So 01.12.2024 Vladimir Jurowski

20:00 Uhr Philharmonie

Arnold Schönberg

Thema und Variationen für Orchester op. 43b

Ludwig van Beethoven

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 c-Moll op. 37

Pause

Johannes Brahms

Serenade Nr. 1 D-Dur op. 11

Besetzung

Vladimir Jurowski, Dirigent
Mitsuko Uchida, Klavier
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Ralf Sochaczewsky, Assistent des Chefdirigenten

Das Konzert wird am 22. Dezember 2024 um 21.05 Uhr auf Deutschlandfunk übertragen.

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Südfoyer, Steffen Georgi

Große Fußstapfen

Für das Klavierkonzert Nr. 3 von Ludwig van Beethoven braucht es eine wissende Künstlerin, die imstande ist, die besondere lyrische Qualität dieses Meisterwerkes adäquat wiederzugeben. Mitsuko Uchida bringt genau diese lebenserfahrene „Klugheit des Herzens“ mit. Wir freuen uns sehr über ihr spätes Debüt beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin!

Wie den heißen Brei umschlich Johannes Brahms die Saurierspuren des verehrten Beethoven, seitdem Robert Schumann ihn aufgefordert hatte, in eben diese Fußstapfen zu treten. Zu den Annäherungsversuchen gehörten das erste Klavierkonzert, verschiedenen Kammermusikgattungen und eben die beiden Serenaden für Orchester. Vladimir Jurowski wird klingend aufzeigen, welch immense Qualität in der Musik der Serenade Nr. 1 steckt – jenseits aller „Sinfonievorbereitung“.

Einer, der wiederum Brahms nacheiferte, war der inzwischen 150-jährige Arnold Schönberg. Das enfant terrible der Musik des frühen 20. Jahrhunderts legte ab etwa 1934 überraschend geläuterte Werke vor, die den Schönbergschen Zuwachs an innovativen Kompositionstechniken nicht leugnen, sich aber mit Lust und Freude auch an das tonale Davor erinnern, als Schönberg noch ein glühender Apologet von Brahms und überhaupt der Romantik und der Klassik gewesen ist. Thema und Variationen für Orchester aus dem Jahre 1943 sind ein charmantes Beispiel für Schönbergs Umsetzung von Brahms‘ Gedanken der „entwickelnden Variation“.

Podcast "Muss es sein?"

Arnold Schönberg

Thema und Variationen für Orchester op. 43b

Schönberg, erfreulich

Variationen für Orchester op. 43b und Variationen für Blasorchester op. 43a, komponiert von Arnold Schönberg im Jahre 1943. Aber: „Keine der beiden Fassungen wird viel gespielt – unerklärlich, denn die Melodik des Werks und seine klare traditionelle Anlage machen es zu einer höchst erfreulichen Einführung in Schönberg im Allgemeinen.“ Die Feststellung von Malcom MacDonald aus dem Jahre 1976 gilt bis heute. Kann Schönberg erfreulich sein?

Arnold Schönberg ist ein Faszinosum der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Künstler, der das Hypertrophe und den Überschwang seiner Epoche sarkastisch geißelte, der – wie er selbst fatalistisch sagte – „ungenial“ dichtete, malte, Cello spielte und komponierte, der den Beifall in seinen Konzerten verbot, der in der Freiheit des amerikanischen Exils nach eigener Aussage verkümmerte. Ein Komponist, der sich autodidaktisch gebildet hatte, der seine Vorbilder Johann Sebastian Bach, Johannes Brahms und Gustav Mahler mystifizierte, um anschließend die gesamte bisherige Musiktheorie aus den Angeln zu heben und sich selbst harmonisch und tonal zu entwurzeln. Ein Lehrer, der von seiner Sendung durchdrungen war, der seinen Schülern unbedingten Gehorsam abverlangte, der wie ein strenger Guru Askese vorlebte und einforderte. Ein Freidenker, der das alles niederreißende und zerstörende Trauma seines Lebens erlitt, als er mit ansehen musste, wie seine erotischen Fantasien von der eigenen Ehefrau in die Tat umgesetzt wurden. Ein Jude, der zum Christentum konvertierte und nach der Flucht vor den Nationalsozialisten zurückkonvertierte zum Judentum. Ein Gottsucher, der über andere Suchende lästerte und der sein Heil nicht fand.

