Digitales Programm

Sa 25.02.
Andrey Boreyko

20:00 Konzerthaus

Paweł Klecki (Paul Kletzki)

Konzertmusik für Solobläser, Pauke und Streichorchester op. 25

Andrzej Czajkowski (André Tchaikowsky)

„Concerto Classico“ – Konzert für Violine und Orchester
(Deutsche Erstaufführung)

Pause

Петр Ильич Чайкoвский (Pjotr Iljitsch Tschaikowsky)

Orchestersuite Nr. 3 G-Dur op. 55

Besetzung

Andrey Boreyko, Dirigent

Ilya Gringolts, Violine

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

19.10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Konzerthaus
Konzerteinführung: Steffen Georgi im Gespräch mit Andrey Boreyko

 

Namen und Identitäten

Tschaikowsky – der Name ist Programm. So darf ein Werk des großen Peter nicht fehlen im Programm von Andrey Boreyko. Der Dirigent, immer wieder gut für überraschende Programmideen abseits der viel begangenen Pfade, wählt keine der berühmten Sinfonien, sondern die seinerzeit (1855) triumphal gefeierte Suite für Orchester Nr. 3. Und stellt daneben ein Violinkonzert von Czajkowski. Der polnische Namensvetter (1935-1982) erhielt diesen Namen als Sechsjähriger auf der Flucht vor den Nationalsozialisten und behielt ihn lebenslang bei. Das Manuskript des 1964 entstandenen Violinkonzertes wurde nach Czajkowskis Tod zwischen Wäschestücken in einem Korb gefunden und 2021 von Ilya Gringolts und Andrey Boreyko in Warschau uraufgeführt – als CD-Aufnahme, pandemiebedingt ohne Publikum.
Auch Paul Kletzki findet sich in verschiedenen Schreibweisen seines Namens. Geboren 1900 als Paweł Klecki in Łódź, gehört der jüdische Dirigent und Komponist zu jenen Zahllosen, die von den politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts entwurzelt und umhergestoßen worden sind. Seine Musik verdient absolut, gehört zu werden!

Texte von Steffen Georgi ©

Podcast „Muss es sein?“

Paul Kletzki

Konzertmusik für Holzbläser, Pauke und Streichorchester

Paweł Klecki (Paul Kletzki)

Konzertmusik für Bläser, Pauke und Streichorchester op. 25

Molto sostenuto
Allegro molto agitato
Molto tranquillo e cantabile
Vivo

Umhergeworfen

Paweł oder Paul, Klecki oder Kletzki? Der Dirigent und Komponist wurde am 21. März 1900 in Łódź in Polen geboren. Damit gehörte er demselben Jahrgang an wie zum Beispiel Kurt Weill. Wie jener, der als jüdischer Kantorensohn aus der anhaltinischen Provinz, aus Dessau, nach Berlin kam, um Musik zu studieren, machte sich auch der 21-jährige polnisch-jüdische Musiker auf den Weg nach Berlin.

Er absolvierte ein Violin- und Kompositionsstudium an der Hochschule für Musik in Berlin. Zuvor hatte er als junger Geiger bereits 1915 im Eröffnungskonzert des neu gegründeten Sinfonieorchesters von Łódź mitgespielt.

Nicht anders als etwa Fritz Kreisler oder Anton Webern nahm er während des Ersten Weltkrieges eine deutsche Waffe in die Hand, um als Soldat an der Front auf die vermeintlichen Feinde des Vaterlandes zu schießen. 1920/1921 leistete er noch einmal Kriegsdienst im Polnisch-Sowjetischen Krieg.

Frühe Philosophie- und Musikstudien an der Universität und am Konservatorium in Warschau (Juliusz Wertheim, Emil Młynarski) halfen ihm bei der Orientierung in Richtung Berlin. Der Kompositionsschüler von Friedrich Ernst Koch erreichte es, dass Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler und Arturo Toscanini seine Werke in ihre Programme aufnahmen. 1925 gelang es Paul Kletzki, selber die Berliner Philharmoniker zu dirigieren. Auch beim jungen Berliner Funk-Orchester, dem heutigen Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, stand er mehrfach am Dirigentenpult.

Anfangs noch rege unterwegs als Dirigent, außer in Berlin bei Orchestern in Bremen, Dresden, Essen, Dortmund, Duisburg, Lübeck, Kiel, Heidelberg und Göteborg, sowie als Kompositionslehrer am Stern‘schen Konservatorium in Berlin, musste er 1933 auf der Flucht vor dem Antisemitismus der deutschen Nationalsozialisten die Stadt und das Land verlassen.

