Digitales Programm

Mo 9.9.24
Vladimir Jurowski

20:00 Philharmonie

Konzert zum 30-jährigen Bestehen der Rundfunk-Orchester und -Chöre gGmbH Berlin
Konzert im Rahmen des Musikfestes Berlin

Johannes Brahms

Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81

Arnold Schönberg

Vier Lieder für Gesang und Orchester op. 22

Pause

John Adams

„Harmonielehre“ für Orchester

Besetzung

Vladimir Jurowski, Dirigent
Fleur Barron, Mezzosopran
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Ralf Sochaczewsky, Assistent des Chefdirigenten

Christina Bock mußte krankheitsbedingt leider ihre Mitwirkung am Saisoneröffnungskonzert des RSB am 9.9. in der Philharmonie Berlin absagen. Wir freuen uns, dass Fleur Barron sich kurzfristig bereit erklärt hat, die Gesangspartie in Arnold Schönbergs Vier Liedern op. 22 zu übernehmen.

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Südfoyer, Steffen Georgi

Das Konzert wird am 16.09.2024 um 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.

 

„… und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen“

Es muss in Arnold Schönberg tiefste Eigenschwingungen geweckt haben, was Rainer Maria Rilke 1904 in seinem „Stunden-Buch“ gedichtet hatte: „Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben. Ich ahne die Winde, die kommen, und muss sie leben, während die Dinge unten sich noch nicht rühren… Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer … und bin ganz allein in dem großen Sturm.“
Vier Gedichte von Rilke, darunter die beiden zitierten „Von der Armut und vom Tode“ und „Vorgefühl“, bilden den Orchesterliedzyklus Opus 22 von Schönberg. Die Lieder markieren die Entfaltung der freien atonalen Phase des Komponisten, 1915 abrupt beendet durch seine Einberufung als Soldat in den ersten Weltkrieg.
Ob die Lieder schon zu jenen Werken Schönbergs gehörten, denen der amerikanische Komponist John Adams – in Anspielung auf Schönbergs Theoriegebäude namens „Harmonielehre“ (1911) – auf spektakuläre Weise anno 1985 mit einem gleichnamigen, großformatigen Orchesterwerk offen widerspricht?
„Schönberg stellt für mich bei aller Meisterschaft auch etwas Verdrehtes und Verzerrtes dar, … fast so, als hätte er die Rolle des Störenfrieds gewählt. Trotz meines Respekts und sogar meiner Einschüchterung durch die Person Schönbergs halte ich es für ehrlich, zuzugeben, dass ich den Klang der Zwölftonmusik zutiefst verabscheue. … Mit Schönberg war die ‚Qual der modernen Musik‘ geboren worden, und es ist kein Geheimnis, dass das Publikum für klassische Musik im 20. Jahrhundert rapide schrumpfte, nicht zuletzt wegen der akustischen Hässlichkeit so vieler neuer Werke, die geschrieben wurden.“ (John Adams)

Podcast "Muss es sein?"

Johannes Brahms

Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81

Brahms

Auch das Schöne muss sterben!

Die Leidenschaften abstreifen. In Johannes Brahms reifte – nicht anders als in Ludwig van Beethoven, Arnold Schönberg und vielen anderen bedeutenden Künstlern – mit den Jahren die schmerzhafte Erkenntnis heran, nur durch die radikale Amputation der Leidenschaft die Ursache aller peinigenden Selbstbeschränkung des eigenen Lebens ausmerzen zu können. Bei etlichen Komponisten mündete die „Operation“ in eine Reihe bestürzend ernster Werke, in große, unergründlich tragische Musik. Weil aber den meisten Menschen der Zugang zur schier existentieller Dimension der Tragik eines Brahms, Schönberg oder Beethoven verwehrt bleibt, nennen sie das Unergründlich-Tragische der bedrängten Künstler kurzerhand: grundlos tragisch.