Entwurzelt

Ohne Zweifel, die Musik befand sich im Umbruch zu seiner Zeit, sie barst aus ihren alten Formen und Traditionen, war in der hergebrachten Form immer weniger geeignet, die gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen zu spiegeln. Schönberg fühlte dies, bereitete die Brüche mit vor und ging als einer der ersten Komponisten konsequente Schritte auf Neuland. Aber ohne ein einschneidendes, schier existentielles Motiv handelte er dabei genau so wenig wie Gustav Mahler, der 1910 in seiner zehnten Sinfonie den berühmten ersten Neun-Ton-Aufschrei der Musikgeschichte sekundenlang gefrieren ließ. Dieser Aufschrei hat einen ursächlichen Sinn und deshalb die bekannte katastrophale Wirkung!

Schönbergs Sprung ins kalte Wasser der Atonalität hingegen sei bloß der allfällige Aufbruch zu neuen Ufern gewesen? Dass auch diesem Sprung heftige Angriffe von außen vorausgingen, dass er ein purer Verzweiflungssprung war, wurde vor allem von Schönberg selbst geflissentlich verschwiegen.

„Die Glückliche Hand“ und „Erwartung“ wurden zu künstlerischen Ventilen des traumatischsten Ereignisses in Schönbergs Leben, gleichsam die aktive Sublimierung des damals für ihn beinahe unausweichlichen Freitodes. Diese Werke sollten mit herkömmlichen Mitteln auskommen? Niemals! Sie sind Dokumente des Schocks und schwemmen all die Verzweiflung über erfahrene Kränkung, Ratlosigkeit und Hilflosigkeit heraus. Solche Musik kann ganz unabhängig von ihrer Entstehungsepoche nicht schön sein im ästhetischen Sinne. Ohne dieses Eingeständnis bleiben alle Versuche, Schönbergs atonale Musik interessant, wichtig und wegweisend zu reden, halbherzig und unglaubwürdig. Ihr nicht zuzugestehen, dass sie Folge eines Schocks war, schadet ihrem Verständnis und damit ihrer Rezeption.

Die Selbstbefreiung

Gut 35 Jahre später komponiert Arnold Schönberg eine „Suite im alten Stile“ und noch einmal knapp zehn Jahre später jene Variationen für Orchester, die heute Abend auf dem Programm stehen.

1933 aus Berlin über Paris in die USA emigriert, als absehbar war, dass die Nationalsozialisten ihn seines Postens als Professor für Kompositionswissenschaft an der Preußischen Akademie der Künste aus rassistischen Gründen entheben würden, erlebte Schönberg als Exilant den ersten Winter in Boston hart und deprimierend. Im August 1934 erhielt er eine Einladung an die Sommermusikschule von Chautauqua, New York. Er versprach dem jungen New Yorker Kontrabassisten Martin Bernstein, ein Werk zu komponieren für die kommende Musikergeneration, die man in den Hochschul- und College-Orchestern der USA ausbildete. Dass am Ende kein Studentenorchester das Werk aus der Taufe heben und selbst eines der renommiertesten amerikanischen Orchester sich schwer damit tun würde, wollte Schönberg kaum wahrhaben.

Das gleiche gilt für die Variationen für Orchester op. 43. Carl Engel, Präsident des New Yorker Verlags Schirmer Inc., bat Schönberg 1943 um ein Stück, das von Schülern in Highschool-Bands gespielt werden sollte. Bald war klar, dass das Werk die Kapazitäten der meisten Highschool-Bands übersteigen würde. Folglich zögerte Schirmer, die Partitur zu veröffentlichen, weil sie wirtschaftlich unrentabel sei. Bereitwillig ging Schönberg daraufhin auf den Vorschlag von Felix Greissle ein, eine Bearbeitung für Orchester vorzunehmen. Die Orchesterfassung erklang erstmals am 20. Oktober 1944 durch das Boston Symphony Orchestra unter Serge Koussevitzky. Die Uraufführung der Blasorchesterfassung verzögerte sich bis 1947.

Verspielte Variationen

Strukturell hat sich Arnold Schönberg an den bekannten Haydn-Variationen von Johannes Brahms orientiert, hier wie dort gibt es ein Thema, sieben Variationen und ein Finale.

Schönberg hat sein Thema selbst erfunden, es kokettiert hörbar mit dem Stil von Militärmusikkapellen. Für die sieben so kurzen wie abwechslungsreichen Variationen greift er je nach Bedarf auf einzelne melodische und rhythmische Motive des Themas zurück.

