Digitales Programm

So 01.10.2023 Funkkonzert

19:30 Haus des Rundfunks

Musik aus den Schatzkammern der Rundfunkarchive – Konzert zu Ehren des 150. Geburtstages von Wsewolod Meyerhold (1874 – 1940)

Michail Gnessin

„Jüdisches Orchester auf dem Ball beim Bürgermeister“ – Groteske op. 41, Musik zur Komödie „Der Revisor“ von Gogol

Wissarion Schebalin

Musik zum Schauspiel „Der steinerne Gast“ von Puschkin

Pause

Dmitri Schostakowitsch

„Die Wanze“ – Suite aus der Schauspielmusik zur gleichnamigen Komödie von Majakowski op. 19

Besetzung

Vladimir Jurowski, Dirigent

Svetlana Mamresheva, Stimme

Kirill Serebrennikov, Moderation im Gespräch mit Vladimir Jurowski

Kinderchor der Komischen Oper Berlin

Vocalconsort Berlin

Azim Karimov, Assistent des Chefdirigenten

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Das Konzert wird am 03.10.2023 um 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.

 

Musik ist Theater – In memoriam Wsewolod Meyerhold

Spätestens seit Richard Wagner hat der Gedanke des Gesamtkunstwerkes – welches alle Ebenen künstlerischer Aussage nicht nur miteinander verbindet, sondern regelrecht amalgamiert, die Ebenen ineinander aufgehen lässt – die Komponisten, Dichter und Regisseure nicht mehr losgelassen. Gerade russische Regisseure des frühen 20. Jahrhunderts, Stanislawski, Eisenstein, Meyerhold, haben diesen Gedanken in die Gegenwart getragen.

Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (1874-1940) ist ein Vorreiter des modernen sowjetischen Theaters. Sein Charisma, etwa dem von Max Reinhardt oder Gustaf Gründgens in Deutschland vergleichbar, fesselte Künstler aller Couleur und ließ sie sich um ihn scharen, ja sich um ihn reißen. Meyerhold stand für ein Theaterkonzept, das ausdrücklich nicht zwischen Oper und Schauspiel, zwischen Hören und Sehen unterscheiden wollte. Visuelle und akustische Eindrücke sollten für den Zuhörer/Zuschauer nicht mehr getrennt wahrgenommen werden. „Ein Musikdrama muss so aufgeführt werden, dass sich der Zuhörer-Zuschauer keine Sekunde lang fragt, warum die Schauspieler dieses Drama singen und nicht sprechen.“ Namentlich der Musik räumte Meyerhold allergrößten Raum in seinen Inszenierungen ein. Mehr noch, er ließ die Musik Teile der Handlung erzählen und richtete sein Regiekonzept nach der musikalischen Dramaturgie aus. Auch die Libretti, mit denen er geschickt die in der jungen Sowjetunion erbittert diskutierte Kluft zwischen den literarischen Klassikern und den Avantgardisten überbrückte, orientierten sich an musikalischen Parametern.

Texte © Steffen Georgi

Michail Gnessin

„Jüdisches Orchester auf dem Ball beim Bürgermeister“ – Groteske op. 41, Musik zur Komödie "Der Revisor" von Gogol

„Spucke nicht in den Spiegel, wenn dich daraus eine Fratze ansieht.“

Russisches Sprichwort

Das heutige Programm hat Vladimir Jurowski rund um den großen Theatermann Wsewolod Meyerhold gebaut. Dessen strikt musikaffines Denken hat ihm dabei denkbar günstig in die Hände gespielt. Idealerweise beginnt das Konzert mit einem Werk von Michail Fabianowitsch Gnessin. Mit diesem Komponisten pflegte Meyerhold zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen besonders intensiven kreativen Austausch, galt Gnessin doch als Verfechter des „musikalischen Erzählflusses im Drama“. Gemeint ist, dass ein poetischer Text Sprache bleiben kann, nicht künstlich zum Rezitativ oder zum Gesang umgewandelt werden muss, um dem Text dennoch jederzeit die Qualität von Musik zu geben – wenn er nach den Gesetzen der Musik gebaut ist und folglich wie dieselbe funktioniert.