Über Venedig kam er nach Mailand, wo er durch Vermittlung von Toscanini ab 1935 für zwei Jahre an der Mailänder Musikhochschule unterrichtete.

1937 ergab sich die Möglichkeit, die Position eines Chefdirigenten zu übernehmen: im ukrainischen Charkow (heute Charkiw). Dort setzten bald die politischen „Säuberungsaktionen“ Stalins ein, die Kletzki erneut zwangen, zu fliehen. Er ging abermals nach Mailand, um 1939 nunmehr vor den italienischen Faschisten in die Schweiz zu flüchten. Dort bot ihm die Familie seiner Frau Hildegard Woodtli privat zwar sicheren Unterschlupf, aber das Berufsleben kam quasi zum Stillstand. Zahlreiche Mitglieder seiner Familie, unter anderem die Eltern und seine Schwester, wurden unterdessen Opfer des nationalsozialistischen Terrors.

Neubeginn als Dirigent

Erst die Vermittlung des Schweizer Dirigenten Ernest Ansermet, der über Jahrzehnte an der Spitze des Orchestre de la Suisse Romande in Genf stand, erlaubte es Paul Kletzki, ab 1943 wieder als Dirigent in Erscheinung zu treten, zunächst bei den Festwochen in Luzern, dann, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, auf internationalen Bühnen.

1947 nahm er die schweizerische Staatsbürgerschaft an. 1954 wurde er zum Leiter des Liverpool Philharmonic Orchestra ernannt, von 1958 bis 1962 ging er als Chefdirigent zum Dallas Symphony Orchestra nach Texas. Danach dirigierte er das Berner Sinfonieorchester und wurde als Gast regelmäßig zum Beispiel nach Jerusalem und London eingeladen. Von 1967 bis 1970 leitete er als Nachfolger von Ernest Ansermet das Orchestre de la Suisse Romande. Sein bevorzugtes Repertoire als Dirigent reichte von Beethoven (Sinfonienzyklus mit der Tschechischen Philharmonie) über Wagner bis hin zu Schönberg und Lutosławski. Früher als viele andere Dirigenten widmete er sich Mahler und Sibelius und trat als Interpret tschechischer und russischer Komponisten hervor.

Wiederentdeckung eines Komponisten

Die bitteren Brüche in der Biographie von Paul Kletzki führten nicht nur dazu, dass er das Komponieren nach 1933 beinahe vollständig aufgab, sondern dass sein kompositorisches Werk nach dem Zweiten Weltkrieg vergessen war und erst nach Kletzkis Tod im Jahre 1973 langsam wiederentdeckt wurde. Seine Werke hatten einst die Verlage Simrock in Berlin und Leipzig sowie ab 1930 Breitkopf & Härtel in Leipzig herausgebracht.

Heute befindet sich der kompositorische Nachlass von Paul Kletzki in der Zentralbibliothek Zürich.

Als junger Komponist schrieb er neben Kammermusik und Liedern u.a. drei Sinfonien sowie je ein Klavier- und ein Violinkonzert. Letzteres aus dem Jahr 1928 findet allmählich den Weg zurück ins Konzertrepertoire. Auch eine frühe Schallplattenaufnahme hat sich erhalten, Kletzkis Trio op. 16, gespielt vom Poźniak-Trio. Die Sinfonie Nr. 3 mit dem Titel „In Memoriam“ entstand 1939 als letztes Werk.

Im Gegensatz zu zahlreichen Zeitgenossen hat Paul Kletzki die Bahnen der tonal gebundenen, spätromantischen Harmonik nie verlassen. Seine gemäßigt moderne Tonsprache fühlt sich hörbar verbunden mit Brahms und Mahler.

Das gilt sogar für die Konzertmusik für Solobläser, Pauke und Streichorchester op. 25 aus dem Jahre 1932.

In ihren vierten Satz leuchten Anklänge an Brahms‘ Sinfonie Nr. 4 hinein. Andrey Boreyko gebührt das Verdienst, die Konzertmusik 2021 mit der Warschauer Nationalphilharmonie öffentlich eingespielt zu haben. Heute erklingt sie mindesten zum zweiten Mal in Berlin - das RSB hat sie bereits 2008 unter der Leitung von Israel Yinon für Deutschlandfunk Kultur aufgenommen - , es sei denn, Kletzki hätte sie einst beim Berliner Funk-Orchester selber dirigiert oder gar aus der Taufe gehoben, dann wäre heute das dritte Mal. Die Nachforschungen dazu sind im Gange!

