Digitales Programm

Sa 2.9. Vladimir Jurowski

20:00 Philharmonie

Kurt Weill

Kleine Dreigroschenmusik für Blasorchester

Thomas Adès

Konzert für Klavier und Orchester

Pause

Sergei Rachmaninow

Sinfonie Nr. 3 a- Moll op.44

Besetzung

Vladimir Jurowski, Dirigent

Kirill Gerstein, Klavier

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Südfoyer von Steffen Georgi

Radioübertragung am 05.09.2023 um 20:03 auf Deutschlandfunk Kultur

Saisoneröffnung beim RSB

Dreifache Holzbläser, volles Blech, Celesta, zwei Harfen... Rachmaninows opulent besetzte und viel zu selten gespielte Dritte Sinfonie steht am 2. September auf dem Programm. Beim Musikfest Berlin dirigiert RSB-Chefdirigent Vladimir Jurowski außerdem die Bläsersuite aus Kurt Weills immens erfolgreicher "Dreigroschenoper" und Kirill Gerstein präsentiert das ihm gewidmete Klavierkonzert von Thomas Adès', das schon bei seiner Bostoner Premiere 2019 für Begeisterung sorgte.

Texte von © Steffen Georgi

Podcast „Muss es sein?“

Paternoster Pitch mit Kirill Gerstein

Bei einer Fahrt im legendären Paternoster im Haus des Rundfunks stellen Musiker:innen, Dirigent:innen und Gastkünstler:innen sich und ihre Projekte vor.

Kurt Weill

Kleine Dreigroschenmusik für Blasorchester

„Welch ein Potpourri! …“

Theodor W. Adorno

Doch das Messer sieht man nicht

Ein Jubiläum wirft seine Schatten voraus. Im Herbst 2023 beginnt die 100. Saison des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) – zeitgleich begeht der öffentliche Rundfunk in Deutschland am 29. Oktober seinen 100. Geburtstag. Das heutige Konzert beginnt mit einem exemplarischen Werk aus eben jenen 1920er-Jahren, die als „goldene“ in die Geschichte eingegangen sind. Kurt Weill, ein Rundfunkpionier der ersten Stunde, verfasste damals gemeinsam mit Bertolt Brecht die „Dreigroschenenoper“. Zwar ursprünglich für die Bühne entstanden, wurde der neue Stil der „Dreigroschenoper“ zum Dreh- und Angelpunkt großer Teile des Repertoires der ganzen Epoche. Brecht selber formte die Oper 1930 zu einer Fassung mit verbindenden Texten speziell für das neue Hörmedium. Ein Jahr früher, im Jahr der Grundsteinlegung des Funkhauses in der Masurenallee, hatte Weill bereits eine Auskopplung beliebter Songs für Blasorchester vorgenommen. Diese Fassung führte das Orchester der Berliner Funkstunde, Vorgänger des heutigen Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, am 16. Februar 1930 in der Berliner Volksbühne unter der Leitung von Hermann Scherchen etwa ein Jahr nach der Uraufführung erstmals auf.

„Die Kleine Dreigroschenmusik (ich habe absichtlich das Wort Suite vermieden) habe ich gestern auf der Probe gehört und bin sehr zufrieden damit. Es sind 8 Nummern in ganz neuer, konzertanter Fassung, teilweise mit neuen Zwischenstrophen und durchweg neu instrumentiert für 2 Flöten, 2 Klarinetten, 2 Saxophone, 2 Fagotte, 2 Trompeten, 1 Posaune, 1 Tuba, Banjo, Schlagzeug, Klavier.

Ich glaube, dass das Stück enorm viel gespielt werden kann, da es genau das ist, was alle Dirigenten suchen: ein schmissiges Schluss-Stück. Die Partitur schicke ich Ihnen sofort nach der Aufführung, die Stimmen hat Klemperer vorläufig in der Oper herstellen lassen.“ (Kurt Weill, 5. Februar 1929, Brief an den Verlag Universal Edition)

Und weil der Weill kein Eisler ist

„Welch ein Potpourri! … Das ist alles, kaum eine Melodie fehlt, sie ziehen gedrängt vorbei, so gedrängt, dass manchmal eine in die andere gerät und sie stößt; und in ihrem engen Zuge halten sie sich aneinander, die verstümmelten, geschädigten und abgenutzten und doch wieder aufrührerischen, die sich zum Demonstrationszug formieren.“ Kein geringerer als Theodor W. Adorno begeisterte sich derart 1929 über Weills Kleine Dreigroschenmusik in der Zeitschrift „Anbruch“.

