Digitales Programm

Sa 27.05. Lahav Shani

20:00 Konzerthaus

György Ligeti

„Atmosphères“

Aaron Copland

Konzert für Klarinette und Streichorchester mit Harfe und Klavier

Pause

Sergei Prokofjew

„Romeo und Julia“ – Szenen aus dem Ballett op. 64

Besetzung

Lahav Shani, Dirigent
Martin Fröst, Klarinette
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

19.10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Konzerteinführung von Steffen Georgi

Konzert mit Deutschlandfunk Kultur, Radioübertragung am 11.06. um 20:03 Uhr

Die Rundfunkübertragung des Auftritts von Martin Fröst erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Sony Classical, einem Label der Sony Music Entertainment.

Kennen Sie Stanley Kubricks Kultfilm „2001: Odyssee im Weltraum“? Falls ja, erkennen Sie das erste Stück dieses Konzertabends – György Ligetis „Atmosphères“ – bestimmt wieder. Zu hören sind außerdem romantische Szenen aus Prokofjews Ballett „Romeo und Julia“ und Aaron Coplands Klarinettenkonzert mit seinem spezifischen, jazzig-amerkianischen Sound.

Texte von © Steffen Georgi

Podcast „Muss es sein?“

György Ligeti

„Atmosphères“

Die Uraufführung der „Atmosphères“ von György Ligeti am 22. Oktober 1961 war eine Sensation.

Wolkenspiel

Die Uraufführung der „Atmosphères“ von György Ligeti am 22. Oktober 1961 war eine Sensation. Plötzlich kam einer daher, der den hysterischen Systematisierungszwang der Nachkriegsavantgarde, welcher inzwischen alle Tonparameter (Tondauer, Tonhöhe, Tonlagen, Lautstärke usw.) unter seine lückenlose Kontrolle gebracht hatte – genannt „Serialismus“ –, mit Hilfe von scheinbarer Strukturlosigkeit einfach vom Tisch fegte. „In Atmosphères versuchte ich, das strukturelle kompositorische Denken, das das motivisch-thematisch ablöste, zu überwinden und dadurch eine neue Formvorstellung zu verwirklichen. In dieser musikalischen Form gibt es keine Ereignisse, sondern nur Zustände; keine Konturen und Gestalten, sondern nur den unbevölkerten, imaginären musikalischen Raum; und die Klangfarben, die eigentlichen Träger der Form, werden – von den musikalischen Gestalten gelöst – zu Eigenwerten.“ (György Ligeti).

Eigenwert heißt hier konkret: radikale Individualisierung. Jede der siebenundachtzig Stimmen ist einzeln geführt, „folgt einer eigenen durchaus komplexen rhythmischen Struktur und Melodie, … wobei deren Töne dicht an dicht (chromatisch, in Halbtonabständen nebeneinander) liegen. Solche Tontrauben nennt man ‚Cluster’.

Ausschnitt Partitur „Atmosphères“ György Ligeti

Diese Cluster sind bei Ligeti permanent in Bewegung, werden umgeschichtet, geweitet oder verengt, als ob sie durch einen Trichter durchgepresst werden würden.“ (Martin Hufner) Dies findet seinen radikalen Ausdruck auch im Notenbild: Die Partitur „sieht aus wie ein miniaturisierter Wolkenkratzer: Schmal und hoch, nicht den gewöhnlichen Papierformaten auch nur im geringsten ähnlich. Notensysteme, bis zu 87 türmen sich übereinander, jedes System repräsentiert eine Stimme im Orchester“ (Hufner). Jeder Stimmeneinsatz soll erfolgen, ohne dass man es merkt, die Töne sollen also gleichsam aus dem Nichts kommen, und „alle sollen zu einer zarten Klangwolke verschmelzen“ (Ligeti).