Isaak Glikman fügt in seinem Buch „Meyerhold und das Musikalische Theater“ (Leningrad, 1989) hinzu: „Diese Theorie interessierte Meyerhold, der auf der dramatischen Bühne nach einer Synthese von Wort und Musik suchte, und erregte auch die Aufmerksamkeit von Stanislawski. Im Jahr 1908 wurde in Meyerholds Wohnung in St. Petersburg ein Studio mit dem Namen ‚Studio auf der Schukowskaja‘ eröffnet. Dort wurden Kurse für Chor- und Musiklektüre abgehalten. Meyerholds engster Mitarbeiter im ‚Studierstudio‘ war M. F. Gnesin.“ Gnessin schwärmte 1919 gegenüber Meyerhold: „Lieber, lieber Wsewolod Emiljewitsch! Unsere gemeinsame Arbeit im Studio ist die schönste Erinnerung in meinem Leben – das Einzige, was mir schwerfiel war, mich davon zu trennen.“

Meyerhold seinerseits hielt Gnessins Verdienste stets hoch: „Seit 1908 begleitet mich M. F. Gnessin auf dem Weg zur Gründung einer Schauspielschule. Die musikalische Ausrichtung unseres Theaters ist nicht nur das Werk von mir, sondern auch das von Gnessin.“ (8. März 1935)

1926 lud Meyerhold den befreundeten Komponisten Gnessin ein, die Musik für seine Inszenierung von Gogols „Der Revisor“ zu komponieren. Diese zweite Zusammenarbeit der beiden Künstler (nach Sophokles‘ „Oedipe“, 1915) verkörperte das gemeinsame Konzept einer musikalisch durchdrungenen Bühnenhandlung. Gegenseitig regten sie sich zu bestimmten Szenarien an, diskutierten über den Charakter, die Farbe, das Tempo sowohl der Musik als auch des Bühnengeschehens. „Der Revisor“ war mit über einhundert Aufführungen von 1926 bis zur zwangsweisen Schließung von Meyerholds Theater durch die sowjetische Kulturbürokratie, bis 1938, die erfolgreichste Klassikerinszenierung, die der Meister je auf die Bühne gebracht hatte. Am Ende war es der Regisseur, der den Komponisten dazu veranlasste, aus der Tragikomödie die Musik für die Nachwelt zu retten, indem er die Extraktion der Orchestersuite „Das jüdische Orchester auf dem Ball des Bürgermeisters“ vorschlug.

Panik im Rathaus

Ein Revisor, ein Inspektor des Staates, hat sich angekündigt. Inkognito werde er kommen und das öffentliche Leben in dem Provinznest inspizieren. Hurtig werden bei Gericht, im Krankenhaus, in den Schulen und auf den Straßen kosmetische Handlungen vorgenommen, um ein funktionierendes Gemeinwesen vorzutäuschen. Da entdecken die beiden Beamten Bobtschinski und Dobtschinski im Wirtshaus einen Fremden mit hauptstädtischen Manieren, den sie prompt für den staatlichen Aufpasser halten. Der Tross der Korruption rollt an, schmeichelt, schmiert und scharwenzelt um den vermeintlichen Machtmenschen herum. Aber der ist bloß Chlestakow, ein kleiner Beamter auf der Flucht vor seinen Gläubigern, der das heruntergekommene Gastzimmer, das er bewohnt, noch nicht einmal bezahlen kann. Chlestakow glaubt schon, er werde verhaftet, als sich der Stadthauptmann in voller Montur in sein Zimmer schiebt. Doch der serviert ihm untertänigst 400 Rubel und bietet ihm Kost und Logis in seinem eigenen Haus an… Das alte Spiel um Obrigkeitshörigkeit, um das Ausplündern öffentlicher Kassen und dreisten Betrug nimmt seinen Lauf – ein Schelm, der dabei an etwas anderes denkt als an das russische Zarenreich, dem Nikolai Gogol einst den Revisor aufgebrummt hat.

Wer war Michail Gnessin?

Mikhail Gnessin wurde in einer russischen Rabbinerfamilie geboren, wo Musik eine herausragende Rolle spielte. Er studierte Komposition in St. Petersburg u.a. bei Rimski-Korsakow und Glasunow. Aufenthalte in Berlin, Paris und Palästina erweiterten seinen Horizont. Michails Schwester Jelena Fabianowna Gnessina, eine Pianistin, Komponistin und Hochschullehrerin, gründete 1895 die bis heute berühmte Gnessin-Musikschule in Moskau.

