Digitales Programm

So 04.12. Ton Koopman

16:00 Philharmonie

Carl Philipp Emanuel Bach
(1714 – 1788)
Sinfonie G-Dur Wq 183/4

>Allegro assai
>Poco andante
>Presto

Carl Philipp Emanuel Bach

Konzert für Violoncello, Streichorchester und Basso continuo A-Dur Wq 172
> Allegro
> Largo con sordini, mesto
> Allegro assai
 
Carl Philipp Emanuel Bach
Sinfonie D-Dur Wq 183/1
> Allegro di molto
> Largo
> Presto

Pause

Jean-Féry Rebel
(1666 – 1747)
„Das Chaos“ aus „Die Elemente. Symphonie nouvelle“
„Le Chaos“. Très lent

Joseph Haydn
(1732 – 1809)
Sinfonie Nr. 98 B-Dur Hob I:98
> Adagio – Allegro
> Adagio cantabile
> Menuetto
> Finale. Presto

Besetzung

Ton Koopman, Dirigent

Mario Brunello, Violoncello piccolo

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

15.10 Uhr, Südfoyer, Einführung von Steffen Georgi

Konzert mit Deutschlandfunk

Rebellen unter sich

Ton Koopman, zum ersten Mal beim RSB, kommt gleich mit Rebel. Und als Rebell. Der weltweit geschätzte Experte für historisch informierte Aufführungspraxis des 18. Jahrhunderts stellt die spektakuläre Dissonanz vom musikalischen Anfang des französischen Schöpfungsmythos in den Kontext eines anderen, nicht minder widerborstigen „Schöpfungs“-Komponisten: Haydn. Dazwischen aber tummeln sich Meistercellist Mario Brunello und das empfindsam entfesselte RSB im rebellischen Chaos des Bach-Sohnes Carl Philipp Emanuel. Dessen Crescendi und Raketen, entworfen innerhalb der seinerzeit die Musikwelt gehörig aufwirbelnden "Mannheimer Schule", bürsten die aufkommende Musikepoche erheblich gegen den Strich, bevor die Klassik sich ordnend und glättend durchsetzen kann.

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„Wer mich gründlich kennt, der muss finden, dass ich dem Emanuel Bach sehr vieles verdanke dass ich ihn verstanden und fleißig studiert habe.“

Joseph Haydn

Podcast „Muss es sein?“

Carl Philipp Emanuel Bach

Alle Texte von Steffen Georgi ©

„Hoher Genuss“ (Beethoven), nicht nur für „die Bub’n“ (Mozart)

Von Ludwig van Beethoven ist überliefert, er habe Carl Philipp Emanuel Bachs Werke so sehr geschätzt, dass er sie „jedem wahren Künstler gewiß nicht allein zum hohen Genuss, sondern auch zum Studium“ empfohlen hat. An leidenschaftlichem Impetus, an thematischen Kontrasten und unverhofften Kühnheiten nehmen sich die beiden wahrlich nichts. Carl Philipp Emanuel Bachs „Vier Sinfonien mit zwölf obligaten Stimmen“ mögen dreisätzig komponiert worden und andere Wege als jene von Haydn gegangen sein – gleichwohl markieren sie eine wichtige Quelle der klassisch-romantischen Sinfonie und ihres Orchesters, neben der Wiener Klassik und der Mannheimer Schule. Es ist das „Sturm und Drang“-Lebensgefühl einer neuen Epoche, das in Goethes Werther seinen literarischen, in der systematischen Hinzunahme von vielfältigem Bläserklang zu dem bisher üblichen Streichorchester seinen musikalischen Ausdruck gefunden hat. Die ab jetzt viel größeren Lautstärkekontraste und differenzierteren Klangfarben begeistern Publikum und Kritiker: „Die blasenden Instrumente sind alle so angebracht, wie sie angebracht sein sollen: Sie heben und tragen oder füllen und beseelen den Sturm der Geigen.“ (Christian Friedrich Daniel Schubart)

Der Hamburger Bach

Im März 1768 war Carl Philipp Emanuel Bach als Nachfolger seines verstorbenen Patenonkels Georg Philipp Telemann ins Amt des städtischen Musikdirektors und Kantors der fünf Hauptkirchen in Hamburg berufen worden. Außerdem übernahm er die musikalische Leitung des renommierten Gymnasiums Johanneum.