Einmal sind es charmante Umspielungen, später eine markante rhythmische Figur, dann eine Klangfarbe, schließlich ein veritabler Kontrapunkt – ganz nebenbei nahezu atonal –, die den Reiz des kleinen Werkes ausmachen, welches seine Verortung in der Tonart g-Moll nie aufgibt. Korrekt und gewissenhaft wie stets, nummeriert Schönberg jeden einzelnen Takt, trägt akribisch Haupt- und Nebenstimmen in die Partitur ein und gibt detaillierte Interpretationsanweisungen.

Eine besondere Bewandtnis hat es mit der vierten Variation, denn sie ist ein Walzer. Gerade der Walzer hat für Schönberg von jeher eine spezielle Konnotation besessen. 1932 findet sich im 2. Akt des Opernfragmentes „Moses und Aaron“ ein orgiastischer Walzer, eine seiner packendsten Partituren überhaupt, eine „Orgie der Vernichtung und des Selbstmordes“. Nach der rituellen Schlachtung der vier Jungfrauen – ihre Todesseufzer sind musikalisch mit dem Walzerthema unterlegt – verwüsten die Menschen ihren eigenen Lebensraum, taumeln ins Feuer, stürzen sich von Klippen. Lustig erklingen das Reigenthema der zweiten Szene, das Kernmotiv der Gläubigen aus dem 1. Akt und nochmals das Walzerthema. Zuletzt paaren sich die Geilen auf dem Altar. Eine „erotische Orgie“ wird unter Walzerklängen abgefeiert, für Schönberg die perverseste aller Sünden.

Ein Glück, dass wir sie haben

Bei allem verbalen Verhau, mit dem Schönberg auch seine eigene späte tonale Musik noch umgeben sollte, schimmert eine anrührende Freude am Normalen, am Lebendigen, am Dazugehören aus ihren Partituren. Sei es, dass er die Suite oder die Variationen kleinredet mit der hochmütig herausgestellten Denunziation als Arbeit für musikalisch halbgebildete Schüler und noch nicht angstfreie Erwachsene, sei es, dass er sie spickt mit so pedantischen wie spitzbübischen Schwierigkeiten sowohl für Interpreten als auch für Hörer, sei es, dass er den Eindruck suggeriert, er habe sich gnädig auf das gestrige Niveau der volksmusikalisch Primitiven und unterentwickelten Noch-Nicht-Atonalen begeben – Schönberg hat es getan, er hat diese Werke komponiert. Und es hat ihm gut getan, wie es uns gut tut, weil es uns hilft, das Bild von ihm zu korrigieren.

„Ich kann sagen, ich bringe mein Leben elend zu. Seit zwei Jahren fast meide ich alle Gesellschaften, weil’s mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen: Ich bin taub.“

Beethoven an Gerhard Wegeler, 29. Juni 1801

Zuhören lernen

Minutenlang sitzt die Pianistin am Klavier, aufmerksam zuhörend, während allein das Orchester einen ausgedehnten Gedanken in c-Moll formuliert, ausbaut, kommentiert. Die Solistin lässt den facettenreichen Gesprächspartner in Ruhe zu Ende kommen. Dann greift sie ein. Ludwig van Beethoven erteilt eine Lehrstunde in effizienter Kommunikation. Was hier stattfindet an geduldigem Ausredenlassen, wachem Zuhören, ehrlichem Nachfragen, geistvollem Widersprechen, hilfreichem Ergänzen und einvernehmlichem Bekräftigen, das ist das Musterbeispiel eines kultivierten Dialoges. Um es überdeutlich zu sagen: Keine Spur von eiferndem Geschrei, Ins-Wort-Fallen, Rechthaberei, Aneinandervorbeireden. Dabei ist der erste Satz des dritten Klavierkonzertes alles andere als ein konfliktloses Geplätscher. Man meint des öfteren gar den fordernden kategorischen Imperativ zu vernehmen, wie er Beethovens Schicksalswerke in c-Moll so häufig prägt.

Wie geht das zusammen? Die Antwort liefert die Musik selbst. „Moral ist die Kraft der Menschen, die sich vor anderen auszeichnen, und sie ist auch die meinige“ hatte Beethoven im Jahr 1800 sein Ethos formuliert.

Beethoven – ein vollendeter Mozart?