Andrzej Czajkowski

Violinkonzert (Deutsche Erstaufführung)

Andrzej Czajkowski (André Tchaikowsky)

„Concerto Classico“ – Konzert für Violine und Orchester
(Deutsche Erstaufführung)

Allegretto
Adagio
Allegro deciso

Wer ist Czajkowski?

Andrzej Czajkowski

Tschaikowsky, den kenne ich. Diese Selbstauskunft vieler Konzertfreunde stellen wir heute gleich doppelt in Frage. Zum einen erklingt ein Werk des allbekannten Pjotr, das selbst den Fans bisher eher wenig begegnet sein dürfte. Zum anderen präsentieren wir einen „anderen“ Tschaikowsky. Genauer den Komponisten Andrzej Czajkowski. Oder, wie er sich auch nannte, André Tchaikovsky, geboren am 1. November 1935 in Warschau als Robert Andrzej Krauthammer.

Der 1982 in Oxford gestorbene polnische Komponist und Pianist erhielt den Künstlernamen Czajkowski als Kind im Familienkreis wegen seiner frühen Erfolge auf dem Klavier.

Nachdem die jüdische Familie 1940 von den nationalsozialistischen deutschen Besatzern ins Warschauer Ghetto deportiert worden war, gelang es 1942, den Sechsjährigen mit Hilfe falscher Papiere unter dem Namen Andrzej Czajkowski aus dem Ghetto zu schmuggeln. Czaijkowski lebte bis zum Kriegsende versteckt bei seiner Großmutter Celina. Der Vater Karl Krauthammer überlebte den Holocaust ebenfalls. Die Mutter Felicja Krauthammer (geb. Rappaport) wurde 1942 aus dem Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet.

Der junge Czajkowski ging nach dem Krieg von Łódź nach Paris, wo er von Lazare Lévy unterrichtet wurde. 1950 kehrte er nach Polen zurück, studierte an den Staatlichen Musikakademien in Sopot und Warschau. Bereits während des Studiums trat er als Konzertpianist hervor, spielte u.a. Bachs Goldberg-Variationen und Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 und überraschte sein Publikum mit Improvisationen über spontan vorgegebene Themen. Ab 1951 studierte er Komposition bei Kazimierz Sikorski. 1957 führte er in Paris sämtliche Klavierwerke von Maurice Ravel auf. In dieser Zeit ließ sich André Tchaikowsky von Nadia Boulanger in kompositorischen Fragen beraten und pflegte Kontakte zu dem Pianisten Arthur Rubinstein.

Neben seinen Erfolgen als Pianist verstand sich Czajkowski immer als Komponist. Es entstanden ein Klavierkonzert, ein Streichquartett, ein Klaviertrio, eine Vertonung von sieben Shakespeare-Sonetten und mehrere Solowerke für Klavier. Er begann mit der Arbeit an einer Oper „Der Kaufmann von Venedig“.

Concerto Classico

Das Concerto Classico für Violine und Orchester entstand zwischen 1962 und 1964. Andrzej Czaijkowski komponierte es in Paris und London. Fast zwanzig Jahre nach seinem Tod im Jahr 1982 wurde es am 5. Februar 2021 in Warschau während eines coronabedingt ohne Publikum stattfindenden Konzertes der Polnischen Nationalphilharmonie uraufgeführt. Solist war Ilya Gringolts, die Leitung hatte Andrey Boreyko. Die heutige Aufführung in Berlin präsentiert das Werk mit den gleichen Protagonisten zum ersten Mal im Ausland, in Deutschland, und ist zudem die erste Live-Aufführung vor Publikum.

Das Werk bereichert die Konzertliteratur des 20. Jahrhunderts um ein Werk der gemäßigten Moderne. Bisweilen scheint der Komponist einem anderen berühmten Violinkonzert seine Referenz zu erweisen, das entstanden war, als er selber zehn Jahre alt war – dem Konzert von Alban Berg. Darüber hinaus nimmt es seinen Platz zwischen den Strömungen des Neoklassizismus des 20. Jahrhunderts ein, es weiß um Bartók und Strawinsky, freilich ein paar Jahre später als die genannten. Und es erinnert in seinem jüdischen Idiom, seiner kammermusikalisch filigranen Struktur, gepaart mit herzbewegender Melancholie an die Werke eines anderen polnisch-jüdischen Komponisten, der den Holocaust überlebt hat, weil er ins Ausland fliehen konnte: Mieczysław Weinberg.