Während die schriftliche Struktur im Grunde undurchschaubar ist, hat es das Ohr sehr viel leichter. Es nimmt die Musik wie eine große orchestrale Plastik wahr. „’Die Gesamtform des Stückes ist wie ein einziger, weit gespannter Bogen zu realisieren, die einzelnen Abschnitte schmelzen zusammen und werden dem großen Bogen untergeordnet,’ schreibt Ligeti in seinen Bemerkungen zur Einstudierung. Dieser Bogen reicht von einem ganz nebulösen Anfangsklang bis zum ‚Verschwinden im Nichts’ in den Klavierklängen am Ende des Stückes. Auch das spiegelt die Partitur eigenartig ironisch wieder. Während auf allen Seiten der Partitur diese Systemtürme sind, ist auf der letzten ein einziges übrig, welches nicht einmal die fünf Linien des Notensystems benutzt, sondern aus nur einer Linie besteht, ganz dünn, der Rest der Partiturseite ist leer. …

Selten sind die Farben eindeutig und die Wolkenform selbst verändert sich ständig und auch die Tempi, mit denen sich die Wolken in- oder gegeneinander bewegen. Etwa in der Mitte des Stückes gibt es eine ganz deutliche Kontrastbildung, wenn die Querflöten eine kleine Tonwolke immer weiter in der Tonhöhe nach oben schrauben oder schieben, lauter und lauter werden und dann von einer tiefen Tonwolke der Kontrabässe abgelöst werden.“ (Hufner)

Stanley Kubrick hat Ligetis „Atmosphères“ in seinem Science-Fiction-Film „2001 – A Space Odyssey“ verwendet.

Auch wenn der Komponist davon zunächst keine Kenntnis hatte, freute er sich 2001 in einem Interview: „Als ich dieses Stück komponierte, habe ich nicht an kosmische Dinge gedacht. ,Atmosphères‘ meint nur die Luft. Meine Musik – in Kubricks Auswahl – passt ideal zu diesen Weltraum- und Geschwindigkeitsfantasien.“

Wissenschaftler und Komponist

Das Miterleben von klanglichen Grenzregionen kann gerade auf den mit solchen Dingen unerfahrenen Hörer eine ungeheuer suggestive Spannung ausüben. Das weiß Ligeti und er spielt damit. Aber er ist kein wilder Provokateur.

1923 in Siebenbürgen geboren, komponiert György Ligeti schon im Alter von 14 Jahren erste Klavierstücke. Nach dem Abitur 1941 will er ursprünglich Physik studieren, kann sich sein Leben ebenso als Wissenschaftler wie als Kom­ponist vorstellen.

Der Numerus clausus für jüdische Studenten verhindert die Physikerlaufbahn, er geht ans Konserva­torium zunächst in Cluj (Klausenburg), später an die Budapester Musikhochschule, wo er Schüler von Veress, Járdányi und Farkas wird. Nach dem Diplom bleibt er der Hochschule als Lehrer für Musiktheorie bis 1956 treu. Dann verlässt Ligeti Ungarn, wendet sich zunächst nach Wien, später nach Köln, wo er im elektronischen Studio des WDR arbeitet. Sowohl persönlich als auch kompositorisch markiert diese Ent­scheidung den entscheidenden Einschnitt – er bekommt Anschluss an die Avant­garde. Als Mitarbeiter der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik ist er bald nicht mehr weg­zudenken aus der heterogenen Szene der zeitgenössischen Komponisten in Deutschland. 1973 wird Ligeti zum Professor für Komposition in Hamburg berufen. Am 12. Juni 2006 stirbt er nach langer, schwerer Krankheit in Wien.

Aaron Copland

Konzert für Klarinette und Streichorchester mit Harfe und Klavier

Aaron Copland, 1970

Copland trifft Goodman

Benny Goodman (1909-1986), der legendäre US-amerikanische Jazzklarinettist, der gleichwohl Mozarts Klarinettenkonzert kongenial zu interpretieren verstand, erteilte 1947 seinem Landsmann Aaron Copland den Kompositionsauftrag für ein Klarinettenkonzert. Der tat, wie ihm geheißen, so dass am 6. November 1950 im Rahmen einer Rundfunkübertragung aus einem New Yorker Studio (NBC Symphony Orchestra unter Leitung von Fritz Reiner; Solist: Benny Goodman) zunächst die nichtöffentliche Uraufführung stattfinden konnte, der am 28. November 1950 in Philadelphia (Philadelphia Orchestra unter Leitung von Eugene Ormandy; Solist: Ralph McLane) die öffentliche Premiere folgte.