Generationen von Musikhistorikern und deren Lesern respektive Hörern erging es so mit der Tragischen Ouvertüre op. 81 von Johannes Brahms. Von Brahms obendrein ironisch auf eine alberne Fährte gelockt, wiederholten sie nur allzu gern dessen Bonmot von den beiden Ouvertüren: „Die eine weint, die andere lacht.“ Die Rede ist von der Tragischen Ouvertüre op. 81 und ihrem scheinbaren Schwesternwerk, der Akademischen Festouvertüre op. 80. Tatsächlich hatte die Universität Breslau dem Komponisten 1879 einen Doktorhut ehrenhalber verpasst, so dass der sich genötigt sah, eine „Doktor-Sinfonie“ vorzusehen. Doch der allzu Bescheidene zierte sich vor dem „Doktor-Schmaus mit Kegelschieben“, brachte am Ende lediglich ein flottes Orchesterstück mit allerlei provokatorisch eingebauten Studentenliedern zuwege, was die Herren Professoren eher brüskiert haben dürfte. Oder sollte er mit der „lachenden“ Ouvertüre (die das steife Attribut „akademisch“ im Titel führt) eine bittere Persiflage auf den Zustand des deutschen Geisteslebens im Sinn gehabt haben? Dann wäre die Tragische Ouvertüre sozusagen der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen.

Wie gering Brahms die einordnende Etikettierung der beiden Ouvertüren schätzte, geht daraus hervor, dass er die eine weder „Akademische“ noch die andere „Tragische“ nennen mochte. „Früher“, so schrieb er 1880 an Billroth, „gefiel mir bloß meine Musik nicht, jetzt auch die Titel nicht, ist das am Ende Eitelkeit – –?“

Ouvertüren aus Verlegenheit

Trotz Eduard Hanslicks Versicherung, Brahms führe „kein bestimmtes Trauerspiel als Sujet im Sinne“, gehen einige Vermutungen im Falle der auftragslos entstandenen Ouvertüre op. 81 von der Umwidmung einer ehemals für ein „Faust“-Projekt konzipierten Musik aus. Dann wäre der philosophisch-allgemeine Charakter der Musik erklärbar, nicht aber ihr sinfonischer, ganz und gar theaterunspezifischer Duktus. Alles zusammen deutet eher darauf hin, dass Brahms wohl doch wieder am Thema „Sinfonie“ arbeitete, zu dem 1876/1877 mit gleich zwei Werken der Knoten geplatzt schien. Seit drei Jahren herrschte allerdings erneut Funkstille auf dem Sektor, der Brahms augenscheinlich ein Leben lang doch wichtig war.

Vielleicht hatte er zunächst wirklich die Absicht, den Ehrendoktor zum Anlass zu nehmen für eine neue Sinfonie? Vielleicht sind die beiden Ouvertüren der Rest einer in den Ansätzen stecken gebliebenen, neuen Sinfoniekonzeption? Dann wäre es am Ende gleichgültig gewesen, welche er dem Akademischen Rat zu Breslau als Morgengabe widmete.

Dann wäre auch die Unzufriedenheit mit den Titeln erklärt. Und vielleicht sogar die partielle Unzufriedenheit mit der Musik. Denn Ouvertüren im strengen Sinne des Begriffes sind die beiden Werke nicht, allenfalls sinfonische Dichtungen. Doch diese Gattung verschmähte Brahms, hätte sie ihn doch ins Fahrwasser der „Neudeutschen“ um Wagner und Liszt gebracht.

Brahms heimliche Fünfte?

Der Gedanke, hier Teile einer nicht ausgeführten Sinfonie von Brahms vorzufinden, lässt sich weiterdenken, wenn man eine quasi Beethovensche Konzeption unterstellt. Demnach wäre die Ouvertüre op. 81 der Kopfsatz, beginnend mit zwei „Eroica“-Schlägen und wie die Sinfonie Beethovens voller ebenso großartiger wie düsterer kontrapunktischer Verstrickungen. Charakteristisch sind ein ständiges Ringen um das Tongeschlecht – Moll oder Dur? –, die unversöhnlichen Klangsphären der Instrumentengruppen und ein widerborstiger, synkopischer Marschrhythmus. Das archaische Gepräge rührt her vom markanten Einsatz leerer Quinten und Oktaven.
Die Ouvertüre op. 80 könnte hingegen das Finale sein, freudig-freiheitlich (und ein bisschen populistisch) – wie jenes der Sinfonie Nr. 9 von Beethoven. Dazwischen hätte freilich ein anderes Werk seinen Platz gleichsam als langsamer Satz: „Nänie“ für Chor und Orchester op. 82 (!). Nicht ohne Absicht mag Brahms ausgerechnet hier (wie seinerzeit Beethoven) bei Schiller nach einem geeigneten Text gesucht haben. Der Allegorie von der Vergänglichkeit – zumal des Schönen – gab Schiller die Form eines altrömischen Klagegesanges, einer „Nänie“. Brahms hebt in seiner Vertonung besonders den hoffenden Gedanken hervor: „Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich“. Das entspricht sinngemäß dem Trauermarsch der „Eroica“ und ist doch ganz Brahms! Zugleich weitet es den Blick auf eine alternative Chorverwendung, die Brahms im Vergleich zu Beethovens Sinfonie Nr. 9 vorgeschwebt haben könnte.