Die Form ist dreisätzig, beginnend ganz klassisch mit einem Allegretto, wo auch die opulente Solokadenz für den Solisten nicht fehlen darf. Dreh- und Angelpunkt des Werkes ist das Adagio mit grenzenlos verloren wirkendem Gesang der zerbrechlich zarten Solovioline. Nur wenige Akkorde und Melodien stützen die traurige Idylle.

Dann bricht die Wirklichkeit unmissverständlich mit Trommelwirbeln in das feine Gespinst ein. Doch die kleine Violine vermag energisch, das Unheil abzuwenden und mit kostbarer Schönheit zu triumphieren. Bis zum Finale, einem Allegro deciso. Bestimmt, dezidiert klingt die Musik anfangs in der Tat, fällt jedoch immer wieder zurück in Anmut und Melancholie. Tänzerische Passagen versuchen den Charakter des Schlusssatzes auf ihre Seite zu ziehen, sie haben sich zu erwehren gegen derbe Pausbäckigkeit. Ein entsprechendes Fugato des blechgeführten Orchesters lässt der Solist großmütig gewähren. Dann tanzt er sich geschickt wieder an die Spitze. Wenn da kein Freylekhs im Spiel ist! Tanzbärenhaft gebärden sich große Trommel und Pauken. Doch einmal mehr verzaubert die Solovioline die erhitzten Gemüter mit sanftem Gesang. Rhythmische Bravour fordert am Ende den Beifall heraus.

Ein Leben für Czajkwski

Der amerikanische Unternehmer David Ferré (1942-2020), ein leidenschaftlicher Musikenthusiast, kam 1978 auf die Spur von André Tchaikowsky, nachdem der ihn als Pianist begeistert hatte und er später von der aufsehenerregenden Absicht des Musikers Kenntnis erhielt, seinen Schädel nach dem Tod als Requisit für erstklassige Shakespeare-Aufführungen („Hamlet“) zur Verfügung stellen zu wollen. David Ferré froschte akribisch nach und verfasste schließlich ein 300-seitiges Buch über André Tchaikowsky. Auch die Website „andretchaikowsky.com“ ging auf David Ferré zurück. Mittlerweile kümmert sich Robert Ferré um das Lebenswerk seines Bruders. Über die Weltpremiere von Tchaikowskys Violinkonzert schrieb er einen längeren Essay mit zahlreichen außermusikalischen Assoziationen, woraus hier auszugsweise zitiert sei: „Ich genoss das Stück vom ersten Pizzicato-Zupfen bis zum plötzlichen tumultartigen Ende. …  Es ist mir unbegreiflich, mit welchem künstlerischen Temperament man ein so komplexes Werk schaffen kann. … In ihrer Erzählung über das Violinkonzert verriet Dorota Szwarcman, dass die Partitur des Concerto Classico unter Andrés Sachen gefunden wurde, die im Keller von Eve Harrison in London gelagert waren, genauer gesagt, in einem Wäschekorb. …

Der Mensch ist ein sinnsuchendes Tier, auch ich.

Robert Ferré, Februar, 2021

Um die große Vielfalt dessen, was ich hörte, zu begreifen, zu verstehen, musste ich mir eine Art Kontext erstellen. Ich ertappte mich dabei, dass ich mir das Konzert wie eine Filmmusik vorstellte. … Als das Adagio ausklang und Gringolts seine Augen schloss und sich mit der Musik wiegte, stellte ich mir vor, wie ich an einem See in einem grünen Park spazieren ging. Im weiteren Verlauf hatte ich eher das Gefühl, auf einem texanischen Hügel voller roter Ameisen zu sein. Und dann waren da noch die Verfolgungsszene und die vogelähnliche Schlagfertigkeit. ... Vielleicht hätte André meinem naiven Vergnügen zugestimmt, vielleicht wäre er aber auch ungeduldig mit meiner Unwissenheit und würde diese Rezension als Sakrileg bezeichnen. … Wir sprechen hier von André Tschaikowsky, dessen Leben voller Konflikte war. Mein imaginärer Film war eher wie ein französischer Film noir, voller Angst und Leidenschaft, mit ungewissem Ausgang. …