Michail Gnessin komponierte mehr als 80 Werke unterschiedlicher Gattungen, wobei ihm stets die Einbeziehung der jüdischen Volksmusiktradition am Herzen lag. Auch in der so humorvollen wie grotesken Bühnenmusik zu Gogols „Revisor“, aus der heute Abend die von Meyerhold angeregte Suite erklingt, ist das jüdische Idiom unüberhörbar. Wie in der traditionellen Klezmer-Musik dominieren Klarinette und Violine. Auf ein pompöses Begrüßungszeremoniell folgen eine Reihe von Tänzen, die das jüdische „Lachen unter Tränen“ vielsagend interpretieren. An der ersten Aufführung der Suite war übrigens der junge Dmitri Schostakowitsch als Pianist beteiligt.

Wissarion Schebalin

Musik zum Schauspiel „Der steinerne Gast“ von Puschkin

„Wissarion Jakowlewitsch Schebalin hat nach eigenen Angaben viel von Meyerhold gelernt...“

„...Der künstlerische Einfluss des Regisseurs auf das musikalische und dramatische Denken des jungen Komponisten war stark und fruchtbar, was sich später in seiner Oper ‚Der Widerspenstigen Zähmung‘ prächtig manifestierte.“ (Isaak Glikman, aus: „Meyerhold und das Musikalische Theater“, Leningrad 1989)

Meyerhold lud den umfassend gebildeten – er las Goethe, Heine, Vergil und Catull im Original – und von Nikolai Mjaskowski musikalisch bestens vorbereiteten Konservatoriumsabsolventen Schebalin 1929 ein, die Musik für das Stück „Kommandeur 2“, ein Versepos über die Ereignisse des Bürgerkrieges, zu komponieren. Meyerhold schätzte die Musik Schebalins sehr hoch ein und gedachte ihrer 1936, als er den Komponisten in dem berühmten Artikel „Meyerhold gegen den Meyerholdismus“ gegen Anfeindungen verteidigte: „Als ich in Moskau hörte, dass Schebalin fast als Hauptschuldiger des Formalismus in der Musik galt, war ich sehr überrascht und empört, denn ich weiß, dass dieser Mann absolut unvergessliche Musik für das dramatische Theater geschrieben hat. Er begleitet dramatische und tragische Handlungen wie kein anderer Komponist. … Wenn einer meiner Schüler mich um musikalischen Rat fragen würde, ich würde sagen: Bestellen Sie Musik bei Schebalin, weil er auf diesem Gebiet unübertroffen ist.“

Der Steinerne Gast des Don Juan

Auch mit Schebalin pflegte Meyerhold einen intensiven mündlichen und schriftlichen Austausch über das Zusammenwirken von Musik, Wort und Szene im Theater. Wie im Fall von Gnessin inspirierten sich die beiden Künstler gegenseitig. Insgesamt für acht Inszenierungen Meyerholds komponierte Schebalin die Musik, eine davon war 1935 das Radiospiel „Der Steinerne Gast“ nach Puschkin. Das Funkspiel nach einer der „Kleinen Tragödien“ des russischen Dichters stellte insofern eine besondere Herausforderung dar, weil bereits der bedeutende russische Komponist Alexander Dargomyschski (1813-1869), ein Zeitgenosse Richard Wagners und Giuseppe Verdis, ein Opernfragment „Der Steinerne Gast“ hinterlassen hatte.

Diese Oper war von César Cui und Nikolai Rimski-Korsakow zu Ende komponiert und 1872 uraufgeführt worden. Wsewolod Meyerhold hatte die Oper 1917 am Staatlichen Mariinski-Theater in St. Petersburg inszeniert. Die Premiere fand am 19. Oktober statt, sechs Tage vor dem Sturm auf das Winterpalais des Zaren und damit dem Beginn der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“.

Der Theatertext, den Puschkin 1830 aus dem Don-Juan-Stoff entwickelt hatte, beschäftigte Musiker seit Generationen. Ihn für ein junges Publikum anno 1935 per Rundfunk zugänglich zu machen, entsprach genau den Absichten, die auch die Radiopioniere zur gleichen Zeit in Deutschland und in Berlin verfolgten.