Eine zweite Erklärung habe ich bei dem bedeutenden Beethoven-Forscher Harry Goldschmidt gefunden: „Beethovens drittes Klavierkonzert ist sein einziges in Moll. Um so erstaunlicher ist seine Nähe – zu Mozart... Tatsächlich wissen wir, dass er außer der Zauberflöte von Mozart nichts so hoch geschätzt hat wie die beiden Moll-Konzerte. Das d-Moll-Konzert hat er wiederholt öffentlich gespielt und zum ersten und letzten Satz sogar eigene Kadenzen komponiert. Das eigene c-Moll-Konzert ist gleichsam als die Summe dieser Beziehungen zu betrachten. Wie tief damals die Auseinandersetzung mit Mozart gegangen sein muss, zeigt namentlich auch seine zweite Sinfonie, in der sich die offenen und verschwiegenen Zauberflöten-Beziehungen dutzendfach nachweisen lassen und entscheidend auf die Konzeption aller vier Sätze gewirkt haben. Die Sinfonie trägt die Opuszahl 36, das Klavierkonzert 37. Beide Werke führte er zum ersten Mal am 5. April 1803 in Schikaneders neuerbautem Theater an der Wien auf, in dem er damals auch wohnte.“

Wenn davon ausgegangen werden kann, dass Beethoven die meisten seiner Werke in Gegensatzpaaren komponierte, so löst sich hiermit das Rätsel der vermeintlichen Einzelstellung des dritten Klavierkonzertes. Das Klavierkonzert in c-Moll also die dunkle Schwester der hellen D-Dur-Sinfonie? So einfach ist es nicht. Aber das c-Moll-Konzert ist ein Dokument des sinfonischen Durchdringens von Klavier- und Orchesterpart, wie es kein Komponist vor Beethoven bis dahin versucht hatte.

Das aufgewühlte Pathos ist zweifellos vom dämonischen Ton der Moll-Konzerte Mozarts inspiriert. Gleichwohl lässt sich nirgends die Wesensverschiedenheit der beiden Komponisten besser erkennen als hier, wo sie sich in leidenschaftlichem Moll-Dunkel scheinbar begegnen. Wenn Beethoven als Vortragsbezeichnung „dolce“ über das Seitenthema des ersten Satzes schreibt, so wird er damit nicht wirklich jene Süße und Zärtlichkeit meinen, die Mozart durchaus vertraut war. Gerade die motivischen Ähnlichkeiten und die eingangs erwähnte Art und Weise des Gedankenaustausches belegen, dass Beethoven mit keinem Geringeren als Mozart selbst hier einen Disput auf Augenhöhe führt. Mitunter nehmen sich die Figuren wie bewusste Varianten des anderen aus. Das ist viel, mehr als jedem anderen Zeitgenossen – außer Haydn – an geistiger Durchdringung zuzugestehen wäre.

Entrückung

Das Zeitmaß Largo, also breiter, schwerer noch als ein Adagio, schreibt Beethoven dem zweiten Satz vor. Die große Geste, der weite Atem beherrschen diesen weihevollen Gesang, der dennoch von geradezu rezitativischer Sprachnähe ist. Das eigentliche Wunder an diesem Largo ist jedoch seine vollkommen entrückte Tonart. Auf das c-Moll des Kopfsatzes folgt E-Dur. Von drei „b“ springt die Tonart über sieben Stufen auf vier Kreuze! Eine solche Rückung kommt bei Beethoven erst im „verrückten“ Spätwerk nochmals vor.

Für das Finale, ein Paradoxon in sich, nämlich der einzige humorvolle Satz in c-Moll, den Beethoven je geschrieben hat, kehrt er in beherztem Sprung über eine verminderte Septime in die Ausgangstonart zurück. Und weil’s so schön war, wird aus dieser Septime gleich das initiale Intervall des ganzen Rondo-Hauptthemas. „Zugleich muss aber dieser rettende Intervallsprung den Blick wieder auf Mozarts d-Moll-Konzert lenken, wo er eine nicht wegzudenkende Rolle ebenfalls im Rondo spielt“ (Goldschmidt).

Auch von Mozart übernommen ist der Kunstgriff der dramatischen Steigerung vor der Kadenz, die dem befreienden Kehraus in strahlendem Dur wirkungsvoll den Boden bereitet. Lasst uns aufeinander hören, miteinander reden, ruft der ertaubende Beethoven der Menge zu.