Genug der Spekulationen. Brahms unterließ es, die genannten Werke miteinander in Beziehung zu setzen. Hören wir also die Tragische Ouvertüre heute Abend als das was sie ist, ein erschütterndes, nachhaltig die sinfonische Kunst ihres Autors ausweisendes Orchesterwerk.

Arnold Schönberg

Vier Lieder für Gesang und Orchester op. 22

„Von Brahms habe ich gelernt: 1. Ungeradtaktigkeit ... 2. Plastik der Gestaltung ... 3. Systematik des Satzbildes. 4. Ökonomie und dennoch: Reichtum.“

Arnold Schönberg

Von Brahms ist zu lernen

Diese Bemerkungen von Arnold Schönberg in dem Aufsatz „Nationale Musik“ sind nur die Spitze des Eisberges seiner nachdrücklichen Bezugnahme auf Johannes Brahms. Immerhin 23 Jahre lang lebten Brahms und Schönberg parallel in Wien, freilich ohne dass Brahms von Schönberg Kenntnis nehmen konnte – die erste Aufführung eines größeren Werkes von Schönberg fand 1898 statt, ein Jahr nach Brahms‘ Tod. Gleichwohl ist es Schönbergs Verdienst, in der aufgeheizten Atmosphäre des ästhetischen Richtungsstreites zwischen Wagnerianern und Brahmsianern das zeitgenössische Urteil über den angeblich rückwärtsgewandten Brahms nachhaltig korrigiert zu haben. „Es ist zu beweisen, daß Brahms, der Klassizist, der Akademische, ein großer Neuerer, ja, tatsächlich ein großer Fortschrittler im Bereich der musikalischen Sprache war“, begann Schönberg seinen berühmten Vortrag „Brahms, der Fortschrittliche“ 1933 im Frankfurter Rundfunk. Den Kontakt zum Sender hatte Hans Rosbaud hergestellt, seinerzeit Chef des Frankfurter Rundfunk-Sinfonieorchesters und 1932 Dirigent der Uraufführung von Schönbergs Vier Liedern op. 22.

Nicht zuletzt durch Schönbergs scharfsinnigen Vortrag bekam der Stoßseufzer von Anton Bruckner über Johannes Brahms einen wahren Kern: „Bei dem is alles auspintisiert“. Schönberg wies überdies nach, dass „bei Wagner ebensoviel Ordnung wie bei Brahms Wagemut“ herrschte. Schlussendlich führte er seine eigene „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ zurück als unmittelbar abgeleitet aus Brahms’ Sinn für Logik und Organisation. Dessen motivische und thematische Querverbindungen würden oft so unauffällig wie effizient durch eine Tonfolge, eine Kernidee hergestellt.

Reichtum entstehe durch unablässige Variation und Weiterentwicklung der Substanz. Schönberg nannte diese Technik „entwickelnde Variation“. Gemeint ist „Variation durch Entwicklung“: Neue Gedanken gehen buchstäblich auseinander hervor, werden unablässig fortgesponnen. „Alexander von Zemlinsky hat mir erzählt, Brahms habe gesagt, dass er sich jedes Mal, wenn er sich schwierigen Problemen gegenüber sah, Rat zu holen pflegte bei je einem bedeutenden Werk von Bach und Beethoven. Wie wurden sie mit ähnlichen Problemen fertig? Natürlich wurde das Vorbild nicht mechanisch kopiert, sondern seine geistige Essenz entsprechend angewandt. Auf gleiche Weise erfuhr ich aus der ‚Eroica‘ Lösungen für meine Probleme: wie man Eintönigkeit und Leere vermeidet, wie man aus Einheit Mannigfaltigkeit erzeugt, wie man aus Grundmaterial neue Formen schafft; wie viel aus oft ziemlich unbedeutenden kleinen Gebilden durch geringfügige Modifikationen, wenn nicht durch entwickelnde Variation zu machen ist.“

