie die Münchner Symphoniker, die philharmonie zuidnederland, das Orchestra Haydn di Bolzano e Trento und das Bruckner Orchester Linz. Im Rahmen seiner Residenz bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern im Sommer 2022 dirigierte er das Konzerthausorchester Berlin und die Kammerakademie Potsdam.

Mit seiner Laufbahn als Dirigent knüpft Emmanuel Tjeknavorian an sein vorangegangenes Wirken als Geiger an. Seit er 2015 beim Internationalen Sibelius-Wettbewerb reüssiert hatte, hat Tjeknavorian in den zurückliegenden Jahren in den international bekanntesten Sälen und mit den großen Musiker:innen unserer Zeit konzertiert. Auch während seiner aktuellen Residenzen wird er mitunter als Violinist zu hören sein. Darüber hinaus geht er mit der Filarmonica della Scala unter Riccardo Chailly auf Konzerttournee durch Europa, musiziert bei der Salzburger Mozartwoche auf Mozarts eigener Costa-Geige und gibt mit Anna Vinnitskaya und Daniel Müller-Schott Trioabende. Seit mehreren Jahren spielt Emmanuel Tjeknavorian auf einer Violine von Antonio Stradivari (Cremona 1698), einer großzügigen Leihgabe eines Gönners der Beare’s International Violin Society.

Anna Vinnitskaya

Anna Vinnitskaya © Marco Borggreve

Höchste Virtuosität und poetische Tiefe: Publikum und Kritik schätzen gleichermaßen, dass Anna Vinnitskaya nicht nur spektakuläre Feuerwerke zünden kann, sondern auch große Gemälde zu malen versteht. Ihre technische Brillanz ist dabei nie virtuoser Selbstzweck, sondern verbindet sich mit dem ihr eigenen nuancierten Klang und der Fähigkeit zur Gestaltung langer, durchdachter Bögen.

Der 1. Preis beim Concours Reine Elisabeth in Brüssel 2007 war für Anna Vinnitskaya der Auftakt zu einer internationalen Karriere. Sie ist eine geschätzte Partnerin der bedeutenden internationalen Orchester und führender Dirigenten wie Krzysztof Urbański, Kirill Petrenko, Andris Nelsons, Valery Gergiev, Alan Gilbert und Mirga Gražinytė-Tyla.

Zu den Höhepunkten der jüngsten Zeit gehörten Anna Vinnitskayas Residenz bei der Dresdner Philharmonie sowie ihr Debüt bei den Berliner Philharmonikern, das zu einer sofortigen Wiedereinladung führte. In der Saison 2020/2021 stehen u.a. ihre Debüts beim Gewandhausorchester Leipzig, dem Orchestre Philharmonique de Radio France und dem Budapest Festival Orchestra unter Iván Fischer an. Das Palais des Beaux-Arts in Brüssel widmet ihr ein Künstlerportrait. Ebenso wird sie als MuseumsSolistin 2020/2021 dem Frankfurter Museumsorchester eng verbunden sein. Rezitals führen Anna Vinnitskaya nach Tokio, in die Philharmonien Essen und Köln und zu den renommierten Klavierreihen des Chicago Symphony Orchestra und der Berliner Philharmoniker.

CD-Einspielungen von Anna Vinnitskaya wurden mit zahlreichen Preisen wie dem Diapason d’Or und dem Gramophone Editor’s Choice ausgezeichnet. Aktuelle Veröffentlichungen sind ein Rachmaninow-Album mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester und Krzysztof Urbański sowie die Einspielung von Bachs Klavierkonzerten gemeinsam mit Jewgeni Koroljow, Ljupka Hadzi Georgieva und der Kammerakademie Potsdam  (Alpha Classics/Outhere Music).

Anna Vinnitskaya wurde im russischen Novorossijsk geboren. Sie studierte bei Sergei Ossipienko in Rostow und anschließend bei Jewgeni Koroljow an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, an der sie seit 2009 selbst als Professorin lehrt.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Wolters, Rainer
Nebel, David
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Bondas, Marina
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Tast, Steffen
Morgunowa, Anna
Plüger, Maria
Yamada, Misa
Behrens, Susanne
Hildebrandt, Laura
Scilla, Giulia
Vatseba, Vasyl
Heidt, Cathy

Violine 2

Contini, Nadine
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Seidel, Anne-Kathrin
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Manyak, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Bauza, Rodrigo
Färber-Rambo, Juliane
Bara, Anna
Palascino, Enrico

Viola

Rinecker, Lydia
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Markowski, Emilia
Drop, Jana
Montes, Carolina
Nell, Lucia
Shin, Hyeri
Kreuzpointner, Isabel
Moon, Inha
Livingston, Paul
Makij, Andrei

Violoncello

Eschenburg, Hans-Jakob
Riemke, Ringela
Weiche, Volkmar
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Wittrock, Lukas
Kalvelage, Anna
Monné, Nina

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Nejjoum-Barthélémy, Mehdi
Zón, Jakub
Wheatley, Paul

Flöte

Schaaff, Ulf-Dieter
Döbler, Rudolf
Kronbügel, Annelie

Oboe

Esteban Barco, Mariano
Vogler, Gudrun
Herzog, Thomas

Klarinette

Kern Michael
Pfeifer, Peter
Zacharias, Ann-Kathrin

Saxophon

Elßner, Karola

Fagott

You, Sung Kwon
Voigt, Alexander
Königstedt, Clemens

Horn

Ember, Daniel
Klinkhammer, Ingo
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Dörpholz, Florian
Ranch, Lars
Niemand, Jörg
Gruppe, Simone

Posaune

Manyak, Edgar
Hauer, Dominik
Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud

Percussion

Tackmann, Frank
Buchheim, Matthias
Lindner, Christoph
Dölling, Matthias
Reddemann, Ingo

Pauke

Wahlich, Arndt

Celesta

Inagawa, Yuki

Kooperation

18.06.2023 21:05 Konzertübertragung bei Deutschlandfunk in Konzertdokument der Woche

Bildquellen

Portrait Anna Vinnitskaya © Marco Borggreve

Portrait Emmanuel Tjeknavorian © Lukas Beck

https://www.youtube.com/watch?v=rDnJ8JlPieU

Bilder Orchester © Peter Meisel