Insofern ist die Wiederentdeckung von Schebalins/Meyerholds „Der Steinerne Gast“ ein idealer Beitrag zum aktuellen 100. Jubiläum des Rundfunks in Deutschland und des Orchesters der Funk-Stunde Berlin, des heutigen Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin.

Der Komponist Wladimir Wlassow (1902-1986) bescheinigte Schebalin eine überaus gelungene Musik: „Aus meiner Sicht war Schebalins Musik für ‚Der Steinerne Gast‘ großartig. Schade, dass von diesem Werk nur zwei von Lauras Liedern erhalten sind und Wissarion Jakowlewitsch die musikalischen Fragmente der Radiosendung nicht zumindest in Suiten-Form ‚weiterentwickeln‘ wollte“.

Dem ist entgegenzuhalten, dass wir heute Abend tatsächlich eine sehr viel umfangreichere Partitur hören werden. Vladimir Jurowski hat sie aus Kopien zusammengeführt, die ihm 2020 vom Schebalin-Archiv zur Verfügung gestellt worden sind.

Nachdem Jurowski 2019 bereits die Suite op. 61, die 1963/1975 doch noch von Schebalin in Zusammenarbeit mit Leonid Fejgin erstellt worden war, in Moskau aufgeführt hatte, erklingt heute zum ersten Mal fast die ganze Musik zu Schebalins Funkspiel „Der Steinerne Gast“ – mit Lauras Liedern, einem Gebet des Kinderchores und einem hymnensingenden Männerchor, und natürlich mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin.

Dmitri Schostakowitsch

„Die Wanze“ – Suite aus der Schauspielmusik zur gleichnamigen Komödie von Majakowski op. 19

„Jetzt im Februar ist der 100. Geburtstag von Wsewolod Emiljewitsch. Man möchte dieses Jubiläum feiern. Und wozu? Wird denn irgendjemand über Meyerholds Haft sprechen, darüber, dass er ein unschuldiges Opfer der Stalinschen Blutrünstigkeit wurde, und über seinen tragischen Tod? Wird denn irgendjemand über den bestialischen Mord an Meyerholds Frau sprechen – über Sinaida Nikolajewna Reich? Niemand wird irgendetwas darüber sagen. Man wird darüber sprechen, dass Meyerhold ein guter Regisseur war, aber das wissen wir auch so.“

1974, Dmitri Schostakowitsch zu Isaak Glikman

Die Wanze

1974, da waren es noch fünf Jahre hin bis zu jenem Tag, an dem die Prophezeiung von der Wanze und ihrem Wirt eintreten würde. Wsewolod Meyerhold und Dmitri Schostakowitsch hatten 1929 eine kühne Satire verfasst auf einen so köstlichen wie bissigen Text von Wladimir Majakowski.

Der Gewerkschaftsausweis ragt noch aus dem Hemd

Es geht im ersten Teil um den raffgierigen Opportunisten Prissypkin, der bei der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution den Schuss nicht gehört hat. Bei seiner wodkarauschenden Hochzeit 1929 wird er versehentlich im Löschwasser eingefroren, weil in seinem schmuddeligen Haus ein Brand ausgebrochen ist. Der Mann wird komplett vergessen, jedoch eines fernen, aber vor allem schönen Tages in der heilen Welt der Zukunft wieder aufgefunden.

Zweiter Teil, anno 1979: Beim Auftauen des fünfzig Jahre lang erkalteten Bürgers offenbart sich, dass mit ihm eine Wanze aus seinem einstigen Bett die ganze Zeit im Eis gewesen ist. Wegen des inzwischen absolut keimfreien und komplett wanzenfreien sozialistischen Alltags, sind diese Tiere längst ausgestorben. Doch die hochtechnisierte sozialistische Gesellschaft, die u.a. über eine „funkmegaphonische Sprachrohranlage“, also eine Art „KI“, verfügt, welche die Menschen mit Informationen versorgt und bei Laune hält, diese Gesellschaft beschließt, das kostbare Insekt und ihren lebenden Blutspender Prissypkin im Zoo auszustellen.

Lieben Sie Feuerwehrorchester?