Diese musikalische Machtfülle beflügelte den Unermüdlichen zusätzlich, für die Verbreitung seiner eigenen Musik zu sorgen. So nahmen nun Kirchenmusik und Orchesterwerke qua Amt in seinem Schaffen erheblichen Raum ein, wie dies bereits bei seinem Vater in dessen Leipziger Jahren der Fall gewesen war. Mit sicherem Geschäftssinn nutzte Bach seine Position, um seinen Namen und seine Kunst per Notendruck und gezielter Widmung weithin bekannt zu machen.

Die komfortablen Hamburger Verhältnisse vor Augen, komponierte er zehn seiner insgesamt neunzehn Sinfonien in der Hansestadt. Sie alle zeichneten sich durch stilistischen Mut und hohe spieltechnische Anforderungen aus. Ihr musikalisches Niveau bestimmten durchweg unerhörte, ins Ohr springende Neuerungen. Abrupte Wechsel der Leidenschaften, wilde Akzente, morbide Larmoyanz und sanfte Raserei gehörten genauso dazu wie gepfefferte Tempi und manieriert zerdehntes Pathos.

„Wer Sinn dafür hat, einen so wahrhaftig großen Originalkomponisten wie unser Bach, seinen ganz eignen freyen, durch kein Kostume, keine Mode gefesselten Gang gehen zu sehen, der findet volle Seelenweide an diesen herrlichen, in ihrer Art ganz einzigen Sinfonien“

Christoph Friedrich Nicolai, 1781

Geschickt vermarktet

Noch der 1773 vorangegangene Sinfonienzyklus „a Violino primo, Violino Secondo, Violetta e Basso“ mit der Wotquenne-Verzeichnisnummer 182 war für ein reines Streichorchester konzipiert. Baron Gottfried van Swieten hatte ihn bei Bach in Auftrag gegeben, derselbe, der später in Wien für Haydn, Mozart und Beethoven wichtig werden sollte.

Im Orchester der vier folgenden Sinfonien Wq 183 haben Hörner und Holzbläser von vornherein eigenständigen Funktionen. Alle sieben Bläser (je ein Flöten- und Oboenpaar, Fagott, zwei Hörner) sind obligat. Darüber hinaus schreibt Bach anstelle der allgemeinen „Basso“-Stimme der früheren Sinfonien je eine separate Stimme für Violoncello und für Violone (Kontrabass). Damit trägt auch der erweiterte Basso continuo zum Gefühlsfeuerwerk der neuen Sinfonien bei: von tief traurig bis sprudelnd fröhlich in scharfem Wechsel, immer spannungsvoll.

Die Orchestersinfonien Wq 183 will Bach für einen diskret verschwiegenen Auftraggeber komponiert haben, der möglicherweise auf halbem Wege abhanden kam. Die Manuskripte blieben erhalten, gingen durch mehrere verantwortungsvolle Sammlerhände, bis sie in den Bestand der königlichen Hofbibliothek in Berlin, der heutigen Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, aufgenommen werden konnten. Lange vorher schon befanden sich – vielleicht durch Vermittlung Swietens – die Erstdrucke bereits im Besitz des preußischen Königs Friedrich II. Hat Bach hier von langer Hand und mit großem Geschick ein weiteres Mal seinen ehemaligen Arbeitgeber beeindruckt? Jedenfalls war ihm um die repräsentative Drucklegung der Orchestersinfonien zu tun. Er beriet sich mit dem Verleger Breitkopf in Leipzig über die Papierqualität und den Notenstich, um die Partituren optimal herausgeben zu lassen – bei einem anderen Leipziger Verleger, nämlich Schwickert. „Erlauben Sie ein Wörtgen unter uns zu sagen. Herr Schwickert will von meiner Arbeit etwas in seinen Verlag haben. Ich habe vorm Jahre 4 große Orchester Sinfonien von 12 obligaten Stilen gemacht. Es ist das größte in der Art, was ich gemacht habe. Weiter etwas davon zu sagen, leidet meine Bescheidenheit nicht.“ (Bach an Breitkopf, 30. November 1778) Auf diese Weise von Bach „eingeseift“, konnte Breitkopf gar nicht anders, als sich um den Starkomponisten noch energischer zu bemühen, als er es ohnehin schon tat!