RSB-Aufführungen seit 1945

26. Juni 1949; Conrad Hansen, Klavier; Arthur Rother, Dirigent

29. Juni 1952; Hugo Steurer, Klavier; Hermann Abendroth, Dirigent

26. Februar 1956; Hugo Steurer, Klavier; Rolf Kleinert, Dirigent

5. Juni 1960; Adolf Drescher. Klavier; Rolf Kleinert, Dirigent

25. November 1963; Günter Kootz, Klavier; Rolf Kleinert, Dirigent

31. Oktober 1966; Dieter Zechlin, Klavier; Carl von Garaguly, Dirigent

8. März 1970; Dieter Zechlin, Klavier; Juri Alijew, Dirigent

17.+18. April 1993; Elena Bashkirova, Klavier; Hanns-Martin Schneidt, Dirigent

24.+25. April 1999; Rudolf Buchbinder, Klavier; Rafael Frühbeck de Burgos, Dirigent

20. November - 1. Dezember 1999 (Berlin, Nürnberg, Regensburg, Kiel); Elena Bashkirova, Klavier; Rafael Frühbeck de Burgos, Dirigent

4. September 2004; Lars Vogt, Klavier; Marek Janowski, Dirigent

30.+31. März 2008 (Köln, Eindhoven), Boris Berezowsky, Klavier; Marek Janowski, Dirigent

9. November 2016; Lukáš Vondráček, Klavier; Marek Janowski

24. September 2023; Rudolf Buchbinder, Leitung und Klavier

Johannes Brahms

Serenade Nr. 1 für großes Orchester D-Dur op. 11

Brahms

Nachtmusik der besonderen Art

Im Jahre 1953 war es, als das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Hermann Abendroth zum letzten Mal vor dem heutigen Konzert die Serenade Nr. 1 op. 11 von Johannes Brahms auf dem Programm hatte. Was beschert den beiden Orchesterserenaden von Brahms eine solche Außenseiterposition? Es ist das von Brahms selbst in die Welt gesetzte Attribut vom Unterwegssein, vom Noch-nicht-Angekommensein der beiden Werke op. 11 und op. 16. Aber widerspricht nicht die herrliche Musik ihrem Komponisten selbst und all jenen Nachschwätzern, die das selbstkritische Understatement von Brahms für einen unumstößlichen Autoritätsbeweis halten?

Vierundzwanzigjährig hatte Johannes Brahms im Sommer 1857 die Stelle als fürstlicher Klavierlehrer und Chorleiter in der Lippeschen Residenzstadt Detmold angetreten. Neben einer Fülle weltlicher Chormusik verdanken wir diesem Engagement die beiden Orchesterserenaden op. 11 und 16, die für die im Residenztheater stattfindenden Abonnementskonzerte entstanden sind. Der Konzertmeister der Detmolder Hofkapelle, Carl Bargheer, erinnerte sich: „Sonntags, wo Brahms und ich ganz frei waren, wurde stets eine große Wanderung in den Wald gemacht. Wir gingen dann, mit Proviant versehen, frühmorgens fort und suchten, mit möglichster Vermeidung gebahnter Wege, die schönsten Plätze im Walde auf. Hierbei hatten wir oft die Freude, uns an ein Rudel Hirsche recht nahe heranzuschleichen, und gerieten dabei so in Eifer, daß wir meist erst spät abends heimkehrten.“ In mehreren Stufen näherte sich Brahms in den Jahren 1857 bis 1859 der ersten Serenade in D-Dur an. Die Uraufführung der endgültigen Fassung leitete Joseph Joachim am 3. März 1860 in Hannover.

Perlen vom Wegesrand

Wie den sprichwörtlich heißen Brei umschlich Johannes Brahms jahrzehntelang zwei der „heiligen“ Gattungen der Klassiker: die Sinfonie und das Streichquartett. Fast 25 Jahre dauerte es, bis er 1876 seine erste Sinfonie vorlegte. Solange war es her, dass ihn sein verehrter älterer Freund Robert Schumann als Nachfolger Beethovens auf den Schild gehoben hatte. 20 Streichquartettentwürfe landeten im Laufe der Jahre als Papierschnipsel in Flüssen und Bächen, zum Opfer gefallen der erbarmungslosen Selbstkritik ihres Autors, bevor Brahms 1873, im vierzigsten Lebensjahr, mit Opus 51 zwei Werke dieser Provenienz gelten ließ. Umso wertvoller erweisen sich die Früchte, welche zwar den Stempel als Durchgangsstationen auf dem Weg zu den Gattungen Streichquartett und Sinfonie erhalten haben, aber doch höchst eigenständige Werke von Brahms sind: neben etlichen anderen vor allem die beiden Streichsextette B-Dur op. 18 und G-Dur op. 36 sowie die Orchesterserenaden op. 11 und op. 16.

In all diesen Werken offenbart sich eine besondere Qualität von Brahms‘ Musik. Während Beethoven die Gattungen zugespitzt, ein für alle Mal befestigt und mit exemplarischen Meisterwerken ausgestattet hat, neigt Brahms in wichtigen musikalischen Parametern wie Form, Klang, Harmonie, Rhythmus zur Synthese, zur Vermittlung.