Seit 1928 nahm die „Dreigroschenoper“ vom Theater am Schiffbauerdamm aus ihren Weg um die Welt. Nachdem das zuerst verstörte Berliner Publikum nach dem „Kanonensong“ vor Begeisterung förmlich explodiert war, gab es kein Halten mehr. Wie so oft wurde ein Kunstwerk nicht für das gefeiert, wofür es hätte gefeiert werden sollen. Aber es wurde gefeiert, nicht zuletzt zum pekuniären Wohle seiner Autoren.

Zwei Jahre später wollte Bertolt Brecht den „falschen Richard Strauss“, wie er seinen musikalischen Mitarbeiter Kurt Weill 1931 während der Proben zu „Mahagonny“ bezeichnete, „in voller Kriegsbemalung die Treppe hinunterstoßen“. Die legendäre, erfrischend andere künstlerische Liaison der Autoren der „Dreigroschenoper“ schien endgültig beendet, seit Weills Tendenz weg vom Song hin zur (bürgerlichen) sinfonischen Geste immer offenkundiger wurde, während Brecht seine Sache und seine Sprache angesichts des aufziehenden Nationalsozialismus weiter zuspitzte. Der Kampf der Kulturen geriet zum Klassenkampf, sogar zwischen den beiden Geistesverwandten, und dass bereits während und unmittelbar nach der „Dreigroschenoper“. Brecht dichtete Zusatzstrophen, nahm sie ins Libretto auf, ohne sich um die Musik zu scheren. Weill verfasste instrumentale Zwischenspiele, ignorierte dabei Brechts Texte.

Ein einheitliches Werk „Dreigroschenoper“ ist nie erschienen. Libretto und Partitur kursierten nebeneinander mit signifikanten Unterschieden, über die bis heute keine Einigkeit besteht.

Hören Sie heute Abend die musikalischen Nummern, die Weill für wert gehalten hat, in seine Kleine Dreigroschenmusik einzufließen. Und wehe der oder dem, die der Haifisch zwischen die Zähne bekommt! Sie könnten gar nicht mehr herauswollen!

Thomas Adès

Konzert für Klavier und Orchester

Ein Zeitgenosse in aller Ohren

Drei Verlage bewarben sich 1989 bei einem 18-jährigen Komponisten um sein erstes Werk, noch bevor der überhaupt sein Kompositionsstudium begonnen hatte. Thomas Adès kann sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen.

Ausgebildet als Pianist an der Guildhall School of Music und am King’s College in Cambridge, 18-jährig dekoriert mit dem 2. Preis des BBC Young Musician of the Year, gab Thomas Adès im Alter von 22 Jahren seinen ersten umjubelten Klavierabend in London und begann damit eine Karriere als Pianist. Noch vor seinem 30. Lebensjahr wurde er Künstlerischer Leiter des berühmten, von Benjamin Britten begründeten Festivals in Aldeburgh, außerdem Musikdirektor der Birmingham Contemporary Music Group und Inhaber der begehrten Britten-Professur an der Royal Academy of Music.

Thomas Adès betrat 1995 musiktheatralisches Gebiet. Seine Kammeroper „Powder Her Face“ dirigierte er erstmals auf dem Cheltenham Festival. Weitere Opernaufträge erreichten Thomas Adés vom Royal Opera House Covent Garden („The Tempest“ nach Shakespeare, 2004), vom Glyndebourne Festival und von den Salzburger Festspielen („The Extermining Angel“, 2016). Einen Meilenstein bildete das Orchesterwerk „Asyla“, 1997 beauftragt vom City of Birmingham Symphony Orchestra und Simon Rattle. 1998 gab Thomas Adès sein Debüt bei den legendären BBC Proms – als Pianist, Dirigent und Komponist in einer Person mit seinem „Concerto Conciso“. Im Herbst 2005 fand in der Berliner Philharmonie die Uraufführung seines Violinkonzertes statt – ein Auftragswerk der Berliner Festspiele und des Los Angeles Philharmonic Orchestra. Unter seinen zahlreichen Kompositions- und Schallplattenpreisen ragt der Grawemeyer Prize heraus. Thomas Adés gewann den bedeutendsten Kompositionspreis der Welt im Jahr 2000 als jüngster Kandidat, der je für einen Grawemeyer Prize vorgeschlagen wurde.