Unerhört empfindsam

Der „Hamburgische unpartheyische Correspondent“ vermeldete am 30. Dezember 1780: „Eben das Neue und Originale, was man in allen Bachischen Compositionen so sehr bewundert, trifft man auch in diesen Sinfonien an, die einen unbeschreiblichen Effect machen, wenn sie gehörig besetzt und gut ausgeführt werden. Wir haben sie vor einiger Zeit von einem Orchester, das aus einigen 40 Personen bestand, und vom Herrn Capellmeister selbst angeführt ward, gehört. Jede Sinfonie ward zweymal gespielt, und nie vergessen wir den Eindruck, den diese Musik auf uns machte… Je stärker jede Parthie, besonders der Baß, besetzt ist, und je mehr die Spieler die ihrige studirt haben, desto trefflicher werden sich die Sinfonien ausnehmen.“

In der Tat ist es unter anderem die kraftvolle Verstärkung des Basses, die den Sinfonien Wucht und Sicherheit verleiht. Darüber experimentiert Bach mit unkonventionellen melodischen und rhythmischen Ideen. Harmonische Abenteuer werden gewagt, dynamische Extreme ausgekostet, abrupte Pausen zelebriert. Gleichwohl ist die Form vergleichsweise streng. Alle Sinfonien warten mit drei Sätzen auf, die ihrerseits zumeist dreiteilig konzipiert sind, wobei kleine Ausnahmen und Widerhaken den Reiz des Besonderen ausmachen. So ist das Finale der G-Dur-Sinfonie Wq 183/4 in einer freien Form um ein Thema mit diversen Variationen herumgeschart. Forsch beginnt der Satz mit einem Jagdhornmotiv, um anschließend seiner motivischen Beute in wilder Hatz hinterher zu galoppieren. Allein, Bachs musikalische Pferde scheinen sich recht leicht ablenken zu lassen. Immer wieder folgt auf Vorwärtsdrängen ein verspieltes Innehalten. Grüner Rasen verlockt jedes Pferd, kleine Phrasen bremsen den Galopp. Welchen emotionalen Effekt Bach auch immer erzeugt, er unterbricht ihn nach wenigen Takten und hält so die Zuhörer fortwährend in Erstaunen. Am Ende findet Meister Bach aus den entlegensten Tonarten, aus den verwirrendsten Synkopen mit gutem Geschmack zurück in die eleganten Gefilde des Ebenmaßes, des Taktes und der Schönheit.

Bachs vielstimmiger Einsatz der Bläser nimmt Kompositionsverfahren vorweg, die in Mozarts Orchesterwerken ab 1784 und in Haydns nach 1790 zu finden sind, wobei beide harmonisch selten so weit gegangen sind wie Bach. Wie hat Mozart so schön über Bach gesagt: „Er ist der Vater, wir sind die Bub’n.“

Der Berliner Bach

„Das Solospielen ist auf diesem Instrumente eben nicht eine so ganz leichte Sache. Wer sich hierinne hervorthun will, der muß von der Natur mit solchen Fingern versehen sein, die lang sind und starke Nerven haben, um weit auseinandergreifen zu können….

Johann Joachim Quantz

Diese Beobachtung des Flötisten und Musiktheoretikers Johann Joachim Quantz galt vermutlich Christian Friedrich Schale (1713-1800), dem Hofcellisten des Königs Friedrich II. von Preußen. Beide „dienten“ gemeinsam der Musik am preußischen Hof in Potsdam und Berlin. Dritter im Bunde war der berühmte Tastenvirtuose und Komponist Carl Philipp Emanuel Bach. Mehr als 50 Solokonzerte komponierte er während seiner Berliner Zeit vor allem für die Kollegen aus der Hofkapelle und für den eigenen Gebrauch. Dazu gehören auch drei Cellokonzerte (a-Moll, 1750; B-Dur, 1751; A-Dur, 1753) für den nervenstarken „Langfinger“ Schale.