Kreise ziehen

Brahms agiert stets aus der Mitte heraus. Er vermeidet die Extreme, wann immer es geht. So eignet seiner Musik eine Vorliebe für die warmen Mittelstimmen, vokal (solistisch und im Chor) für den Alt, instrumental für die Bratsche, die Klarinette, das Horn. Zugleich denkt er den Orchestersatz bis in die Sinfonien hinein kammermusikalisch, betont das wogende Miteinander der Stimmen, individualisiert den Klang. Andererseits folgt die Kammermusik sinfonischen Prinzipien, ist selbstverständlich auf den Sonatensatz gegründet, wendet sich an das große Publikum, enthält sich aller selbstgefälligen Verspieltheiten. Die Qualität der motivisch-thematischen Arbeit erreicht bei Brahms ein derart hohes Niveau in Sachen Sorgfalt und Aufrichtigkeit, dass darin kein Platz ist für populistische Schaumschlägerei und billige Effekte. Es liegt auf der Hand, dass all jene Zahlreichen, welche mit derartigen „Vorzügen“ gewöhnlich hausieren gehen, ihm den abschätzigen Vorwurf des Altbackenen, Unattraktiven gemacht haben.

Auf dem Gebiet der musikalischen Form baut Brahms – nicht anders als etwa zur gleichen Zeit Tschaikowsky – vermittelnde Brücken zu den klassischen Gattungen Sinfonie oder Streichquartett, ausgehend von deren Vorgängern. So knüpft er mit den beiden Serenaden nicht nur dem Titel nach bei den unverfänglichen Gattungen Divertimento, Cassation und Notturno an. Die Serenade Nr. 1 erlebt mehrere Entwicklungsstufen von einem Oktett über ein Nonett, einer Fassung für kleines Orchester bis hin zum großen Orchester. Ursprünglich hat Brahms sie kammermusikalisch angelegt und als Nonett (Flöte, 2 Klarinetten, Fagott, Horn, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass) am 28. März 1859 in Hamburg uraufführen lassen. Bald entschließt er sich, die Serenade „in eine Sinfonie zu verwandeln. Ich sehe ein, dass das Werk so eine Zwittergestalt, nichts Rechtes ist. Ich hatte eine so schöne große Idee von meiner ersten Sinfonie, und nun!“, erfährt der Geiger und Freund Joseph Joachim. Am Ende handelt es sich um eine sechssätzige Komposition von einer guten Dreiviertelstunde Dauer, die Joseph Joachim als Novum in der Musikgeschichte, als eine „Sinfonie-Serenade“ feiert. Den Zusatz „Sinfonie“ tilgt Brahms bald wieder, was bleibt, ist das große sinfonische Orchester.

Die Experten diagnostizieren in der Serenade eine enge Verbindung zum Divertimentostil von Haydn und Mozart. In deren Serenaden fällt den Blasinstrumenten oft eine prominente Rolle zu, was mit ihrer Bestimmung als Abendmusiken unter freiem Himmel zu tun hat. Brahms‘ Serenaden sind hingegen mit deutlich sinfonischem Anspruch versehen und für den Konzertsaal gedacht.

Vorsätzlich unprätentiös

Das eröffnende Allegro molto nimmt sofort mit frischen Naturklängen einzelner Bläser über Bordunquinten der Streicher für sich ein. Morgenstimmung kommt auf, das „Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande“ aus Beethovens Pastorale scheint Brahms inspiriert zu haben. Zugleich kann das D-Dur-Hauptthema des Satzes die Verwandtschaft mit dem Finalethema der Sinfonie Nr. 104 von Joseph Haydns nicht leugnen. So klassizistisch klar die Wurzeln sich zeigen, so unverkennbar tönt Brahms‘ wohlvertraute Handschrift aus der Partitur. Etwa das Miteinander von Triolen und Duolen feiert einen ersten großen Auftritt.

Eine zweite Brahmsspezialität ereignet sich gleich danach im ersten Scherzo. Fortwährende Akzente auf unbetonten Taktzeiten und das Musizieren über die Taktstriche hinweg verwischen das Metrum und prägen den huschenden Charakter der Nachtmusik. Da sind die Synkopen und Hemiolen des Trios nur noch der augenzwinkernde I-Punkt auf der prächtigen d-Moll-Gestalt, die gleichwohl im Piano verklingt.