„Ich ahne die Winde, die kommen, und muss sie leben“

Drei Gedichte von Rainer Maria Rilke und eines von Ernest Dowson (in der deutschen Nachdichtung von Stefan George) bewegen Arnold Schönberg zu dem Orchesterliedzyklus Opus 22. Hier sucht die abgrundtiefe Trauer eines von Gott verlassenen lyrischen Ichs nach vagen Utopien einer besseren Welt.

„Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben. Ich ahne die Winde, die kommen, und muss sie leben, während die Dinge unten sich noch nicht rühren… Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer … und bin ganz allein in dem großen Sturm.“

Es muss in Arnold Schönberg tiefste Eigenschwingungen geweckt haben, was Rilke 1904 in seinem „Stunden-Buch“ gedichtet hat. Der Komponist selbst hat den „überwiegend solistischen“ Stil der Orchestrierung hervorgehoben. In der Tat deutet das Instrumentarium auf den ersten Blick auf ein groß besetztes romantisches Orchester hin. Doch in keinem der Lieder spielen alle zusammen. Schönbergs Auswahl verleiht den verschiednen Liedern ihre spezifische Klangfarbe. Im ersten agieren die Streicher zusammen mit den Blechbläsern und dem (melodiösen) Schlagwerk. Nummer 2 und 3 geben den Holzbläsern Raum, jeweils korrespondierend mit solistisch geführten tiefen Streichern. Das letzte Lied wird ausschließlich von einem fünfstimmigen Streichorchester getragen. Auffällig im Vergleich zum spätromantischen Orchester ist das fast völlige Fehlen des geballten Blechs und der chorische Einsatz der Holzbläser. Stattdessen dominieren stark gegliederte Streicherklänge, oft solistisch vereinzelt.

Sendungsbewusster Pädagoge, der er war, passt Schönberg sogar das Schriftbild der Partitur an, indem er alles Redundante weglässt (Pausen ganzer Stimmgruppen, Stimmverdopplungen) und stattdessen fortan mit expliziten Vermerken auf Haupt- und Nebenstimmen hinweist, ja geradezu schulmeisterlich dafür sorgt, dass „der Verlauf jeder Stimme jederzeit verfolgt werden könne“.

Die Lieder markieren das Ende der freien atonalen Phase des Komponisten, abrupt beendet durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges und die Einberufung zum Militär. Just in der danach folgenden, unproduktiven Zeit des kompositorischen Verstummens entwickelte Schönberg die Methode des Komponierens mit den zwölf Halbtönen der Oktave. 

Ob die Lieder schon zu jenen Werken Schönbergs gehörten, denen der amerikanische Komponist John Adams – in Anspielung auf Schönbergs Theoriegebäude namens „Harmonielehre“ (1911) – auf spektakuläre Weise anno 1985 mit einem gleichnamigen, großformatigen Orchesterwerk offen widerspricht?

Arnold Schönberg

Vier Lieder op. 22

Gesangstexte

Seraphita

Erscheine jetzt nicht, traumverlornes Angesicht,
mir windverschlagen auf des Lebens wilder See.
Sei meine Fahrt auch voll von finster Sturm und Weh:
hier jetzt vereinen oder küssen wir uns nicht!
Sonst löscht die laute Angst der Wasser vor der Zeit
das helle Leuchten deines Angedenkens Stern,
der durch die Nächte herrscht - bleib von mir fern
in deines Ruheortes Heiterkeit.

Doch wenn der Sturm am höchsten geht und kracht,
zerrissen See und Himmel, Mond in meiner Nacht!
Dann neige einmal dem Verzweifelten dich dar,
laß deine Hand (wenn auch zu spät nun)
hilfbereit noch gleiten auf mein fahles Aug und sinkend Haar.
Eh große Woge siegt im letzten leeren Streit!