Carl Philipp Emanuel Bach, der zweitälteste Sohn des Thomaskantors und städtischen Musikdirektors zu Leipzig, Johann Sebastian Bach, und dessen erster Frau Maria Barbara, begann seine musikalische Laufbahn geradezu zwangsläufig im Thomanerchor. Dann jedoch versuchte er, das väterliche Erbe abzuschütteln. Er studierte Rechtswissenschaft, zunächst in Leipzig, ab 1734 an der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Nach dem Examen gab er die Pläne für eine Juristenkarriere allerdings auf, um sich doch ganz der Musik zu widmen. 1738 berief ihn der preußische Kronprinz Friedrich zu seinem Cembalisten – und holte sich damit einen der berühmtesten Klavierspieler Europas an seine Residenzen in Ruppin, Rheinsberg, Potsdam und Berlin, der zu dieser Zeit seinen 55-jährigen Vater an Popularität bereits weit überflügelte. Als „Kammermusikus“ des späteren Königs pflegte Carl Philipp Emanuel Bach Kontakte zu vielen namhaften Kollegen. Er komponierte vor allem für Tasteninstrumente und unterrichtete den modernsten Stil seiner Zeit. Vielleicht war es kein Zufall, dass gerade die Bach-Söhne an der neuen, kontrastreichen Ausdrucksfülle des Sturm-und-Drang maßgeblichen Anteil hatten und damit der Wiener Klassik den Weg ebneten.

Rücksichtslos ausdrucksvoll

Stürmen und Drängen, dies wollen auch die Cellokonzerte. Namentlich das Werk in A-Dur verströmt vom ersten Ton an eine große Portion selbstbewusster Energie. Die Orchestereinleitung durchmisst in großen Sprüngen den ganzen Tonraum. Auf Anhieb wird die Grundtonart A-Dur durch gewagte Modulationen unter erhebliche Spannung versetzt. Beherzt greift das Solovioloncello in das muntere Getümmel mit ein. Da fällt kaum auf, dass die Form durchaus eine traditionelle ist. Der Bach-Sohn kultiviert noch einmal die italienische Ritornelltradition, die Vater Bach so unvergleichlich ausgebaut und verfeinert hatte.

Im zweiten Satz nimmt uns Carl Philipp Emanuel Bach unversehens bei den Ohren und zieht uns in eine schmerzlich-erhabene Atmosphäre hinein. Die ausdrucksstarken Intervalle Septime, Tritonus und Sekunde gehen einher mit Seufzern und schweren Bassschritten. Wir sind mitten in der Affektenlehre des 17. Jahrhunderts. Alle tonal orientierten Komponisten seit Bach (Johann Sebastian) bis hin zu Wagner, Mahler und Schostakowitsch haben sich später dieses universalen Vokabulars der europäischen Musik bedient. Über alle Sprachgrenzen hinweg bilden die musikalischen Ausdruckscharaktere eine gemeinsame Gedanken- und Gefühlswelt der europäischen Kultur heraus, die bis heute weltweit mit ihr identifiziert und – wichtiger noch – verstanden wird.

Der dritte Satz fährt dem weitschwingenden Largo umso heftiger in die Seite, weil er gleichermaßen das Gegenteil an Affekten aufbietet: Wie im ersten Satz ist es ein musikalischer Sturm, der frischen Wind in die althergebrachten Regularien sowohl des Komponierens als auch des Musizierens, sogar des Hörens bläst.

Nicht zufällig hat es Bach vorgezogen, bei Hofe die Musik für das Dessert zu komponieren: Die Herrschaften haben das Klappern mit Tellern und Besteck weitgehend eingestellt. Die Gespräche sind abgeflaut. Träge verdauend, richten sich die Ohren auf die Tafelmusik – und werden gehörig gezaust und durchgerüttelt!

Als einem Meister der musikalischen Aufklärung ist Bach viel daran gelegen, die Affekte nicht beliebig aufeinander folgen zu lassen, sondern sie mit psychologisch-pädagogischem Bedacht zu wählen. Erst durch den Kontrast können sie ihre Bedeutung wirklich entfalten, die Erbauung um die Katharsis ergänzen, so wie es die Aufklärung lehrt. Ihr Vorreiter Bach will die Menschen besser machen, dafür muss er zunächst die Musiker besser machen.

Der Musiker soll „...nothwendig sich selbst in alle Affecten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestalt am besten zur Mit-Empfindung.“

Carl Philipp Emanuel Bach

Mario Brunello spielt das Konzert auf einem Violoncello piccolo. Das "kleine Violoncello" (mit fünf oder mit vier Saiten) existierte im späten 17. Jahrhundert neben der "Viola pomposa" und dem "Violoncello da spalla". Mario Brunello verwendet ein viersaitiges Instrument, das wie eine Violine gestimmt ist, jedoch eine Oktave tiefer.