Gänzlich unsentimental und doch mit unsagbarer Wärme und Tiefe empfängt uns das Adagio non troppo, das Herzstück der Serenade. Die charakteristischen Mittelstimmeninstrumente Horn, Klarinette und Viola stimmen immer neue, weitgespannte Melodiebögen an. Vorangetrieben wird das Ganze von beharrlichen Punktierungen. Wer sich auf das Adagio einlassen kann, dem möchte diese Musik niemals enden wollen.

Szenenwechsel. Zwei turbulente Menuette wechseln im vierten Satz einander ab, eines für Holzbläserquartett und Violoncello, das andere für zwei Klarinetten und Streichtrio. Sogar der melancholische Tonfall hätte sicher auch dem Vorbild zur Verfügung gestanden: Wolfgang Amadeus Mozart. Noch ein Scherzo, es spielt dank des Hörnerklanges mit dem Genrebild der Jagd, wie es so manche klassische Serenade des 18. Jahrhunderts auszeichnet. Violen und Violoncelli weben emsig den Klangteppich für die schmetternden Hörner.

Im gestreckten Galopp reitet das finale Rondo-Allegro immer hin und her zwischen Mozart und Schumann. Wir erleben den jungen Brahms der D-Dur-Serenade ungewöhnlich ausgelassen, ein junger Mann, dem noch nicht die Schatten der späteren Jahre auf der Seele lasten, der dennoch längst seine ureigene musikalische Sprache gefunden hat.

Texte © Steffen Georgi

Kurzbiographien

Vladimir Jurowski

Vladimir Jurowski conducts.

Vladimir Jurowski ist seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB). Sein aktueller Vertrag in Berlin läuft bis 2027. Parallel dazu ist er seit 2021 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.

Vladimir Jurowski, einer der gefragtesten Dirigenten unserer Zeit, der weltweit für seine innovativen musikalischen Interpretationen und ebenso für sein mutiges künstlerisches Engagement gefeiert wird, wurde 1972 in Moskau geboren und absolvierte den ersten Teil seines Musikstudiums am Music College des Moskauer Konservatoriums. 1990 siedelte er mit seiner Familie nach Deutschland über und setzte seine Studien an den Musikhochschulen in Dresden und Berlin fort. 1995 debütierte er beim irischen Wexford Festival mit Rimski-Korsakows „Mainacht“ und 1996 am Royal Opera House Covent Garden mit „Nabucco“. Anschließend war er Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin (1997-2001).

Vladimir Jurowski hat Konzerte der bedeutendsten Orchester Europas und Nordamerikas geleitet, darunter die Berliner, Wiener und New Yorker Philharmoniker, das königliche Concertgebouworchester Amsterdam, das Cleveland und das Philadelphia Orchestra, die Sinfonieorchester Boston und Chicago, das Tonhalle-Orchester Zürich, die Sächsische Staatskapelle Dresden und das Gewandhausorchester Leipzig. Er gastiert regelmäßig bei den Musikfestivals in London, Berlin, Dresden, Luzern, Schleswig-Holstein und Grafenegg. Obwohl Vladimir Jurowski von Spitzenorchestern aus der ganzen Welt als Gastdirigent eingeladen wird, konzentriert er seine Aktivitäten inzwischen auf jenen geographischen Raum, den er unter ökologischem Aspekt mit vertretbarem Aufwand gut erreichen kann.

Die gemeinsamen CD-Aufnahmen von Vladimir Jurowski und dem RSB begannen 2015 mit Alfred Schnittkes Sinfonie Nr. 3. Es folgten Werke von Britten, Hindemith, Strauss, Mahler und erneut Schnittke. Vladimir Jurowski wurde vielfach für seine Leistungen ausgezeichnet, darunter mit zahlreichen internationalen Schallplattenpreisen. 2016 erhielt er aus den Händen des heutigen Königs Charles III. die Ehrendoktorwürde der Royal Philharmonic Society. 2020 wurde Vladimir Jurowskis Tätigkeit als Künstlerischer Leiter des George-Enescu-Festivals vom Rumänischen Präsidenten mit dem Kulturverdienstorden gewürdigt.

Mitsuko Uchida

Mitsuko Uchida ist eine der am meisten verehrten Künstlerinnen unserer Zeit. Sie ist bekannt als unvergleichliche Interpretin der Werke von Mozart, Schubert, Schumann und Beethoven sowie als Liebhaberin der Klaviermusik von Alban Berg, Arnold Schönberg, Anton Webern und György Kurtág. Sie war Musical America’s Artist of the Year 2022, ist Musikdirektorin des Ojai Music Festival 2024 und ist Carnegie Hall Perspectives-Künstlerin in den Saisons 2022/3, 2023/4 und 2024/5. Ihre jüngste Soloeinspielung von Beethovens Diabelli-Variationen wurde 2022 unter großem Beifall der Kritiker veröffentlicht, war für einen Grammy® Award nominiert und gewann 2022 den Gramophone Piano Award.