Der 23-jährige Schostakowitsch, anfangs befangen, mit zwei so gestandenen Persönlichkeiten wie Majakowski und Meyerhold zusammenarbeiten zu dürfen, erzählt von seiner ersten Unterredung mit dem Dichter: „Das erste Gespräch hinterließ bei mir einen eigenartigen Eindruck. Majakowski hatte mich nämlich gefragt:

‚Lieben Sie Feuerwehrorchester?‘ Ich antwortete ihm: ‚Das kommt drauf an.‘

Majakowski erklärte aber, dass er Feuerwehrorchester außerordentlich gern habe und dass für ‚Die Wanze‘ eben eine solche Musik komponiert werden müsse, wie sie von diesen gespielt werde. Zunächst war ich völlig vor den Kopf gestoßen, bald jedoch wurde mir bewusst, dass seine Worte einen tiefen Sinn hatten. [...] Ihm schien ganz einfach, dass eine Musik, wie sie von Feuerwehrorchestern gespielt wird, dem Inhalt des ersten Teils seiner Komödie am besten entsprechen würde. Um sich aber zu diesem Thema lange Ausführungen zu ersparen, verwendete er die kraftvolle Umschreibung ‚Feuerwehrorchester‘. Ich habe verstanden, worum es ihm ging. Der zweite Teil der ‚Wanze‘ bedurfte nach Meinung von Majakowski einer ganz anderen Musik. An Majakowski gefiel mir sein Widerwille gegenüber hochtrabenden Worten. Von meiner Musik zum zweiten Teil der ‚Wanze‘ wünschte er sich, dass sie möglichst einfach sei. [...] Wir sprachen nicht über die ganze Komposition, sondern nur über die Musik zu konkreten Szenen: Zum Beispiel sollte das Orchester bei der Eröffnung des zoologischen Gartens einen Triumphmarsch spielen.“

Genossen, Bürger, Wodka ist Gift!

Schostakowitschs Lust an Übertreibungen war geweckt. Er liebte es, alberne, ja geradezu blöde Musik zu schreiben, wenn sie dazu geeignet war, absurde Situationen zu schildern und den Menschen beim Verstehen derselben zu helfen, auch wenn das gelegentlich zu unbequemen Selbsterfahrungen bei den Zuhörenden führte – und bis heute führt. Über seine Musik zu reden, das mochte Schostakowitsch hingegen gar nicht.

Der Schauspieler Igor Iljinski, ein Star an Meyerholds Theater, hatte anfangs Zweifel an Schostakowitschs Eignung, wurde aber von Meyerhold persönlich überzeugt: „Während einer der Theaterproben führte mich Meyerhold zu einem jungen schmächtigen und kümmerlichen Mann mit Brille. ‚Lernt euch kennen. Das ist Schostakowitsch...“

„...Gehen wir und hören wir uns seine Musik zur Wanze an.‘ Als wir am Flügel standen, versuchte der Komponist den Versammelten irgendetwas über seine Musik zu sagen, aber außer undeutlich gestammelten, einzelnen Wörtern, die sich plötzlich in so lange Pausen verwandelten, dass die Zuhörer unwillkürlich versuchten, vorherzusagen, was wohl folgen sollte, ist nichts daraus geworden. Danach spielte Schostakowitsch Teile seiner Musik vor. Sowohl Majakowski als auch Meyerhold waren begeistert.“ (zitiert nach Krzysztof Meyer, „Schostakowitsch“, Gustav-Lübbe-Verlag, 1980)

Die Wanze, sie lebe hoch!

Die Premiere am 13. Februar 1929 im Meyerhold-Theater war ein Paukenschlag, polarisierte aber erwartungsgemäß das Publikum. „Leider ist es zwischen dem jungen Komponisten und dem großen Neuerer der Dichtung und des Theaters zu keiner weiteren Zusammenarbeit gekommen. Nach der Premiere der Wanze traf Schostakowitsch Majakowski nur noch einmal flüchtig in Leningrad im März 1930. Mit Meyerhold dagegen pflegte er freundschaftlichen Kontakt. Die hervorragende Musik zur ‚Wanze‘ geriet für lange Jahre in Vergessenheit. Erst im Herbst 1980 wurde ein altes Exemplar der Partitur gefunden und das Werk aufgeführt. Dabei erwies sich, dass dieses Jugendwerk von Schostakowitsch nichts von seiner Originalität verloren hat.“ (Krzysztof Meyer)