Am 22. April 2018 trat der Komponist zum ersten Mal als Dirigent auch vor das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, um selber sein Orchesterwerk „Totentanz“ zu dirigieren. Im gleichen Programm spielte Kirill Gerstein damals unter Adès Leitung Liszts „Totentanz“. Zuvor waren beim RSB schon Adès‘ Orchesterwerke „But All Shall Be Well“ (2006) und „America. A Prophecy“ (2007) erklungen. Wenn heute Abend das Konzert für Klavier und Orchester aus dem Jahre 2018 seine Berliner Premiere feiert, so gingen dem Konzert in den vergangen fünf Jahren bereits 42 Aufführungen u.a. in den USA, in Italien, Portugal, den Niederlanden, Großbritannien, Spanien, Brasilien, Japan, Irland, Ungarn, Österreich, Dänemark und Deutschland (München, Hamburg Leipzig) voraus. In all diesen Konzerten spielte Kirill Gerstein den Solopart, denn für ihn hat Thomas Adès das Klavierkonzert geschrieben.

Gershwin? Liszt? Ligeti? Adès!

Überraschend verbindlich, mit geschmeidiger Geste hebt das Klavierkonzert an. Der Rhythmus dominiert, aber Allegrissimo! Stilistisch virtuos und dabei fast beiläufig modern bewegt sich Thomas Adès auf musikhistorisch sicherem Terrain.

Die klassisch-romantische Sonatenhauptsatzform wird artig zu Rate gezogen und zugleich augenzwinkernd karikiert. Thematische Arbeit geht einher mit verschiedenen Ausflügen in die Vergangenheit des Genres. Solist und Orchester entfernen sich voneinander, um Extremsituationen metrischer und struktureller Komplexität zu durchlaufen. Und sie nähern sich wieder an in Passagen von schlichter Klarheit und empfindsamer Lyrik. In etwas trockenem Komponistensprech liest sich das so: „Der erste Satz Allegramente beginnt mit einer thematischen Vorstellung des Klaviers und anschließendem Tutti. Eine marschartige Brückenpassage leitet zum ausdrucksvolleren zweiten Thema über, das zunächst vom Klavier gespielt und dann vom Orchester aufgegriffen wird. Der Durchführungsteil hinterfragt das erste Thema, bevor eine Oktav-Minikadenz zur Reprise ff führt. Dann gibt es eine Solokadenz, die auf dem zweiten Thema basiert und zunächst im Tremolo und dann über viele Oktaven gespielt wird, wobei sich dem Klavier zunächst das Horn und dann das gesamte Orchester anschließt. Der Satz endet mit einer Coda, die auf dem ersten Thema und dem Marsch basiert.“ (Thomas Adès)

Cortège gravemente

Im zweiten Satz regiert der Ernst. Holz- und Blechblasinstrumente stimmen den rituellen Duktus an, den das Klavier nahtlos fortführt. Schmerzliche Dialoge mit einzelnen Bläsern bringen das Soloinstrument auf den Gedanken, mit wühlenden Gesten einen Ausweg zu suchen. Das Ganze endet in einem bohrenden Dreitonmotiv. Doch der Weg zurück an den Anfang bringt keine Lösung. Lastend steigt die Melodie stufenweise nach althergebrachten Regeln der musikalischen Rhetorik in Tiefe und Dunkelheit.

Hoiho! Hoihohoho!