Copland befand sich in guter Gesellschaft, als er sich auf Benny Goodman einließ. Zuvor hatten schon Béla Bartók und Paul Hindemith für den Klarinettisten gearbeitet. Als der aber Coplands neues Werk zum ersten Mal sah, erschrak er vor den technischen Schwierigkeiten vor allem in der Kadenz und im Finale und bemerkte gegenüber dem Komponisten, er sei doch nur ein kleiner Jazzklarinettist. Obwohl Copland abwiegelte, zögerte Goodman zwei Jahre lang und stimmte zunächst nur der erwähnten Rundfunkübertragung ohne Publikum zu. Danach hat er wiederum lange gezögert, dann aber das Konzert doch noch häufig gespielt und es 1963 unter Leitung des Komponisten sogar für Schallplatte eingespielt.

Benny Goodman

Aaron Copland erinnerte sich später an Diskussionen mit Benny Goodman: „Die letzte Seite war zu hoch für die Klarinette, deshalb musste ich diesen Abschnitt um einen Ton nach unten transponieren. Benny machte noch einige andere Vorschläge; einer betraf einen besonders hohen Ton in der Kadenz. Ich wusste, dass Benny diesen Ton spielen konnte, weil ich mir seine Platten angehört hatte. Aber er erklärte mir, dass er diesen Ton zwar ohne Probleme erreichen könne, wenn er Jazz vor einem Publikum spiele, aber möglicherweise nicht, wenn er nach Noten oder für eine Aufnahme spiele. Ich schrieb die Stelle schließlich um.“

Traditional, Klassik, Jazz

Zwischen zwei orchestralen Sätzen, langsam und schnell, rangiert eine längere Solokadenz als eigener Satz, eine musikalische Architektur, die etwa auch Dmitri Schostakowitsch im ersten Violoncellokonzert verwendet. „Langsam und ausdrucksvoll“ soll das Konzert beginnen. „Ich glaube, dass alle weinen werden“, war sich Copland bereits 1947 sicher, als er die „bittersüße, grundsätzlich diatonische Lyrik“ (Philip Ramey) in Noten setzte. Erste Anklänge an den Jazz tauchen in der Solokadenz auf, wo sie sich mit diversen Volksmusiktraditionen Südamerikas vermischen und zugleich auf die Themen des Finales vorausweisen. Die Kadenz ist traditionell das virtuose Spielfeld des Solisten. Auch darin hält sich Copland an die Gepflogenheiten: „Sie ist zwar nicht so frei wie in vielen traditionellen Konzerten, aber ich war der Meinung, dass sie durchaus Spielraum für Interpretationen lässt, auch wenn ich den Ablauf ziemlich genau festgelegt habe.“

Danach geht auch im Orchester die Post ab. „Ziemlich schnell“ bohrt sich ein heftiges Synkopengewitter ins Ohr des Hörers. Copland baut eine kulturelle Brücke: „Es findet eine – unbewusste – Fusion zwischen Elementen nord- und südamerikanischer populärer Musik statt.“

Die mit der Klarinette korrespondierenden Soloinstrumente Klavier und Harfe haben vor allem perkussive Funktion, ebenso wie die Kontrabässe, deren Saiten beim Pizzikato geräuschvoll aufs Griffbrett aufzuschlagen haben. Die Wogen glätten sich nach C-Dur, um schlussendlich der Klarinette einen eindrucksvollen Abgang zu ermöglichen. Da ist Gershwins berühmte Rhapsody in Blue nicht weit!

Sergei Prokofjew

„Romeo und Julia“ – Szenen aus dem Ballett op. 64

Dieser Morgen bringt uns einen düstern Frieden, und die Sonne selbst scheint trauernd ihr Haupt verhüllt zu haben - - Geht, und erwartet unsre Entscheidung, was in diesem unglüklichen Handel Strafe und was Verzeihung verdient - - Ihr aber, getreue Liebende, die ein allzustrenges Schiksal im Leben getrennt, und nun ein freiwilliger Tod auf ewig vereiniget hat, lebet, Juliette und Romeo, lebet in unserm Andenken, und die späteste Nachwelt möge das Gedächtniß eurer unglüklichen Liebe mit mitleidigen Thränen ehren!