Sousaphon, Euphonium, Althorn und ein Flexaton sorgen für Gaudi, wenn die Feuerwehrbrigade pausbäckig aufmarschiert. Bewusst schräge Jazzklänge vom Ende der 1920er verwendete Schostakowitsch immer wieder gerne, um die neue Zeit zu karikieren. Das Feuer in Prissypkins Haus ist ein allein den Streichern vorbehaltenes, organisiertes Chaos. Man kann dabei an die Musik zu Schostakowitschs Oper „Die Nase“ denken, aber natürlich auch an eine Karikatur vom „Feuerzauber“ in Wagners „Siegfried“.

Die „Szene auf dem Boulevard“ spielt mit dem Coitus-Interruptus-Modell. Dauernd lädt die Musik zum Schwelgen und Schwingen ein. Im entscheidenden Moment schlägt sie jedoch unvorhersehbare Haken wie der Hase im Feld. Der Triumphmarsch im Zoo ist das reinste Pfingstkonzert, blitzblank und staubfrei wie die imaginierte Zukunft. Vladimir Jurowski fügt noch Teile aus der Originalmusik ein, die nicht Bestandteil der gedruckten Orchestersuite sind: den „Marsch der jungen Pioniere“, den „Chor der Feuerwehrmänner“ und das „Lied der Stadtväter“.

Gedenkminute

Die staatlichen Bedrohungen, denen Schostakowitsch im Jahr 1936 ausgesetzt war, machten den Komponisten in der Sowjetunion zu aussätzigem Freiwild.

Einer der wenigen, die zu ihm hielten, war Meyerhold: „Lieber Freund! Seien Sie mannhaft! Verlieren Sie nicht den Mut! Lassen Sie keine Niedergeschlagenheit aufkommen! Stiedry informierte mich, dass in Kürze in Leningrad Ihre neue Sinfonie aufgeführt wird. Ich werde alles daransetzen, um bei diesem Konzert in Leningrad dabei sein zu können.“ (13. September 1936)

Am 7. Januar 1938 wurde Meyerholds Theater von den Stalinbehörden geschlossen, der Regisseur selbst am 20. Juni 1939 verhaftet. Aus der Haft schrieb Wsewolod Meyerhold einen Brief an den sowjetischen Regierungschef Wjatscheslaw Molotow, den man in den Polizeiakten aufbewahrt hat, wo er nach Auflösung der UdSSR von dem Journalisten Witali Schentalinski entdeckt wurde.

„Die Ermittler begannen mit Gewalt gegen mich, einen kranken 65-jährigen Mann. Ich musste mich mit dem Gesicht nach unten hinlegen und wurde mit einem Gummiband auf die Fußsohlen und die Wirbelsäule geschlagen. Sie setzten mich auf einen Stuhl und schlugen mir mit beträchtlicher Kraft von oben auf die Füße. In den nächsten Tagen, als diese Teile meiner Beine mit ausgedehnten inneren Blutungen übersät waren, schlugen sie wieder auf die rot-blau-gelben Blutergüsse mit dem Gurt und der Schmerz war so stark, dass es sich anfühlte, als würde kochendes Wasser auf diese empfindlichen Stellen gegossen. Ich heulte und weinte vor Schmerz. Sie schlugen mir mit dem gleichen Gummiband auf den Rücken und schlugen mir ins Gesicht, wobei sie ihre Fäuste aus großer Höhe schwangen... Der unerträgliche körperliche und emotionale Schmerz ließ meine Augen endlose Tränen weinen. Mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegend entdeckte ich, dass ich mich winden, drehen und kreischen konnte wie ein Hund, wenn sein Herr ihn peitscht... Als ich mich nach 18 Stunden Verhör auf die Pritsche legte und einschlief, wurde ich von meinem eigenen Stöhnen geweckt und weil ich wie ein Patient im Endstadium von Typhus zucken musste... ‚Tod, oh ganz sicher, der Tod ist leichter als das!‘ dachte sich die vernommene Person. Ich begann mich selbst zu belasten in der Hoffnung, dass dies zumindest schnell auf das Schafott führen würde.“

Meyerhold wurde am 1. Februar 1940 zum Tode verurteilt und am nächsten Tag hingerichtet. 1955 sprach ihn der Oberste Gerichtshof der Sowjetunion während der ersten Entstalinisierungswelle von allen Anklagen frei.