Ich würde zögern, selbst die langsameren Passagen als melodisch zu bezeichnen. Für mich ist eine Melodie etwas, das man auf dem Heimweg summen kann, nachdem man es gehört hat, etwa wenn André Bocelli ‚Con Te Partirò‘ gesungen hat. Das war hier nicht der Fall, jedenfalls nicht für mich. Aber für Leute wie André Tschaikowsky, der das alles im Kopf hatte ... deshalb war er so außergewöhnlich. Mein größter Gewinn war nicht die Aufführung selbst, so hervorragend sie auch war, sondern vielmehr mein persönlicher Einstieg in die Welt der André-Tschaikowsky-Liebhaber.“ (Robert Ferré, Februar, 2021)

Tschaikowsky

Orchestersuite Nr. 3

„Vielleicht wird es eine Sinfonie, aber es könnte auch eine Suite werden. Die letztere Form ist mir seit einiger Zeit besonders sympathisch, weil sie dem Komponisten die Freiheit gewährt, sich nicht an Traditionen, konventionelle Beispiele und festgesetzte Regeln binden zu müssen.“

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

ПетрИльичЧайкoвский (Pjotr Iljitsch Tschaikowsky)

Orchestersuite Nr. 3 G-Dur op. 55

Élégie. Andantino molto cantabile
Valse mélancolique. Allegro moderato
Scherzo. Presto
Tema con variazioni. Andante con moto

Kaleidoskop der Melancholie

„Vielleicht wird es eine Sinfonie, aber es könnte auch eine Suite werden. Die letztere Form ist mir seit einiger Zeit besonders sympathisch, weil sie dem Komponisten die Freiheit gewährt, sich nicht an Traditionen, konventionelle Beispiele und festgesetzte Regeln binden zu müssen.“ In diesem Briefzitat von Pjotr Tschaikowski an Nadeshda von Meck aus dem April 1884 findet sich die ganze Wahrheit über die Gründe seiner Hinwendung zur Orchestersuite als einer alternativen orchestralen Form jenseits der Sinfonie. Es sind ästhetische und zugleich – nicht ohne Seitenhieb auf die reglementierende Musikästhetik – schaffenspsychologische Gründe.

Das Damoklesschwert der Beethovenschen Sinfonie, es schwebte über den großen Orchesterwerken aller nachgeborenen Komponisten im 19. und selbst im 20. Jahrhundert.

Sich aus der selbstauferlegten Verneigung vor den sinfonischen Lösungen Beethovens auf die eigenen Füße zu erheben und individuelle Wege oder wenigstens Schritte zu gehen, fiel Brahms schwer, schüchterte zuvor Schumann und Mendelssohn ein, prägte Berlioz und Dvořák, Franck und Elgar – und eben auch Tschaikowsky. Selbst diejenigen wie Wagner, Liszt oder Strauss, Debussy oder Schönberg, die sich von der Sinfonie weitgehend abwandten, taten dies nicht selten wegen Beethoven und der von ihm gesetzten Maßstäbe.

Einfach mal was Anderes

Bis heute wirken die Vorurteile im konkreten Fall von Tschaikowsky nach. Immer wieder erklingen die Sinfonien, anfangs vornehmlich Nr. 4, 5 und 6, inzwischen auch öfter Nr. 1 und 2. Dass aber Tschaikowsky auch drei repräsentative Orchestersuiten komponiert hat, bleibt weitgehend unbeachtet. Warum ist das so? Die Suite als eine spielerische Folge ursprünglich von Tanzsätzen der Barockzeit kann und will nicht die systemische Durchbildung zelebrieren, welche gemeinhin mit der Sinfonie oder dem großen Instrumentalkonzert verbunden wird. Dafür wartet sie mit einer inspirierenden Freiheit der Form und bisweilen mit einer großen Originalität im Detail auf. Immerhin sind ihre historischen Vorfahren solche wie Bachs Französische und Englische Suiten, Telemanns Orchester- und Händels Cembalosuiten. Wenn Schubert in der Kammermusik, Brahms in den Serenaden und Variationen oder Dvořák in Ouvertüren und sinfonischen Dichtungen Schlupflöcher für eine größere Freiheit beim Komponieren gefunden haben, so gilt dies für Grieg, Suk, Nielsen, Lachner oder Raff im Genre der Orchestersuite. Spätestens mit dem aufkommenden Neoklassizismus des frühen 20. Jahrhunderts (der weitgehend ein Neobarock gewesen ist) erhält die Suite bei Bartók, Strawinsky, Schönberg, Respighi oder Jolivet eine neue Berechtigung. Zugleich etabliert sich die Herauslösung von instrumentalen Ausschnitten aus Opern und Balletten unter der Bezeichnung „Suite“ als probates Mittel, um den Gattungsbegriff mit erweiterter Bedeutung zu versehen.