William Shakespeare, „Romeo und Julia“, Schlussmonolog des Fürsten von Verona (deutsch von August Wilhelm Schlegel)

Extreme Gefühle

Sergei Prokofjew mag sein Vorbild vielleicht in dem Romeo-und-Julia-Ballett gesehen haben, das George Balanchine und Bronislawa Nijinska für Diaghilews „Ballets Russes“ 1926 mit Musik des englischen Komponisten Constant Lambert herausgebracht hatten. Jedenfalls reagierte er begeistert, als im Herbst 1934 der damalige Direktor des Akademischen Opern- und Ballett-Theaters Leningrad, Sergei Radlow, genau dieses Sujet für ein abendfüllendes Ballett vorschlug.

Prokofjew begann zu arbeiten und fühlte sich durch die innenpolitische Katastrophe, die am 1. Dezember 1934 mit der Ermordung des Leningrader Parteisekretärs und ehemaligen Revolutionsführeres Sergei Kirow ausbrach, zunächst nicht betroffen. Stalin nutzte das Attentat für eine beispiellose Terrorwelle gegen Tausende von Bürgern der Sowjetunion. Auch die Theatermannschaft in Leningrad wechselte komplett. Keiner der Verträge hatte weiterhin Gültigkeit. Doch Prokofjew kam vergleichsweise trocken unter dem einsetzenden Blutregen hindurch, geschweige denn, dass er selbst zur Ader gelassen worden wäre. Während Schostakowitsch 1936 auf dem Höhepunkt der wütenden Verfolgungen an den Rand des Abgrunds geriet, durfte Prokofjew noch zweimal zu ausgedehnten Auslandsreisen aufbrechen. Er konzertierte in Paris und Brüssel und hörte aus der Ferne von den Repressalien gegen Intellektuelle in seinem Heimatland, das er bereits 1918 auf der Flucht vor der proletarischen Revolution verlassen hatte. Dies alles hinderte ihn nicht, zurückzukehren, um im Auftrag des Staates vor Arbeitern zu spielen und hymnische Reden auf die neue sowjetische Kulturpolitik zu halten.

Frei nach Shakespeare

Mitten in den repressiven Tagen erklärte sich das Bolschoi-Theater plötzlich bereit, das Ballett aufzuführen – eine Scheinzusage. Prokofjew, hinreichend motiviert, arbeitete binnen fünf Monaten des Jahres 1935 das Stück in 58 Nummern auf dem Gut Polenowo aus, dem Staatlichen Erholungsheim für die Bolschoi-Künstler in Tarussa an der Oka.

Die ersten Proben am Bolschoi endeten im Chaos, die Tänzer – unter ihnen die weltberühmte Ballerina Galina Uljanowa – weigerten sich, nach dieser Musik zu tanzen. „Wer das Stück kennt, erinnert sich vielleicht, dass Julia beim Aufgehen des Vorhangs auf einem brokatüberzogenen Ruhelager sitzt und den Kopf Romeos streichelt, der das Gesicht auf ihre Knie gelegt hat. Das Lager ist weit von der Rampe entfernt, also auch in ziemlicher Entfernung vom Orchester, weswegen wir, die Darsteller Romeos und Julias, die Musik nicht vernahmen. Plötzlich rief Lawrowski: ‚Warum fangt ihr nicht an?’ – ‚Wir hören die Musik nicht’, antworteten wir. Der der Probe beiwohnende Prokofjew schrie außer sich: ‚Ich weiß, was ihr braucht, Trommeln, aber keine Musik!“ (Galina Uljanowa)

Heftige Streitereien entbrannten auch über den tragischen Schluss. Prokofjew ging zynischerweise sogar so weit, ein Happy End vorzuschlagen: Romeo kommt eine Minute früher und kann Julia noch retten. „Wir hatten diese Barbarei aus rein choreographischen Gründen begangen: lebende Menschen können tanzen, nicht aber sterbende, die am Boden liegen.“ Diese Idee verwarf er jedoch wieder, nachdem die russische Literaturkritik angesichts dieser Shakespeare-Vergewaltigung aufgeschrien hatte.