Kurzbiographien

Vladimir Jurowski

Vladimir Jurowski ist seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Seinen Vertrag hat er mittlerweile bis 2027 verlängert. Parallel dazu ist er seit 2021 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.

Der Dirigent, Pianist und Musikwissenschaftler Vladimir Jurowski wurde zunächst an der Musikhochschule des Konservatoriums in Moskau ausgebildet. 1990 kam er nach Deutschland, wo er sein Studium an den Musikhochschulen in Dresden und Berlin fortsetzte. 1995 debütierte er beim britischen Wexford Festival mit Rimski-Korsakows „Mainacht“ und im selben Jahr am Royal Opera House Covent Garden mit „Nabucco“. Anschließend war er u.a. Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin (1997– 2001) und Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera (2001–2013). 2003 wurde Vladimir Jurowski zum Ersten Gastdirigenten des London Philharmonic Orchestra ernannt und war von 2007 bis 2021 dessen Principal Conductor.

Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin war er 2022/2023 bei Konzerten in verschiedenen Städten Deutschlands, Italiens und in Antwerpen in den Niederlanden zu erleben. Die gemeinsamen CD-Aufnahmen von Vladimir Jurowski und dem RSB begannen 2015 mit Alfred Schnittkes Sinfonie Nr. 3. Es folgten Werke von Britten, Hindemith, Strauss, Mahler und demnächst erneut Schnittke. Vladimir Jurowski wurde vielfach für seine Leistungen ausgezeichnet, darunter mit zahlreichen internationalen Schallplattenpreisen. 2016 erhielt er aus den Händen von Prince Charles die Ehrendoktorwürde des Royal College of Music in London. 2018 kürte ihn die Jury der Royal Philharmonic Society Music Awards zum Dirigenten des Jahres. 2020 wurde Vladimir Jurowskis Tätigkeit als Künstlerischer Leiter des George-Enescu-Festivals vom Rumänischen Präsidenten mit dem Kulturverdienstorden gewürdigt.

Svetlana Mamresheva

Svetlana Mamresheva, 1988 in der ehemaligen UdSSR geboren, studierte von 2006 bis 2008 Schauspiel bei N.N. Afonin an der Shchepin Theatre School. 2012 beendete sie ihr Studium in der Klasse von Kirill Serebrennikov und erhielt anschließend ein Engagement im Gogol-Center. Sie studierte Operngesang und machte ihren Abschluss 2020 an der Ippolitova-Ivanova-Hochschule. Im Anschluss absolvierte sie 2022 an der UdK Berlin den Masterstudiengang. Bereits seit 2019 unterrichtet sie selbst Gesang.

Kirill Serebrennikov

Kirill Serebrennikov wurde in Rostow am Don geboren und schloss hier 1992 sein Physikstudium ab. Während des Studiums nahm er autodidaktisch seine Arbeit als Theater-, Opern-, Film-, und Fernsehregisseur sowie Kostümbildner auf.

Salome an der Oper Stuttgart sowie Il Barbiere di Siviglia an der Komischen Oper Berlin waren erste viel beachtete Arbeiten, die Kirill Serebrennikov einem Publikum außerhalb Russlands präsentieren konnte.

Für sein Filmschaffen wie The Student wurde Kirill Serebrennikov beim Filmfestival in Cannes 2016 ausgezeichnet. Weitere Filme wie The Swallow, Mysteries of the Storm, Playing the Victim, The Diary of a Murderer wurden bei den Filmfestivals in Rom, Locarno und Venedig gezeigt und für den Goldenen Löwen sowie für den Grand Prix of Kinotavr in Sochi nominiert.

Kirill Serebrennikov brachte nicht nur zahlreiche Klassiker der russischen Literatur auf die Bühne, sondern auch Werke von Shakespeare über Brecht bis hin zum irischen Dramatiker Martin McDonagh. Seine Inszenierung Plastilin von Wassilij Sigarew wurde von arte aufgezeichnet und zu zahlreichen europäischen Theaterfestivals eingeladen.