Seit vielen Jahren pflegt sie enge Beziehungen zu den renommiertesten Orchestern der Welt, darunter die Berliner Philharmoniker, das Royal Concertgebouw Orchestra, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das London Symphony Orchestra, das London Philharmonic Orchestra und – in den USA – das Chicago Symphony und das Cleveland Orchestra, mit denen sie kürzlich ihren 100. Auftritt in der Severance Hall feierte. Zu den Dirigenten, mit denen sie eng zusammengearbeitet hat, gehören Bernard Haitink, Sir Simon Rattle, Riccardo Muti, Esa-Pekka Salonen, Vladimir Jurowski, Andris Nelsons, Gustavo Dudamel und Mariss Jansons.

Seit 2016 ist Mitsuko Uchida künstlerische Partnerin des Mahler Chamber Orchestra, mit dem sie derzeit auf eine mehrjährige Tournee durch Europa, Japan und Nordamerika geht. Darüber hinaus gibt sie regelmäßig Liederabende in Wien, Berlin, Paris, Amsterdam, London, New York und Tokio und ist ein häufiger Gast bei der Salzburger Mozartwoche und den Salzburger Festspielen.

Mitsuko Uchida nimmt exklusiv für Decca auf, und ihre mehrfach preisgekrönte Diskographie umfasst die gesamten Klaviersonaten von Mozart und Schubert. Sie erhielt zwei Grammy® Awards – für Mozart-Konzerte mit dem Cleveland Orchestra und für ein Liederalbum mit Dorothea Röschmann – und ihre Aufnahme des Schönberg-Klavierkonzerts mit Pierre Boulez und dem Cleveland Orchestra wurde mit dem Gramophone Award für das beste Konzert ausgezeichnet.

Mitsuko Uchida ist Gründungsmitglied des Borletti-Buitoni Trust und Direktorin des Marlboro Music Festival. Sie ist Trägerin der Goldenen Mozart-Medaille des Mozarteums Salzburg und des Praemium Imperiale der Japan Art Association. Außerdem wurde sie mit der Goldmedaille der Royal Philharmonic Society und der Wigmore Hall Medal ausgezeichnet und erhielt die Ehrendoktorwürde der Universitäten Oxford und Cambridge. Im Jahr 2009 wurde sie zur Dame Commander of the Order of the British Empire ernannt.

The RSB in the Philharmonie Berlin, Photo: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Wolters, Rainer
Herzog, Susanne
Neufeld, Andreas
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Kynast, Karin
Morgunowa, Anna
Feltz, Anne
Polle, Richard
Pflüger, Maria
Stangorra, Christa-Maria
Ries, Ferdinand
Stoyanovich, Sophia
Rönnebeck Luisa
Björnsson, Petur

Violine 2

Contini, Nadine
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Seidel, Anne-Kathrin
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Manyak, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Bara-Rast, Ania
Palascino, Enrico
Shalyha, Bohdan
Hagiwara, Arisa
Wehmschulte, Felicitas

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Markowski, Emilia
Drop, Jana
Doubovikov, Alexey
Inoue, Yugo
Yoo, Hyelim
Kantas, Dilhan
Yu, Yue
Olgun, Berkay

Violoncello

Hornig, Arthur
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Meiser, Oliwia

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Gazale, Nhassim
Moon, Junha
Yeung, Marco

Flöte

Schaaff, Ulf-Dieter
Schreiter, Markus
Dallmann, Franziska

Oboe

Bastian, Gabriele
Grube, Florian
Herzog, Thomas

Klarinette

Link, Oliver
Pfeifer, Peter
Korn, Christoph

Fagott

You, Sung Kwon
Königstedt, Clemens
Shin, Ysol

Horn

Kühner, Martin
Klinkhammer, Ingo
Mentzen, Anne
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Dörpholz, Florian
Ranch, Lars
Niemand, Jörg

Posaune

Hölzl, Hannes
Vörös, József
Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Percussion

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Morbitzer, Wolfgang
Schweda, Tobias
Mertens, Max

Pauke

Wahlich, Arndt

Kooperation

Bild- und Videorechte

Orchesterbilder © Peter Meisel
Portrait Mitsuko Uchida © Justin Pumfrey