Das Instrument hat eine spannende Geschichte, die unmittelbar mit Johann Sebastian Bach zusammenhängt. „Seinen Zeitgenossen war Johann Sebastian Bach vor allem als der ‚weltberühmte‘ Organist und Cembalo-Virtuose bekannt; sein zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel berichtet allerdings, der Vater habe auch ‚die Möglichkeiten aller Geigeninstrumente vollkommen‘ verstanden, und verweist als Beleg auf die ‚Soli für die Violine und das Violoncell ohne Baß‘. … im zweiten Kantaten-Jahrgang (1724/1725) begegnet uns in den Arien für anspruchsvolle Solopartien erstmals die Bezeichnung „Violoncello piccolo“; erst in späteren Jahren scheint Bach dieses Instrument auch im Continuo verwendet zu haben. Möglicherweise bedachte er mit diesem Begriff verschiedene Instrumententypen, denn die Notation der Partien ist beträchtlichen Schwankungen unterworfen, und zwar sowohl in der Wahl der vorgezeichneten Schlüssel (Violin-, Alt-, Tenor- oder Bassschlüssel) als auch bezüglich der Zuordnung im Stimmenmaterial: Gelegentlich ist die Partie in der ersten Violinstimme notiert, scheint also von einem Geiger ausgeführt worden zu sein; mehrheitlich aber erhält das Violoncello piccolo ein eigenes Stimmblatt. Auffällig ist ferner, dass hin und wieder das Aufführungsmaterial einer Kantate mit gleich zwei unterschiedlich geschlüsselten Stimmen für das Instrument aufwartet; in diesen Fällen scheint Bach bei seinen Aufführungen zwischen verschiedenen Instrumententypen gewechselt zu haben, oder aber er wählte aus Rücksicht auf den jeweiligen Spieler der Solopartie einen anderen Schlüssel (ein Geiger tat sich oft schwer mit dem Lesen des Tenor- oder Bassschlüssels, einem Cellisten war der Violinschlüssel wenig vertraut).“ (Peter Wollny)

Jean-Féry Rebel

Am Anfang war – das Chaos

Alle Töne einer diatonischen Tonleiter übereinandergestapelt, gleichzeitig. Das ergibt einen irren Klang, eine kreischende Dissonanz. Und sei wohl eine musikalische Ausgeburt des 20. Jahrhunderts, möchte man meinen. Aber nein. Das Phänomen eröffnet die Komposition eines französischen Barockmeisters, 1738. Es steht am Anfang der Symphonie de danse „Les Eléments“ von Jean-Féry Rebel. Dieser neunteiligen höfischen Tanzmusik geht ein Prolog mit dem Titel „Chaos“ voraus. Gemeinsam bilden Prolog und Suite das letzte Werk Rebels, das er selbstbewusst „Symphonie nouvelle“ genannt hat.

1666 geboren, machte Jean-Féry Rebel rasch Karriere. Der virtuose Geiger begann als Wunderkind, wurde bald Mitglied des Versailler Eliteorchesters „24 Violons du Roy“, ab 1717 dessen Chef. Parallel dazu leitete er das Orchester der Académie royale de musique. Bis zu seinem Tod 1747 in Paris komponierte er zahlreiche Opern und Ballette, vor allem jedoch Instrumentalmusik.

Weißes Rauschen

Nicht aus dem Nichts hat Gott die Erde erschaffen. Diese Erkenntnis war spätestens seit der europäischen Epoche der Aufklärung kaum mehr wegzudiskutieren. Die vier Elemente der erfahrbaren Welt – Erde, Luft, Feuer und Wasser – gab es vermutlich schon immer. Nur befanden sie sich im Streit miteinander um die Vorherrschaft und produzierten darob fortwährend Chaos. Der Schöpfungsakt zeigte sich daraufhin als ein aktives Eingreifen Gottes in das Chaos und als ein Prozess des Gestaltens weg von Zwietracht und Durcheinander hin zu Ordnung und Harmonie. John Dryden etwa besang das im Song for St. Cecilia‘s Day, der von Georg Friedrich Händel repräsentativ vertont, von Wolfgang Amadeus Mozart noch einmal prächtiger ins 18. Jahrhundert geholt wurde. Genau hier knüpfte Joseph Haydn an, als er in seinem großen Oratorium „Die Schöpfung“ ebenfalls das Chaos komponierte, nicht minder sinnlich und dennoch um einiges „vorgeordneter“ als bei dem frechen Franzosen sechzig Jahre zuvor.