Ernest Dowson (1867-1900), deutsch von Stefan George (1868-1933)

Alle welche dich suchen

Alle, welche dich suchen
versuchen dich.
Und die so dich finden,
binden dich an Bild und Gebärde.

Ich aber will dich begreifen,
wie dich die Erde begreift;
mit meinem Reifen reift dein Reich.
Ich will von dir keine Eitelkeit, die dich beweist.
Ich weiß, daß die Zeit anders heißt als du.

Tu mir kein Wunder zulieb.
Gib deinen Gesetzen recht,
die von Geschlecht zu Geschlecht
sichtbarer sind.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Mach mich zum Wächter

Mach mich zum Wächter deiner Weiten,
mach mich zum Horchenden am Stein,
gib mir, die Augen auszubreiten
auf deiner Meere Einsamsein;

Laß mich der Flüsse Gang begleiten
aus dem Geschrei zu beiden Seiten
Weit in den Klang der Nacht hinein.

Schick mich in deine leeren Länder,
durch die die weiten Winde gehn,
wo große Klöster wie Gewänder
um ungelebte Leben stehn.

Dort will ich mich zu Pilgern halten,
von ihren Stimmen und Gestalten
durch keinen Trug mehr abgetrennt,
und hinter einem blinden Alten
des Weges gehn, den keiner kennt.

Rainer Maria Rilke

Vorgefühl

Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muß sie leben,
während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
Die Türen schließen noch sanft, und in den Kaminen ist Stille;
die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch schwer.

Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer.
Und breite mich aus, und falle in mich hinein
und werfe mich ab und bin ganz allein in dem großen Sturm.

Rainer Maria Rilke

John Adams

„Harmonielehre“ für Orchester

Minimal anders musizieren

Darf man in einem Konzert vier Tage vor dem 150. Geburtstag eines namhaften Jubilars dessen musikalisches Gedankengebäude musikalisch von Grund auf hinterfragen? Wir tun es mit der klingenden „Harmonielehre“ von John Adams, welche auf die ausformulierte „Harmonielehre“ von Arnold Schönberg unmittelbar antwortet.

John Adams‘ „Harmonielehre“ ist eine Parodie – ohne jede Absicht, das historische Pendant lächerlich zu machen. Etwa Schönbergs „Gurrlieder“ oder Sibelius‘ Vierte Sinfonie zitierend, begibt sich das großformatige, dreisätzige Orchesterwerk des Amerikaners Adams auf den Weg, die Errungenschaften des sogenannten Minimalismus, einer vornehmlich in den USA gepflegten Kompositionstechnik des 20. Jahrhunderts, mit der harmonischen und ausdrucksstarken Welt der Spätromantik der Jahrhundertwende zu verbinden. „Die Nuancen von Mahler, Sibelius, Debussy und dem jungen Schönberg sind in diesem seltsamen Stück allgegenwärtig. Dies ist ein Werk, das in einem, wie ich vermute, ‚postmodernen‘ Geist auf die Vergangenheit blickt, aber im Gegensatz zu ‚Grand Pianola Music‘ oder ‚Nixon in China‘ tut es dies völlig ohne Ironie“, erklärt John Adams seine Absicht.

Aufstand eines Eingeschüchterten

Gleichwohl macht John Adams keinen Hehl daraus, dass er mit dem späteren Schönberg nicht übereinstimmt. Angeregt durch seinen Lehrer Leon Kirchner, der seinerseits in den 1940-Jahren noch von Schönberg unterrichtet worden war, verstand er, dass der in die USA emigrierte Wiener Musiker ein Meister in demselben Sinne wie Bach, Beethoven und Brahms gewesen war.