Am Ende nahm die Musik zuerst ihren Siegeszug über die Konzertsäle, denn Prokofjew löste bereits 1936 eine erste Suite mit acht Nummern aus dem Ballett heraus und dirigierte selbst ihre Uraufführung in Moskau. 1937 folgte die zweite Suite, 1944 eine dritte Auskopplung. Erst 1938 hatte das Ballett auf der Bühne seine Weltpremiere – in Brno, nicht in Moskau. Dort kam es am 11. Januar 1940 im Bolschoi-Theater heraus, nachdem der Choreograph Leonid Lawrowski in unermüdlichen diplomatischen Drahtseilakten die Interessen der Tänzer und des Komponisten angenähert hatte. Inzwischen gehört „Romeo und Julia“ zu den am häufigsten inszenierten Balletten der Welt.

Wenn der Tod die Liebe retten muss

Was ist das für Musik, die derjenigen von „Peter und der Wolf“ nur wenige Monate vorausging? Prokofjew hatte seine wilden Jahre hinter sich, er akzeptierte durchaus die ästhetischen Forderungen des Stalinregimes und verhöhnte zugleich alle Formen von Machtstreben mit Hilfe seines unnachahmlich freundlichen Zynismus. Mit „Romeo und Julia“ komponierte er ein Ballett, das alle diese biographischen Umstände vereinigte, mehr noch, das musikalisch trotz sozialistischem Realismus und anderem ideologischem Ballast zum Besten zählt, was das 20. Jahrhundert musikalisch hervorgebracht hat. Auch wenn Prokofjews Feder einige Stücke entstammten, die den Stalinpreis wirklich verdienten, blieb in ihm dennoch bis zuletzt der scharfsinnig-geniale Künstler wach, der mit seiner Musik zu tiefer Aussage fähig war. Breit strömende Kantilenen, trockene Aphoristik, Hauchen und Hämmern, Schwärmen und Sprechen, Schweben und Stampfen – „Romeo und Julia“ ist sinnliche Musik bis zum letzten Tropfen! Die heute erklingende Musikauswahl hat Lahav Shani selbst aus den Suiten Nr. 1 und 2 op. 64 a und b von Prokofjew zusammengestellt.

Montecchi und Capuleti: Klugerweise genügt Prokofjew ein und dieselbe musikalische Sprache, um die beiden verfeindeten Familien in ihrem Starrsinn und ihrer Gewaltbereitschaft zu porträtieren. Grelle Akkordflächen drohen bleiern, bevor ein blechgepanzerter Marsch in hart punktiertem Rhythmus alles niederstampft. Ist das ganze Gehabe vielleicht nur äußerlich? Feiert Prokofjew den Männlichkeitswahn – oder macht er sich gar darüber lustig?

Julia als Kind: Kaum zu fassen, das Girl, wie ein Wirbelwind schießt Julia durch den Morgen, spiegelt sich kurz im Wasser des Brunnens, träumt den Traum aller jungen Mädchen. Prokofjew leiht ihr die Flöte, kammermusikalisch filigran begleiten die „Freundinnen“.

Szene. Die Straße erwacht. Zögernd tänzeln die ersten Sonnenstrahlen zwischen die Füße der Frühaufsteher.

Tanz am Morgen: Er kündet von einem frischen Tag. Hoffnung keimt, doch immer drohen die Marschrhythmen.

Masken: Der abendliche Auftritt Romeos und seiner Freunde auf dem Ball der Capulets, verkleidet nach Art des Karnevals mit Masken, ist an Harmlosigkeit kaum zu überbieten. Romeos Übermut ist herzlich, sein Selbstbewusstsein gründet auf eigener Kraft, nicht auf der Erniedrigung eines Gegners. Peter, der später mit dem Wolf tanzt, könnte sein kleiner Bruder sein. Die Burschen wollen bloß Spaß haben, den Streit der Alten verstehen sie kaum. Artig tänzeln sie auf dem fremden Parkett. Das zweite Ich ist augenscheinlich eine reizvolle Variante der eigenen Identität.

Romeo und Julia: Ja, es könnte so schön sein. Äußerst delikat blickt Prokofjew auf den allerersten Flirt zwischen Romeo und Julia zurück: Nach beiderseits zickigen Momenten ergießt sich die Musik in breitem lyrischem Strom. Der Schachspieler Prokofjew hatte nach eigenem Bekunden anfangs seine Probleme damit. Er hielt lyrische Musik für ungeeignet, wenn schon nicht komponiert, so doch wenigstens öffentlich aufgeführt zu werden. Wie weit er in dieser Frage inzwischen gereift ist!