Rebellischer Rebel

Ganz natürliche Verwirrung unter den vier Elementen sei gespiegelt in der Einleitung der Sinfonie, meinte Rebel, bevor sie nach seiner Meinung ihren vorgeschriebenen Platz in der Ordnung der Natur einnehmen würden.

„Ich habe es gewagt, die Verwirrung der Elemente mit der harmonischen Verwirrung zu verbinden. Ich habe versucht, alle Klänge vermischt, oder besser gesagt alle Töne der Oktave zusammen in einem Akkord hörbar zu machen.“

Jean-Fery Rebel

Weiter schrieb er: „Der Bass repräsentiert die Erde; die Flöten, durch Linien, die sich auf und ab bewegen, ahmen das Rauschen von fließendem Wasser nach; Luft wird durch lang gehaltene Töne dargestellt, gefolgt von Trillern auf den kleinen Flöten; schließlich repräsentieren die Geigen durch lebhafte und brillante Musik die Aktivität des Feuers.“ Das Eingangsstück besteht aus sieben Abschnitten, von denen jeder chaotisch beginnt, um anschließend „die Bemühungen der Elemente zu zeigen, sich gegenseitig abzuschütteln.“

Aus unserer heutigen Sicht wäre es verlockend, Rebels „Chaos“ als modern und kühn zu bezeichnen. Der französische Barockmeister hätte darüber verständnislos den Kopf geschüttelt. Sein Ziel war es nicht, der Musik eine neue Richtung zu weisen; er stellte nur das Chaos dar. Wenn ihm jemand gesagt hätte, dass zwei Jahrhunderte später Musik überwiegend so geschrieben würde, wie einst sein Chaos klang, hätte er wahrscheinlich ungläubig gelacht.

Joseph Haydn

Risk the Channel again!

Als Joseph Haydn im Winter 1790 nach England aufbrach, verabschiedete ihn Mozart am 14. Dezember mit dringenden Warnungen, er sei doch zu alt für ein solches Abenteuer, spreche kein Englisch. Überdies werde er, Mozart, ihn schwer vermissen. Ob beide befreundeten Komponisten ahnten, dass sie sich nicht wiedersehen würden? Ein Jahr später starb Mozart. Haydn komponierte ihm im Januar 1792 eine verstohlene Träne im Adagio der Sinfonie Nr. 98, indem er auf ein Motiv aus dem Andante der „Jupiter“-Sinfonie zurückgriff.

Fast 30 Jahre lang hatte Joseph Haydn zuvor als Kapellmeister in Diensten der Fürsten Paul Anton und später Nikolaus Eszterházy gestanden, knapp 20 Jahre davon, von 1761 bis 1779 hatte der Höfling Haydn strenge Ordre, seine Kompositionen „... für Ihro Durchlaucht eintzig, und allein vorzubehalten, vorzüglich ohne vorwissen, und gnädiger erlaubnis für Niemand andern nicht zu Componiren ...“ Nichtsdestotrotz fanden seine Werke schon bald über die Grenzen des Fürstentums hinaus Verbreitung. Schon in den 1760er-Jahren begannen Pariser Verleger, an Haydns Musik ein Vermögen zu verdienen, jahrelang sogar ohne jedes Wissen des Autors. Haydn selbst erfuhr durch seinen fürstlichen Brotherrn von seiner Popularität in fremden Landen. Als nach dem Tode Nikolaus Eszterházys 1790 die Hofkapelle aufgelöst wurde, Haydn sein Gehalt als Hofkapellmeister jedoch behielt, war er einer der berühmtesten Komponisten Europas. Als „freier“ Mann kehrte er Eszterházy den Rücken und zog nach Wien. Nur kurze Zeit später erhielt er drei Angebote: aus Preßburg, Neapel, London. Haydn entschied sich für London. 

Der da über den Kanal kam, war ein älterer Herr ohne die feine englische Art, mitnichten ein Virtuose und der Landessprache nicht mächtig – dafür aber einer Sprache, die „man durch die ganze Welt verstehet“. Die Weltstadt legte sich dem gesellschaftlich ganz und gar unbedarften Star aus Kontinentaleuropa augenblicklich zu Füßen (nachdem man zuvor sogar erwogen hatte, ihn gewaltsam nach Großbritannien zu entführen, ihm also „die Freiheit zu schenken“). Für die erste Saison hatte Haydn mit dem Geiger und Impresario Johann Peter Salomon einen Kontrakt über eine Oper, sechs Sinfonien und zwanzig kleinere Werke geschlossen. Als er 1792 zum ersten Mal wieder nach Hause zurückkehrte, schlug ihm purer Triumph entgegen, der sich nach 1795 noch steigern sollte.