„Diese Vorstellung an sich gefiel mir damals und tut es noch immer. Doch Schönberg stellte für mich auch etwas Verdrehtes und Verzerrtes dar. Er war der erste Komponist, der die Rolle des Hohepriesters einnahm, ein kreativer Geist, dessen ganzes Leben unweigerlich gegen den Strich der Gesellschaft ging, fast so, als hätte er die Rolle des Störenfrieds gewählt. Trotz meines Respekts und sogar meiner Einschüchterung durch die Person Schönbergs hielt ich es für ehrlich, zuzugeben, dass ich den Klang der Zwölftonmusik zutiefst verabscheute.Seine Ästhetik war für mich eine Überreife des Individualismus des 19. Jahrhunderts, in dem der Komponist eine Art Gott war, zu dem der Zuhörer wie zu einem sakramentalen Altar kam...“

„...Mit Schönberg war die ‚Qual der modernen Musik‘ geboren worden, und es war kein Geheimnis, dass das Publikum für klassische Musik im 20. Jahrhundert rapide schrumpfte, nicht zuletzt wegen der akustischen Hässlichkeit so vieler neuer Werke, die geschrieben wurden.“

John Adams

So gesehen, ist es nachvollziehbar, warum sich Adams (und mit ihm eine große Zahl von zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten) trotz der Omnipräsenz von Schönbergs Denkmustern an europäischen Universitäten und auf zeitgenössischen Musikfestivals (u.a. Pierre Boulez und György Ligeti) radikal abzugrenzen versuchte. „Schönberg abzulehnen“, erklärte John Adams, „war wie Parteinahme für die Philister, und mich von dem Modell, das er repräsentierte, zu lösen, erforderte einen Akt enormer Willenskraft. Es überrascht nicht, dass meine Ablehnung die Form einer Parodie annahm …“ Ein schlauer Fuchs schnappt sich Tauben statt Trauben.

Sphären und Harmonien

Hämmernde e-Moll-Akkorde eröffnen den ersten Teil der „Harmonielehre“, als ob sie von Anbeginn die Unsterblichkeit der Tonalität mit gewaltigen Akkordsalven feiern wollten.

Aber John Adams verbindet das faszinierende rhythmische Feuerwerk mit einem surrealen Traum, den er kurz zuvor gehabt hat: „Ein riesiger Supertanker hob von der Oberfläche der Bucht von San Francisco ab und schoss wie eine Saturnrakete in den Himmel.“ Die hohe Energie des Anfangs kehrt am Ende des bogenförmigen ersten Teils noch einmal wieder. Dazwischen mäandert ein langer „Sehnsuchtsabschnitt“ (Adams) durch die schwerelosen Weiten des Weltalls.

Die von Wagners „Parsifal“ her bekannte Figur des Anfortas/Amfortas, des Königs, dessen Wunden nie heilen können, hat Adams tief berührt, nachdem er sich mit den tiefenpsychologischen Deutungen der Figur durch C.G. Jung auseinandergesetzt hatte.

Anfortas erscheint bei Adams im zweiten Teil der „Harmonielehre“ als kritischer Archetypus, der einen Krankheitszustand der Seele verkörpert, den er aus einem Gefühl der Ohnmacht und Depression heraus verflucht:

„In diesem langsamen, stimmungsvollen Satz mit dem Titel ‚Die Anfortas-Wunde‘ schwebt ein langes, elegisches Trompetensolo über einem zart wechselnden Tableau aus Molldreiklängen, die wie geisterhafte Gestalten von einer Instrumentenfamilie zur anderen übergehen. Zwei gewaltige Höhepunkte erheben sich aus der ansonsten melancholischen Landschaft, wobei der zweite eine offensichtliche Hommage an Mahlers letzte, unvollendete Sinfonie ist.“

Frech und geradezu provokatorisch lautet der letzte Teil des von der Exxon Corporation, der Rockefeller Foundation und dem National Endowment for the Arts finanzierten Auftragswerkes: „Meister Eckhardt und Quackie“. „Der zappaeske Titel bezieht sich auf einen Traum, den ich kurz nach der Geburt unserer Tochter Emily hatte, die im Kleinkindalter kurz ‚Quackie‘ genannt wurde. In dem Traum reitet sie auf der Schulter des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhardt, während die beiden zwischen den Himmelskörpern schweben wie Figuren, die auf die hohen Decken alter Kathedralen gemalt sind. Die zarte Berceuse, ein Wiegenlied, das so luftig, heiter und glückselig ist, wie die Anfortaswunde erdverhaftet, verschattet und trostlos ist, nimmt allmählich an Geschwindigkeit und Masse zu und gipfelt in einem Tsunami aus Blechbläsern und Schlagzeug. Orgelgleich triumphiert am Ende strahlendes Es-Dur.