Tybalts Tod: Musikalisch das martialischste Stück des ganzen Balletts. Wie ein Sog zieht das Unheil alles und alle in Bann. Brutale Schläge, die lähmen, die Angst machen. Die irgendwie berauschen?

Tanz der jungen Mädchen: Im Ballett tanzen ihn die jugendlichen Freundinnen Julias mit artiger Eleganz. Sie sind auf dem Maskenball exotisch verkleidet als Antillenschönheiten, eine jede trägt eine Lilie in der Hand.

Romeos Abschied von Julia: Nach der Bluttat Romeos bleibt dem jungen Paar nur die Trennung, Schmerz ohne Sentimentalität. Der Abschied ist eine leise Sache. „Um nicht schlüpfrig zu werden, suchte der Komponist eine reine, lichte Musik“ (Prokofjew, 1935). Musikalisches Material aus dem dritten Akt führt uns in Julias Schlafzimmer, lässt uns an ihren Träumen teilhaben, zeichnet den Schmerz des seine Geliebte verlassenden Romeo, malt seine vollmundigen Wiederkommensbekundungen.

Am Ende ist Julia allein, die Musik dreht sich gemeinsam mit ihr buchstäblich auf der Stelle. Einer anderweitigen Verheiratung versucht sie, durch Scheintod zu entkommen.

Julias Tod: Rasend vor Schmerz, eilt Romeo zurück nach Verona, um an ihrer Seite zu sterben. Im Grabgewölbe sieht er die leblose Julia liegen und erdolcht sich. Julia erwacht und folgt ihm in den Tod. Julias Mutter, die Gräfin Capulet, steht vor den Trümmern ihres Lebens.

Kurzbiographien, Abendbesetzung

Lahav Shani

Lahav Shani Conductor Photo: Marco Borggreve

Seit der Saison 20/21 ist Lahav Shani Musikdirektor des Israel Philharmonic Orchestra, und hiermit die Nachfolge von Zubin Mehtas, der diese Position 50 Jahren innehielt. Shani ist seit 2017 auch Hauptgastdirigent der Wiener Symphoniker.

Shanis enge Beziehung zum Israel Philharmonic Orchestra begann vor über 10 Jahren. Er debütierte mit dem Orchester im Alter von 16 Jahren und führte 2007 das Tschaikowsky-Pianokonzert unter der Leitung von Zubin Mehta im Alter von 18 Jahren auf. Anschließend spielte er regelmäßig als Kontrabassist mit dem Orchester. Nach dem er den Internationalen Dirigentenwettbewerb Gustav Mahler in Bamberg im Jahr 2013 gewann, lud ihn das Orchester ein, die Konzerte zur Saisoneröffnung zu dirigieren. Seitdem kehrt er jedes Jahr sowohl als Dirigent als auch als Pianist an das Orchester zurück, um unter anderem das Abschlusskonzert der Feierlichkeiten zum 80-jährigen Jubiläum des Orchesters im Dezember 2016 zu leiten.

Shani wurde 1989 in Tel Aviv geboren und begann sein Klavierstudium im Alter von sechs Jahren bei Hannah Shalgi, bevor er mit Prof. Arie Vardi an der Buchmann-Mehta School of Music fortfuhr. Anschließend studierte er das Dirigieren bei Prof. Christian Ehwald, sowie Piano bei Prof. Fabio Bidini an der Musikakademie Hanns Eisler in Berlin; und wurde während seiner Zeit dort von Daniel Barenboim betreut.

Shani arbeitet regelmäßig mit der Staatskapelle Berlin zusammen, sowohl in Opernproduktionen, an der Staatsoper Berlin, als auch für symphonische Konzerte. Zu den jüngsten und kommenden Höhepunkten in der Rolle des Gastdirigenten zählen Engagements mit den Wiener Philharmonikern, dem Gewandhausorchester, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, den Berliner Philharmonikern, dem London Symphony Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra, dem Royal Concertgebouw Orchestra, dem Philadelphia Orchestra, dem Budapest Festival Orchestra, dem Orchestre de Paris und dem Philharmonia Orchestra.