Wir schwenken – zu Richard Wagners „Götterdämmerung“. Hagens kryptischer Ruf zu den Waffen an die „Gibichsmannen“ bildet die Folie aus der Musikgeschichte für den dritten Satz von Thomas Adès‘ Klavierkonzert. Denn das Allegro gioioso (Adès schreibt „giojoso“), ein heiteres Finale also, „beginnt mit einem dreiakkordigen Ruf zu den Waffen, gefolgt von einem wogenden Thema für Klavier und Orchester, das durch den tosenden Einsatz eines Klarinettensolos unterbrochen wird, welches einen burlesken Kanon ankündigt.“ (Thomas Adès) „Gute Waffen! Starke Waffen! Scharf zum Streit“, heißt es bei Richard Wagner, wo es doch eigentlich nur darum geht, eine Hochzeitsfeier auszurichten. Auch bei Adès wird gestritten und gedroht, immer wieder kulminieren die Egogefechte in der Waffenattitüde, zugleich das Einschüchternde und Sinnentleerte allen Waffengebrülls charakterisierend.

„Schließlich greift das Klavier ein neues Thema im Stil eines die Treppe hinunterspringenden Balls auf und entwickelt es zu einem choralen Höhepunkt“, fährt Thomas Adès fort. Das unregelmäßige Hüpfen des Balls verstört die Waffengänger. Sie verrennen sich in einer Sackgasse, an deren Ende ein Abgrund lauert. Stillstand und Ratlosigkeit. Nur das Klavier weiß einen Ausweg.

Naiv stürzt es sich „mit dem ursprünglichen, taumelnden Thema“ hinein. Wie vermöchte Thomas Adès die „endgültige Lösung für den Ruf zu den Waffen“ klingend auszumalen?

Sergei Rachmaninow

Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 44

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Einst in Russland …

Das Philadelphia Orchestra unter Leitung von Leopold Stokowski spielte die Uraufführung von Sergei Rachmaninows Sinfonie Nr. 3 am 6. November 1936. Sowohl das Orchester als auch der Dirigent gehörten zu den besten Kräften, die sich der Komponist für ein solches Vorhaben hätte vorstellen können. Dennoch blieb der Erfolg aus. Lag es daran, dass die Musikwelt bereits die Orchesterwerke von Schönberg, Berg, Webern, Strawinsky und Hindemith kannte? Rachmaninows Sinfonie klang im Vergleich zu deren Musik wie um 50 Jahre zu spät gekommen.

Das Sinnliche von Rachmaninows Musik verbarg sich in den Melodien. Weil aber andere Komponisten Anfang des 20. Jahrhunderts das melodische und harmonische Gerüst der Tonalität zum Einsturz gebracht hatten, geriet Rachmaninow trotz oder gerade wegen der Schönheit seiner musikalischen Ideen in eine Außenseiterposition. Der Russe schrieb weiter tonale Musik, verstand die Entgrenzungsbestrebungen seiner Zeitgenossen nicht. Er rang sich nicht zu der sensationellen Kompromisslosigkeit oder provokatorischen Exaltiertheit anderer durch. Deshalb stand er im Schatten radikalerer Tonsetzer – ein Tribut an das reizüberflutete 20. Jahrhundert, das in der zweiten Hälfte keine musikalischen Schmerzgrenzen mehr zu kennen schien.

Immerhin war es Gustav Mahler, der Sergei Rachmaninow 1910 nach New York einlud, um dessen drittes Klavierkonzert gemeinsam mit dem Komponisten als Solisten zu spielen. Mit Rachmaninow teilte Mahler die Not, seinen Lebensunterhalt nicht mit Komponieren verdienen zu können, sondern als ausübender Künstler. Beide machten aus dieser Not eine Tugend, galten sie doch als herausragende, weil textgenaue und künstlerisch wissende Interpreten. Und mit Mahler teilte Rachmaninow noch eine Leidenschaft: das Festhalten an der Sinfonie als Gattung. Ohne wenn und aber, mit voller menschheitsumarmender Geste. Man hört dies und vieles mehr gerade der Sinfonie Nr. 3 an.

Aus Innenschau wird Rückschau

Rachmaninow zögerte freilich noch stärker als vor ihm Brahms, sich dem Thema „Sinfonie“ zuzuwenden. Die Erste, noch im 19. Jahrhundert komponiert, erregte das Missfallen seines Lehrers Glasunow, was den sensiblen Komponisten an den Rand eines Zusammenbruches brachte. Erst zehn Jahre später legte er die Sinfonie Nr. 2 vor – und war damit wesentlich erfolgreicher. Trotzdem mussten weitere 30 Jahre vergehen, bevor Rachmaninow noch einmal eine Sinfonie, die dritte und letzte, wagte.