Texte von Steffen Georgi ©

Anlässlich des 200. Geburtstag von Anton Bruckner entstand in Zusammenarbeit mit Apple Music und Platoon eine neue Aufnahme von seiner 7. Sinfonie unter der Leitung von RSB-Chefdirigent Vladimir Jurowski. Die Sinfonie ist auf Apple Music Classical und ab dem 13.09. dann auf allen üblichen Streaming-Anbietern verfügbar.

Kurzbiographien & Abendbesetzung

Vladimir Jurowski

Vladimir Jurowski ist seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB). 2023/2024 setzten seine Konzerte, Tourneen und Aufnahmen die Glanzpunkte der Jubiläumssaison „RSB100“. Sein aktueller Vertrag in Berlin läuft bis 2027. Parallel dazu ist er seit 2021 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.

Vladimir Jurowski, einer der gefragtesten Dirigenten unserer Zeit, der weltweit für seine innovativen musikalischen Interpretationen und ebenso für sein mutiges künstlerisches Engagement gefeiert wird, wurde 1972 in Moskau geboren und absolvierte den ersten Teil seines Musikstudiums am Music College des Moskauer Konservatoriums. 1990 siedelte er mit seiner Familie nach Deutschland über und setzte seine Studien an den Musikhochschulen in Dresden und Berlin fort. 1995 debütierte er beim irischen Wexford Festival mit Rimski-Korsakows „Mainacht“ und 1996 am Royal Opera House Covent Garden mit „Nabucco“. Anschließend war er Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin (1997-2001).

Bis 2021 arbeitete Vladimir Jurowski fünfzehn Jahre lang als Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra (LPO) und wurde inzwischen zu dessen „Conductor Emeritus“ ernannt. In Großbritannien leitete er von 2001 bis 2013 als Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera eine breite Palette von hochgelobten Produktionen. Seine enge Verbindung zum britische Musikleben wurde im Frühjahr 2024 von König Charles III. dadurch gewürdigt, dass er Vladimir Jurowski zum Honorary Knight Commander of the Most Excellent Order of the British Empire (KBE) ernannte. Im April 2024 kehrte Vladimir Jurowski als Gast nach London zurück, um mit dem LPO in der Royal Festival Hall den konzertanten Aufführungszyklus von Wagners „Ring“ mit der „Götterdämmerung“ zu vollenden.

Ebenfalls bis 2021 war er Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters „Jewgeni Swetlanow“ der Russischen Föderation und Principal Artist des Orchestra of the Age of Enlightenment in Großbritannien, außerdem Künstlerischer Leiter des Internationalen George-Enescu-Festivals in Bukarest. Darüber hinaus arbeitet er seit vielen Jahren mit dem Ensemble unitedberlin zusammen. Die Auftritte in Russland hat Vladimir Jurowski seit Februar 2022 ausgesetzt. Ukrainische Werke sind und bleiben Bestandteil seines Repertoires ebenso wie die Werke russischer Komponisten.

Fleur Barron

Die singapurisch-britische Mezzosopranistin Fleur Barron ist derzeit „Rising Star“ des Amsterdamer Concertgebouw und künstlerische Partnerin des Orquesta Sinfonica del Principado de Asturias. Kürzlich triumphierte sie beim San Francisco Symphony Orchestra in der Titelrolle von Saariahos "Adriana Mater" in einer Produktion unter der Leitung von Peter Sellars und Esa-Pekka Salonen, die diesen Monat bei Deutsche Grammophon erschienen ist.

Sie hat mit bedeutenden Orchestern wie dem London Symphony Orchestra, dem Orchestre de Paris, der Tschechischen Philharmonie und dem Barcelona Symphony Orchestra sowie mit Dirigenten wie Semyon Bychkov, Ludovic Morlot, Barbara Hannigan, Mark Elder und Kirill Petrenko gearbeitet. 

Zu den Opernerfolgen zählen Ottavia ("L'incoronazione di Poppea") beim Festival von Aix-en-Provence, Penelope (Monteverdis "Il ritorno d'Ulisse in patria") am Teatro Real in Madrid sowie die Titelrollen in "Carmen", Purcells "Dido and Aeneas" und Hasses "Marc Antonio e Cleopatra".