Suiten der Freude

Bereits der ersten Suite von Tschaikowsky merkt man an, dass der Komponist – damals bereits im Besitz der Sinfonie Nr. 4 und der Oper „Eugen Onegin“ – mit Freude alles Schicksalhafte beiseiteschiebt, um eine Folge von orchestralen Bildern zu komponieren, die sich gegenseitig weder bedingen noch aufeinander aufgebaut werden müssen. Die zugleich barockisierende und moderne Gavotte am Ende dieser Suite weist voraus auf vergleichbare Tanzsätze etwa bei Sergei Prokofjew. In der zweiten Suite begeht Tschaikowsky unbekümmert ein sinfonisches Sakrileg und setzt gleich mehrere Akkordeons ein. Nach der heute erklingenden Nr. 3 gesellt sich noch eine vierte Orchestersuite hinzu, „Mozartiana“ geheißen. Sie ist kein originäres Werk Tschaikowskys, huldigt aber mit Orchesterbearbeitungen einem großen Vorbild des Komponisten: Wolfgang Amadeus Mozart.

Apotheose des Tanzes

„Die Arbeit an der 3. Suite gestaltete sich dann keineswegs so problemlos, wie der Komponist es sich zunächst vorgestellt hatte. Ein geplanter erster Satz, der ‚Kontraste‘ heißen sollte, wollte gar nicht gelingen. Tschaikowsky sprach in seinem Tagebuch mehrfach von dem ‚abscheulichen‘; und der Satz wurde aus der Suite ausgeschieden, aber sein Material später dann doch noch in der Konzertfantasie für Klavier und Orchester op. 56 verwendet. Anders als die erste und zweite Orchestersuite besteht die Nr. 3 aus vier Sätzen, die auch tonartlich mehr aufeinander bezogen sind als in den Vorgängerwerken. Freilich ist die Dramaturgie auch dieses Werkes eine deutliche andere, als wir sie von der viersätzigen Sinfonie kennen. Es gibt hier keine diskursiv-dramatischen thematischen Prozesse. Anstelle dessen begegnen uns in diesem Werk Szenen, Bilder, Tableaus, die entspannt vor dem Hörer ausgebreitet werden.“ (Karsten Erdmann)

Nachdem der erste Satz eliminiert war, wurde ein Satz zum Eröffnungssatz, dessen Name zugleich das musikalische Programm ist: „Elégie“ (ohne Posaunen und Schlaginstrumente). Es folgt ein Walzer, allerdings einmal mehr bei Tschaikowsky weit entfernt von dem Wiener Vorbild. Wiederum weist der Titel in die richtige Richtung, „Valse mélancolique“. Reminiszenzen verklungener Feste statt realen Tanzvergnügens beherrschen den Gestus dieses Walzers bis hin zum Verschwinden in der Ferne. Von kaleidoskopischer Vielfalt und gerade dadurch von unwiderstehlichem Reiz ist an dritter Stelle das Scherzo, eine hurtige „Tarantella“.

Nicht weniger als zwölf Variationen auf ein schlicht-elegantes Thema bilden das Finale der Orchestersuite Nr. 3. Der letzte Satz nimmt ungefähr so viel Raum ein wie die drei vorherigen zusammen. Tatsächlich hat der Komponist auf seinen internationalen Konzerttourneen diesen Satz öfter als eigenständiges Werk aufgeführt. In der vierten Variation in h-Moll scheint verblüffend das Motiv „Dies Irae“ auf, bevor ein großes Polacca-Finale aus einem 37-taktigen Orgelpunkt der Pauken jene Funken schlägt, die der Suite Nr. 3 schlussendlich zu festlichem Ausklang verhelfen.

Die erste Aufführung fand am 24. Januar 1885 in Sankt Petersburg unter der Leitung von Hans von Bülow statt. Gewidmet ist die Suite dem Dirigenten Max Erdmannsdörfer, der wenige Tage später die Moskauer Premiere leitete. Tschaikowsky war zufrieden. Nadeshda von Meck erfuhr sechs Tage nach der Uraufführung,

„die Realität meine Erwartungen weit übertroffen hat. Ich habe noch nie einen solchen Triumph erlebt. Ich sah, dass dann die gesamte Masse des Publikums bewegt war, und dankbar für mich. Diese Momente sind der schönste Schmuck im Leben des Künstlers. Dank diesen lohnt es sich zu leben und zu arbeiten.“

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

Möge das Feuer der Begeisterung für die dritte Orchestersuite von Tschaikowsky aufs Neue entfacht sein.