Das Gogol Center in Moskau ist ein genreübergreifendes Theaterlabor und Solitär in der russischen Kulturlandschaft. Hier inszenierte er u.a Tote Seelen von Gogol, eine Musicaladaption von Duncan Sheik dem Frühlings Erwachen von Frank Wedekind zugrunde liegt sowie Machine Müller, in Anlehnung an Heiner Müller´s Hamletmaschine in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut.

Kirill Serebrennikov wurde im April 2019 mit der Goldenen Maske für seine Inszenierung des Balletts Nureyew am Bolschoi Theater und für die Inszenierung von Puschkins Kleine Tragödien am Gogol Center ausgezeichnet.

Kinderchor der Komischen Oper Berlin

Seit vielen Jahren ist der Kinderchor der Komischen Oper Berlin ein wichtiger Bestandteil in der Tradition des Hauses als Musiktheater. Die 100 jungen Sänger*innen im Alter von 6 bis 16 Jahren singen alle Kinderchorparts im laufenden Opernrepertoire, gestalten pro Spielzeit ein Konzert für Kinder, treten mit eigenen Konzerten außerhalb des Opernhauses auf und singen regelmäßig beim Spielzeitfest.

Vocalconsort Berlin

Das Vocalconsort Berlin gilt als einer der flexibelsten Chöre Deutschlands, 2013 wurde es mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet. 2003 gegründet und damit der jüngste der drei Profichöre Berlins, hat das Vocalconsort keinen Chefdirigenten, sondern arbeitet projektweise mit unterschiedlichen Dirigenten, aber vor allem mit festen künstlerischen Partnern wie Daniel Reuss, Folkert Uhde und Sasha Waltz zusammen. Es ist neben der Compagnie Sasha Waltz & Guests und der Akademie für Alte Musik Berlin eines der drei „Residenzensembles“ des innovativen Konzertorts Radialsystem V in Berlin.

Wandlungsfähig in Besetzung und Repertoire, dabei aber stets stilsicher und von beeindruckender Homogenität, konnte das Vocalconsort Berlin Erfolge auf ganz unterschiedlichen Gebieten feiern.

Das Vocalconsort Berlin ist regelmäßig in den Musikmetropolen und auf den großen Festivals Europas präsent, von Amsterdam bis Barcelona, von London bis Wien, von Paris bis Salzburg. Es arbeitete bereits mit Dirigenten wie Marcus Creed, Jos van Immerseel, Ottavio Dantone, Christoph Rousset, Pablo Heras-Casado und Peter Ruzicka zusammen.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Neufeld, Andreas
Bondas, Marina
Drechsel, Franziska
Polle, Richard
Scilla, Giulia

Violine 2

Contini, Nadine
Drop, David
Hetzel de Fonseka, Neela
Bara, Anna
Leung, Jonathan

Viola

Rinecker, Lydia
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Inoue, Yugo

Violoncello

Eschenburg, Hans-Jakob
Albrecht, Peter
Weigle, Andreas
Bard, Christian

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Rau, Stefanie

Flöte

Schaaff, Ulf-Dieter
Schreiter, Markus

Oboe

Esteban Barco, Mariano
Grube, Florian

Klarinette

Kern Michael
Pfanzelt, Barbara

Saxophon

Elßner, Karola
Enzel, Christoph

Fagott

Kofler, Miriam

Horn

Ember, Daniel
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Ranch, Lars
Gruppe, Simone

Posaune

Hölzl, Hannes

AlthornES

Rodeschini, David

Sousaphon

Neckermann, Fabian

Percussion

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Vehling, Hanno
Reddemann, Ingo

Pauke

Wahlich, Arndt

Klavier

Syperek, Markus

Akkordeon

Paté, Christine

Cymbalon

Tarasenok, Juri
Karakulka, Nadzeya

Kooperation

Bild-/ Videoquellen

Orchesterbilder © Peter Meisel

Portrait Vladimir Jurowski © Peter Meisel

Portrait Kirill Serebrenniko © Ira Polyarnaya

Kinderchor Komische Oper Berlin © Jan Windszu

Portrait Sventlana Mamresheva © Svetlana Mamresheva

Vokalconsort Berlin © Hans Scherhaufer