Martin Fröst

Martin Fröst ist international als hochvirtuoser Klarinettist, origineller Musikvermittler und inspirierender Dirigent bekannt. Das Streben nach der Neugestaltung klassischer Musik und die Suche nach neuen Herausforderungen zeichnen ihn ebenso aus wie ein umfassendes Repertoire. Es besteht aus gesetzten Klarinettenwerken, aber auch aus einer Reihe zeitgenössischer Kompositionen, für die er sich nachdrücklich einsetzt. Für sein Spiel wurde er 2014 als erster Klarinettist mit einer der höchsten musikalischen Auszeichnungen der Welt, dem „Léonie-Sonning-Musikpreis“, geehrt.

Als Solist konzertierte der aus Schweden gebürtige Musiker mit weltbekannten Orchestern wie dem New York und dem Los Angeles Philharmonic Orchestra, dem Gewandhausorchester Leipzig, den Münchner Philharmonikern und dem NDR-Elbphilharmonie Orchester. Beim RSB war er 2013 zum ersten Mal zu Gast. Regelmäßig arbeitet er mit Künstler:innen wie Yuja Wang, Janine Jansen und Roland Pöntinen zusammen. Er spielt bei internationalen Festivals und tourt durch ganz Europa, nach Nordamerika, Asien und Australien.

Martin Frösts Interesse gilt nicht nur der ständigen Neufindung der Musik, er setzt sich auch stark für musikalischen Erziehung ein. So gründete er 2019 die Martin-Fröst-Stiftung, die für Kinder und Jugendliche einen besseren Zugang zu Musikinstrumenten und -unterricht ermöglichen soll und bereits in Kenia und Madagaskar vertreten ist.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Nebel, David
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Bondas, Marina
Beckert, Philipp
Kynast, Karin
Tast, Steffen
Morgunowa, Anna
Feltz, Anne
Yamada, Misa
Hildebrandt, Laura
Scilla, Giulia
Kang, Jiho
Heidt, Cathy

Violine 2

Contini, Nadine
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Hetzel de Fonseka, Neela
Bauza, Rodrigo
Färber-Rambo, Juliane
Palascino, Enrico
Leung, Jonathan
Guiller, Antoine
Marquard, David

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Markowski, Emilia
Drop, Jana
Doubovikov, Alexey
Montes, Carolina
Nell, Lucia
Shin, Hyeri
Balan-Dorfman, Misha
Kantas, Dilhan

Violoncello

Eschenburg, Hans-Jakob
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Kalvelage, Anna
Kim, Jean

Kontrabass

Wagner, Marvin
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Nejjoum-Barthélémy, Mehdi
Thüer, Milan
Wheatley, Paul

Flöte

Uhlig, Silke
Döbler, Rudolf
Schreiter, Markus
Kronbügel, Annelie

Oboe

Esteban Barco, Mariano
Grube, Florian
Vogler, Gudrun
Herzog, Thomas

Klarinette

Link, Oliver
Pfeifer, Peter
Zacharias, Ann-Kathrin
Pfanzelt, Barbara

Saxophon

Elßner, Karola

Fagott

Kofler, Miriam
Voigt, Alexander
Okulmus, Vedat
Kopf, Mario

Horn

Kühner, Martin
Holjewilken, Uwe
Klinkhammer, Ingo
Mentzen, Anne
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Dörpholz, Florian
Ranch, Lars
Niemand, Jörg
Gruppe, Simone
Hofer, Patrik

Posaune

Manyak, Edgar
Hauer, Dominik
Lehmann, Jörg

Tuba

Gionanidis, Vikentios

Harfe

Edenwald, Maud

Schlagzeug

Schweda, Tobias
Tackmann, Frank
Morbitzer, Wolfgang
Grahl, Christoph

Pauke

Wahlich, Arndt

Klavier

Gneiting, Heike
Inagawa, Yuki

Kooperationspartner

Radioübertragung am 11.06. um 20:03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur

Martin Fröst tritt mit freundlicher Genehmigung von Sony Classical, einem Label von Sony Music Entertainment, auf.

Bild- und Videoquellen

https://www.youtube.com/watch?v=Viq7gml1kws

Portrait Laha Shani © Marco Borggreve

Portrait Martin Fröst © Mats Bäcker

Bilder Orchester und Probenbilder © Peter Meisel