Abendbesetzung, Kurzbiographien

Andrey Boreyko

Als Chefdirigent und künstlerischer Leiter des traditionsreichen Warschauer Philharmonischen Orchesters steht Andrey Boreyko gleichwohl für eine moderne Ausrichtung des Repertoires. Neben den Konzerten in Warschau ging er in dieser Saison mit dem Orchester auf Tournee durch Polen und in die USA. Dort kreuzten sich die Wege mit dem Philharmonischen Orchester Naples in Florida, wo Boreyko ebenfalls Chefdirigent ist, eine Position, die er 2022 nach acht Jahren abgibt. Zu den bedeutenden Projekten, die er in den USA initiiert hat, gehörte die Gegenüberstellung der Ballettmusik von Igor Strawinskys „Pulcinella“ und „Der Feuervogel“ mit zeitgenössischen Kunstwerken der belgischen Künstlerin Isabelle de Borchgrave, die sich ihrerseits von den Ballets Russes inspirieren ließ. Andrey Boreyko gab zudem eine Reihe von Werken in Auftrag (u.a. an Giya Kancheli) und kombinierte diese im Rahmen einer Ausstellung mit Kunst von Picasso und Calder.

Darüber hinaus dirigierte Andrey Boreyko ausgedehnte Tourneen des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters Russlands, des Orchestra Filarmonica della Scala sowie Konzerte des Seoul Philharmonic, Orquesta Sinfónica de Galicia, Sinfonica Nazionale RAI, Sinfonia Varsovia, Mozarteum Orchester Salzburg. Von Sydney bis Toronto und in zahlreichen US-amerikanischen Metropolen war er in den letzten Jahren ebenso als Gastdirigent eingeladen wie in Berlin, Dresden, Leipzig, Wien, Stockholm, Bamberg, München, Florenz, London, Paris, Zürich und Rotterdam. Beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) war er seit 2000 mehrfach zu Gast, zuletzt geplant 2020, was allerdings coronabedingt nicht stattfinden konnte.

Immer wieder setzt sich Andrey Boreyko für zeitgenössische Musik der Postmoderne ein, darunter 2017 in Stockholm für die russische-schwedische Komponistin Victoria Borisova-Ollas. Auf CD sind unter seiner Leitung Werke von Arvo Pärt, Walentyn Sylwestrow, Dmitri Schostakowitsch, Witold Lutosławski und Mikolaj Górecki erschienen, von letzterem u.a. die Sinfonie Nr. 4, nachdem Andrey Boreyko mit dem London Philharmonic Orchestra die Uraufführung und anschließend die amerikanische Erstaufführung mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra dirigiert hatte.

Frühere Stationen in Andrey Boreykos Laufbahn umfassten Chefdirigentenstellen bei der Jenaer Philharmonie, den Hamburger Symphonikern, dem Berner Sinfonieorchester, den Düsseldorfer Symphonikern, dem Winnipeg Symphony und dem Orchestre National de Belgique.

Ilya Gringolts

Der russische Geiger Ilya Gringolts überzeugt mit hochvirtuosem Spiel und feinsinnigen Interpretationen. Als gefragter Solist widmet er sich neben dem großen Orchesterrepertoire auch zeitgenössischen und selten gespielten Werken. Kompositionen von Peter Maxwell Davies, Christophe Bertrand, Bernhard Lang, Beat Furrer und Michael Jarrell wurden von ihm uraufgeführt. Daneben gilt sein künstlerisches Interesse der historischen Aufführungspraxis; virtuoses Repertoire von Paganini, Locatelli oder Leclair schmücken seine Konzertprogramme. 2022 erfolgte die Uraufführung seines Arrangements von Beethovens „Diabelli-Variationen“. Ilya Gringolts konzertierte mit namhaften Orchestern wie dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dem BBC Symphony Orchestra, dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, dem Israel Philharmonic Orchestra, den Wiener Symphonikern sowie dem Mahler Chamber Orchestra. Beim RSB ist er zum ersten Mal zu Gast.