Es ist der nostalgisch-russische Tonfall der Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 44, der das reichlich anachronistische Markenzeichen des Werkes ausmacht und der so vielleicht nicht in die Sinfonie gekommen wäre, wenn Rachmaninow zur Zeit ihrer Komposition nicht seit 17 Jahren im Exil gelebt hätte. In der Schweiz, am Vierwaldstätter See, hatte er sich eine Villa „Senar“ bauen lassen, wohin er sich zurückzog, um den Trubel der alljährlichen Konzerttourneen hinter sich zu lassen. Dort komponierte er, dort fand er zu sich selbst, dort wurde ihm immer schmerzlicher bewusst, dass er nicht mehr in seine Heimat zurückkehren konnte, obwohl ihn der befreundete Schriftsteller Maxim Gorki mehrfach in die Sowjetunion einlud. Nachdem auch die Schweiz als Zufluchtsland unsicher geworden war, übersiedelte Rachmaninow in die USA.

Im Gegensatz zu Strawinsky und auch anders als Prokofjew war Rachmaninow kein Kosmopolit: In Russland galt er als abtrünniger Amerikaner, in Amerika fühlte er sich geduldet als russischer Emigrant – so blieb Rachmaninow bis zu seinem Tod ein Leidender zwischen den Welten.

Einsamer und losgelöster als je zuvor von seiner Kultur, die gleichsam zu seiner Natur geworden war, goss er sein Heimweh und seine Sehnsucht nach allem Russischen in sämtliche Werke, die ihm bis 1943, bis zu seinem Tod, in den USA zu komponieren vergönnt waren. In den meisten dieser Werke kam auch das „Dies irae“-Motiv vor. Der Tag des Zornes, verschlungen in den Tod, darum kreisten Rachmaninows Gedanken am Ende des Lebens.

Weite Welten

Bei genauerem Hinhören entpuppt sich, dass Rachmaninows Sinfonie Nr. 3 genauso viel Aktualität innewohnt, wie den vermeintlich moderneren Werken der Zeitgenossen auch.

Nur äußert sie sich nicht in unerhörter, extravaganter Tonsprache. Bereits der Beginn des ersten Satzes mit der scheinbar liturgischen Klarinettenformel, die durch eine Tutti-Fortissimo-Explosion à la Broadway förmlich hinweggesprengt wird, reißt den Horizont auf. Bei aller Suggestion des Schmissigen der Neuen Welt leuchtet in diesem Kulturkampf immer wieder die stille Sehnsucht des gebürtigen und daselbst sozialisierten Russen hindurch. Die Durchführung – Rachmaninow zelebriert anno 1936 tatsächlich einen regulären Sonatenhauptsatz – fährt sich fest in einem gestiefelten und gespornten Marsch. So etwas kollidiert nach dem Verständnis von Rachmaninow irgendwann mit einer Wand, vergaloppiert sich, bricht in sich zusammen. Gebiert einen einsamen Hoffnungsstrahl der Violinen. Hier wird plötzlich klar, wie nahe Rachmaninow und Mahler einander sein können.

Frau an der Harfe.

In der Reprise zieht sich Rachmaninow aus der Gegenwart wieder zurück in die heile (Märchen-)Welt des Anfanges. Wunderschöne, zum Schwelgen verführende Melodien, raffiniert instrumentiert, effektvoll eingebettet in den Orchesterklang, lassen den Kopfsatz nach etlichen Klangzaubereien (col legno = mit dem Holz des Bogens, Pizzikato = gezupft) behutsam austropfen.

Still und schrill

Der zweite Satz kombiniert jene Satzcharaktere, für die andere Komponisten zwei Sätze benötigen: den langsamen Satz und das Scherzo. Verhangen, nasal, wie Ravels „Pavane“, beginnt das Adagio in der aparten Kombination von Horn und Harfe. Rimski-Korsakows „Scheherazade“ in Gestalt eines Violinsolos schaut herein. Dennoch ist Rachmaninow ganz bei sich, die Themen atmen die gleiche Weite wie in den beiden weltberühmten Klavierkonzerten Nr. 2 und 3 – nicht ohne in irrlichternde Abgründe zu schauen. Dann dient ein kleines Seitenmotiv aus dem Anfang als Brücke in die huschende Geschäftigkeit des Vivace-Teils, der vielleicht auch Prokofjew hätte eingefallen sein können. Emsig behaupten sich die russischen Sommernachtstraum-Figuren in schelmischem Celestagewand gegen die polternden Gewaltausbrüche der Gegner – Gnome alle miteinander. Noch einmal rundet Rachmaninow den Bogen und kehrt zum Anfang zurück.