Zu den kommenden Höhepunkten gehören unter anderem  „Das Lied von der Erde“ mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und dem Schwedischen Radiosymphonieorchester unter Daniel Harding sowie mit Kent Nagano in der Elbphilharmonie, Mahlers „Des Knaben Wunderhorn“ mit Nathalie Stutzmann und dem Atlanta Symphony Orchestra sowie eine sechsmonatige Konzerttournee in den USA mit dem Pianisten Kunal Lahiry, darunter ihr Debüt in der Carnegie Hall.

Fleur  Barron engagiert sich für die Förderung des interkulturellen Dialogs durch Musik und setzt sich leidenschaftlich für ein inklusives Kammermusikprogramm ein, das die Stimmen der verschiedenen Gemeinschaften stärkt. 

Fleur wuchs in Hongkong und New York auf und besitzt Abschlüsse der Columbia University (B.A. Comparative Literature) und der Manhattan School of Music (M.M. Vocal Performance).

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Wolters, Rainer
Nebel, David
Herzog, Susanne
Neufeld, Andreas
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Tast, Steffen
Pflüger, Maria
Morgunowa, Anna
Feltz, Anne
Polle, Richard
Behrens, Susanne
Stangorra, Christa-Maria
Scilla, Giulia
Leung, Jonathan
Marquard, David

Violine 2

Contini, Nadine
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Seidel, Anne-Kathrin
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Hetzel de Fonseka, Neela
Manyak, Juliane
Bara-Rast, Ania
Palascino, Enrico
Shalyha, Bohdan
Sieradzki, Kinneret

Viola

Rinecker, Lydia
Adrion, Gernot
Zolotova, Elizaveta
Markowski, Emilia
Drop, Jana
Doubovikov, Alexey
Inoue, Yugo
Yoo, Hyelim
Kantas, Dilhan
Olgun, Berkay
Maschkowski, Anastasia
Chomarat, Abigail

Violoncello

Hornig, Arthur
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Kipp, Andreas
Paetsch, Raphaela
Moreno Yanez, Ana

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Figueiredo, Pedro
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Gazale, Nhassim
Thüer, Milan
Moon, Junha

icon

Flöte

Brandkamp, Kornelia
Döbler, Rudolf
Schreiter, Markus
Dallmann, Franziska
Wassermeyer, Henrike

Oboe

Bastian, Gabriele
Vogler, Gudrun
Herzog, Thomas
Danan, Emmanuel
Breyes, Matilde

Klarinette

Kern Michael
Pfeifer, Peter
Korn, Christoph
Simpfendörfer, Florentine
Zacharias, Ann-Kathrin
Perez Inesta, Miguel

Fagott

Kofler, Miriam
Voigt, Alexander
Königstedt, Clemens
Shin, Ysol

Horn

Kühner, Martin
Klinkhammer, Ingo
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Dörpholz, Florian
Jansky, Lorenz
Gruppe, Simone
Hofer, Patrik
Bucka, Jonathan

Posaune

Manyak, Edgar
Veres, Vladimir
Vörös, József

Tuba

Neckermann, Fabian
Gionanidis, Vikentios

Harfe

Edenwald, Maud
Viechtl, Anna

Schlagzeug

Thiersch, Konstantin
Azers, Juris
Reddemann, Ingo
Ellwanger, Johannes
Schmid, Adrian
Mertens, Max

Pauke

Wahlich, Arndt

Celesta

Gneiting, Heike

Klavier

Syperek, Markus

Kooperationen

Konzert im Rahmen des Musikfestes Berlin

Das Konzert wird am 16.09.2024 um 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.

30 Jahre Rundfunk-Orchester und -Chöre gGmbH Berlin

Was 1994 als Verbund der klassischen Rundfunk-Ensembles im vereinten Berlin begann, ist zu einer höchst erfolgreichen und stabilen kulturellen Institution in der deutschen Hauptstadt und im bundesweiten und internationalen Musikleben gewachsen. Feiern Sie mit uns bei den Jubiläumskonzerten der vier Ensembles in der Berliner Philharmonie!

Bild- und Videorechte

Portrait Vladimir Jurowski © Peter Meisel
Portraits Fleur Barron © Viktoria Caddisch & Kevin Condon
Bilder RSB-Probe © Peter Meisel

https://www.youtube.com/watch?v=zHDJQ_kfmCg