Play-Conduct-Projekte führten ihn jüngst mit dem Australian Chamber Orchestra, dem Franz Liszt Chamber Orchestra, der Camerata Bern und dem Ensemble Resonanz zusammen. Für seine mit dem „Diapason d’Or“ und „Gramophone Editor’s Choice Award“ prämierte Einspielung von Locatellis L’Arte del violino leitete er das Finnish Baroque Orchestra ebenfalls vom Pult aus. Als Kammermusiker arbeitet er mit Künstlern wie Yuri Bashmet, Itamar Golan, Peter Laul, Nicolas Altstaedt, Andreas Ottensamer und Jörg Widmann zusammen und ist außerdem Primarius des 2008 gegründeten Gringolts Quartet, das seither mit Auftritten u.a. bei den Salzburger Festspielen, beim Edinburgh international Festival, beim Lucerne Festival oder am Teatro La Fenice in Venedig Erfolge feiert. Im Sommer 2020 gründete Ilya Gringolts gemeinsam mit Ilan Volkov die „I&I Foundation zur Förderung zeitgenössischer Musik“, die Aufträge an junge Komponistinnen und Komponisten vergibt. Eine erste Serie kurzer Solowerke entstand bereits 2021/2022.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Beckert, Philipp
Feltz, Anne
Behrens, Susanne
Morgunowa, Anna
Pflüger, Maria
Drechsel, Franziska
Polle, Richard
Tast, Steffen
Kynast, Karin
Toncic, Divna
Hildebrandt, Laura
Koike, Seika *

Violine 2

Kurochkin, Oleh
Drop, David
Petzold, Sylvia
Palascino, Enrico
Manyak, Juliane
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Seidel, Anne-Kathrin
Hetzel de Fonseka, Neela
Färber-Rambo, Juliane
Bara, Ania
Leung, Jonathan *
Heidt, Cathy *

Viola

Rinecker, Lydia
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Markowski, Emilia
Drop, Jana
Doubovikov, Alexey
Nell, Lucia
Shin, Hyeri
Balan-Dorfman, Misha
Kreuzpointner, Isabel *
Zappa, Francesca **
Jordanovcki, Aleksandar **

Violoncello

Eschenburg, Hans-Jakob
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Wittrock, Lukas *

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Nejjoum-Barthélémy, Mehdi
Thüer, Milan *

Flöte

Schaaff, Ulf-Dieter
Döbler, Rudolf
Dallmann, Franziska

Oboe

Esteban Barco, Mariano
Grube, Florian
Vogler, Gudrun

Klarinette

Link, Oliver
Pfeifer, Peter
Zacharias, Ann-Kathrin

Fagott

You, Sung Kwon
Schütt, Hendrik **

Horn

Ember, Daniel
Holjewilken, Uwe
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Dörpholz, Florian
Gruppe, Simone

Posaune

Rescigno, Rocco **
Hauer, Dominik
Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud

pauken-picto

Pauke

Wahlich, Arndt

pauken-picto

Schlagzeug

Schweda, Tobias
Tackmann, Frank
Azers, Juris **
Ko, Mynhie **

* Orchesterakademie
** Gäste

Kooperation

Deutschlandfunk Kultur

26.2.2023 20:03

Konzertübertragung vom 25.02.2023 Andrey Boreyko & Ilya Gringolts auf Deutschlandfunk Kultur.

Bild-und Videoquellen

Portrait Andrey Boreyko ©Christoph Rüttger

Portrait Andrey Boreyko © Richard de Stoutz

Portrait Ilya Gringolts © KaupoKikkas

Orchester Bilder © Peter Meisel

https://www.youtube.com/watch?v=T4KwUBlB06Q

https://en.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9_Tchaikowsky

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?search=Paul+Kletzki&title=Special:MediaSearch&go=Go&type=image

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:HOWARD(1828-33)_Shakspeare,_The_Merchant_of_Venice,_vol2,_p045.jpg

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zentralbibliothek_Z%C3%BCrich_-_Musikabteilung_Lesesaal_-_Chor_Predigerkirche_-_Bild_1.jpg

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:ErnestAnsermet.jpg

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?search=Conservatorio+Giuseppe+Verdi+1935&title=Special:MediaSearch&go=Go&type=image

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?search=Pawe%C5%82+Klecki&title=Special:MediaSearch&go=Go&type=image

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tchaikovsky_by_Reutlinger_(cropped).jpg

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portr%C3%A4t_des_Komponisten_Pjotr_I._Tschaikowski_(1840-1893).jpg