Trauer um Mozart und Selbstironie

Die Sinfonie Nr. 98, am Ende des ersten Londoner Aufenthalts komponiert und dort am 2. März 1792 in den Hanover Square Rooms zum ersten Mal aufgeführt, erlangte noch zu Lebzeiten Haydns einen außerordentlich hohen Bekanntheitsgrad. Die Originalpartitur, zeitweilig im Besitz Beethovens, dann in der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin, befindet sich heute in einer russischen Sammlung.
Eine langsame Einleitung in b-Moll hängt thematisch eng zusammen mit dem brillanten Vivace-Teil des ersten Satzes. Haydn geht Schritt für Schritt über das hinaus, was er zuvor je komponiert hatte.

Zwei choralartige Verszeilen zu Beginn des zweiten Satzes scheinen das “God save the King” zu zitieren. Vor allem aber beeindruckt der Satz mit dem kontrapunktischen und dramatisch zugespitzten Weiterdenken eines Abschnittes aus dem langsamen Satz von Mozarts „Jupiter“-Sinfonie. Haydn hatte Ende Dezember 1791 vom Tod Mozarts erfahren. „Ich war über seinen Tod eine geraume Zeit ganz außer mir und konnte es nicht glauben, dass die Vorsicht [Vorsehung] so schnell einen unersetzlichen Mann in die andere Welt fordern sollte.“
Am Schluss des vierten Satzes hat Haydn eine kleine Solo-Passage für sich selber geschrieben. Auf Wunsch der Veranstalter in London pflegte er nämlich bei den Konzerten mit seinen Werken das Generalbass-Cembalo stets selber zu spielen. Für die Soloeinlage verlangsamt er absichtlich das zuvor rasante Tempo des genretypischen „Jagd“-Finales. In erfrischendem Unernst seiner Person gegenüber bekennt er sich dazu, als 60-jähriger Herr nicht mehr die flinken Finger eines 20-Jährigen besitzen zu müssen. Nachdem das Orchester ausgebremst ist, kann das Cembalo die Sinfonie in Ruhe zu Ende bringen.

Abendbesetzung, Kurzbiographien

Ton Koopman

Ton Koopman ist eine Koryphäe und ein Sympathieträger in der Bewegung der historischen Aufführungspraxis. Geboren in Zwolle (Niederlande), studierte er Orgel, Cembalo und Musikwissenschaft in Amsterdam und schloss die Ausbildung mit dem Prix d’Excellence ab. Von Anfang an faszinierten ihn das Barock-Zeitalter, authentische Musikinstrumente und die historische Aufführungspraxis.

Im Alter von 25 Jahren gründete der junge Koopman sein erstes Barock-Orchester, 1979 dann das Amsterdam Baroque Orchestra, und 1992 den Amsterdam Baroque Choir – Ensembles die sich weltweit als führende Alte-Musik-Ensembles einen Namen machten.

Ton Koopmans wohl umfassendstes CD-Projekt war die Gesamtaufnahme aller Kantaten von Johann Sebastian Bach, die mit den höchsten internationalen Schallplattenpreisen ausgezeichnet wurde. Außerdem setzt er sich für die Verbreitung des Werkes von Dietrich Buxtehude ein, nahm bis 2014 dessen Gesamtwerk auf insgesamt 30 CDs auf. Ton Koopman ist Präsident der Internationalen Dietrich-Buxtehude-Gesellschaft. 2006 erhielt er die Bachmedaille der Stadt Leipzig, 2012 den Buxtehude-Preis der Stadt Lübeck und 2014 den Bach-Preis der Royal Academy of Music in London. Seit 2016 ist Ton Koopman Ehrenprofessor an der Musikhochschule Lübeck sowie in Linz. Im November 2017 erhielt er den Edison Classical Award. Seit 2019 ist er Präsident des Bach-Archivs Leipzig.

Sein heutiges Debüt beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ist Ton Koopmans inzwischen gewachsenem Interesse an der Zusammenarbeit mit traditionellen Sinfonieorchestern zu verdanken. Dieses Interesse führte ihn bereits zu den Berliner Philharmonikern, dem Königlichen Concertgebouw-Orchester, dem New York Philharmonic, nach München, Wien, Chicago Boston, Philadelphia, San Francisco und Cleveland Orchestra, außerdem nach Frankreich und Japan. 2003 gründete er sein eigenes CD-Label „Antoine Marchand“. Nicht nur als Musiker, auch als Autor vieler Fachartikel und Bücher, sowie als Herausgeber (u.a. Edition aller Orgelkonzerte von Händel für Breitkopf & Härtel; Händels „Messias“, Buxtehudes „Das Jüngste Gericht“ im Carus-Verlag) erlangte Ton Koopman weltweit Beachtung. Der Professor Emeritus der Universität von Leiden ist Ehrenmitglied der Royal Academy of Music in London und künstlerischer Leiter des französischen Festivals Itinéraire Baroque.

Mario Brunello

Der italienische Cellist Mario Brunello zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Stilbreite und Innovationskraft aus. Als erster Italiener überhaupt erhielt er 1986 den Tschaikowsky-Preis in Moskau. Im Laufe der Jahre hat er mit herausragenden Dirigenten wie Abbado, Gergiev, Ozawa, Pappano und Koopman zusammengearbeitet und seine Auftritte als Solist mit einer intensiven Tätigkeit als Kammermusiker kombiniert.

In den letzten Jahren setzte er sich für die Wiederentdeckung des Violoncello piccolo ein – ein Instrument, das bei den Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts sehr beliebt war. Es erlaubt die Interpretation der Meisterwerke für Violine auf dem „kleinen“, viersaitigen Violoncello piccolo. Mario Brunello widmete sich zuerst Johann Sebastian Bach. Nach der Veröffentlichung der Sonaten und Partiten (2019) und der Sei Suonate à cembalo certato è violoncello piccolo solo (2021) wurde die Trilogie 2022 mit den „Bach-Transkriptionen“ abgeschlossen, die er gemeinsam mit der Accademia dell’Annunciata aufgenommen hat. An Bach schlossen sich zwei Tartini-Aufnahmen an, ausgezeichnet mit dem Diapason d’Or und vom BBC Music Magazine als eine der „Best Concerto Recordings“ des Jahres 2020 bewertet.

Das Instrument eignet sich auch exzellent für die Wiedergabe von Cellokonzerten – wie heute Abend zu hören ist.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB Abendbesetzung

Violine 1

Rainer Wolters, Andreas Neufeld, Karin Kynast, Steffen Tast, Anna Morgunowa, Misa Yamada, Susanne Behrens, Divna Toncic

Violine 2

Maximilian Simon, David Drop, Brigitte Draganov, Martin Eßmann, Maciej Buczkowski, Rodrigo Bauzá

Viola

Lydia Rinecker, Christiane Silber, Elizaveta Zolotova, Jana Drop

Violoncello

Arthur Hornig, Ringela Riemke, Georg Boge

Kontrabass

Marvin Wagner, Axel Buschmann

Flöte

Silke Uhlig, Markus Schreiter

Oboe

Gabriele Bastian, Thomas Herzog

Fagott

Sung Kwon You, Clemens Königstedt

Horn

Daniel Ember, Frank Stephan

Trompete

Florian Dörpholz, Jörg Niemand

Pauken

Jakob Eschenburg

Cembalo

Tini Mathot **

* Orchesterakademie

** Gast

Kooperation

Übertragung am 11. Dezember 2022, 21.05 Uhr

Bild- und Videoquellen

  • Ton Koopman © Marco-Borggreve
  • https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b3/Schr%C3%B6ter_-_Carl_Philipp_Emanuel_Bach.jpg
  • https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/11/Carl_Philipp_Emanuel_Bach_Museum_-_2.JPG
  • https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/11/Carl_Philipp_Emanuel_Bach_-_Sonata_in_F_Major_Wq_70-3.jpg
  • https://www.youtube.com/watch?v=HmHhGjg1q8I
  • Mario Brunello © Giulio-Favotto
  • https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jean_Ferry_Rebel.jpg
  • https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Joseph_Haydn_by_Paul_Klemann_-_Archivio_Storico_Ricordi_ICON010716.jpg
  • https://youtu.be/mEA_q11hb8k
  • Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin © Peter Meisel