Hurtig und heftig

Energie und Bewegung treiben das Finale an. Keine Zeit mehr für nachdenkliche Töne? Mehrere Themen eröffnen ein Kaleidoskop, ein Feuerwerk von Rhythmus und Farbe. Manchmal wie auf dem russischen Jahrmarkt eines Strawinsky, manchmal wie in den vollmundigen Kantilenen eines Straussschen „Rosenkavaliers“, dann wieder als strenges Fugato, in welches einmal mehr (neben der „Toteninsel“, der „Glocken-Sinfonie“, der „Paganini-Rhapsodie“ und den Sinfonischen Tänzen) das düstere „Dies irae“-Motiv eingelassen ist, so bleibt Rachmaninow jederzeit am Puls, ohne sich in eine Richtung festzulegen. Wo Mahler die Gebrochenheit unversöhnt stehen gelassen hätte, fegt Rachmaninow mit einer brillanten Schluss-Stretta alle unheilvollen Gedanken beiseite.

Vladimir Jurowski

Vladimir Jurowski ist seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Seinen Vertrag hat er mittlerweile bis 2027 verlängert. Parallel dazu ist er seit 2021 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.

Der Dirigent, Pianist und Musikwissenschaftler Vladimir Jurowski wurde zunächst an der Musikhochschule des Konservatoriums in Moskau ausgebildet. 1990 kam er nach Deutschland, wo er sein Studium an den Musikhochschulen in Dresden und Berlin fortsetzte. 1995 debütierte er beim britischen Wexford Festival mit Rimski-Korsakows „Mainacht“ und im selben Jahr am Royal Opera House Covent Garden mit „Nabucco“

Anschließend war er u.a. Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin (1997– 2001) und Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera (2001–2013). 2003 wurde Vladimir Jurowski zum Ersten Gastdirigenten des London Philharmonic Orchestra ernannt und war von 2007 bis 2021 dessen Principal Conductor.

Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ist er 2022/2023 bei Konzerten in verschiedenen Städten Deutschlands, Italiens und in Antwerpen in den Niederlanden zu erleben. Die gemeinsamen CD-Aufnahmen von Vladimir Jurowski und dem RSB begannen 2015 mit Alfred Schnittkes Sinfonie Nr. 3. Es folgten Werke von Britten, Hindemith, Strauss, Mahler und demnächst erneut Schnittke. Vladimir Jurowski wurde vielfach für seine Leistungen ausgezeichnet, darunter mit zahlreichen internationalen Schallplattenpreisen.

2016 erhielt er aus den Händen von Prince Charles die Ehrendoktorwürde des Royal College of Music in London. 2018 kürte ihn die Jury der Royal Philharmonic Society Music Awards zum Dirigenten des Jahres. 2020 wurde Vladimir Jurowskis Tätigkeit als Künstlerischer Leiter des George-Enescu-Festivals vom Rumänischen Präsidenten mit dem Kulturverdienstorden gewürdigt.

Kirill Gerstein

Der Pianist Kirill Gerstein verbindet die Traditionen des russischen, amerikanischen und mitteleuropäischen Musikschaffens mit einer unstillbaren Neugierde. Diese Eigenschaften und die Beziehungen, die er zu Orchestern, Dirigenten, Instrumentalisten, Sängern und Komponisten aufgebaut hat, haben ihn dazu gebracht, ein breites Spektrum an neuem und altem Repertoire zu erkunden. Von Bach bis Adès zeichnet sich Gersteins Spiel durch eine ausgefeilte Technik und anspruchsvolle Intelligenz aus, gepaart mit einer energischen, phantasievollen musikalischen Präsenz, die ihn an die Spitze seines Fachs bringt.
Der in der ehemaligen Sowjetunion geborene Gerstein ist amerikanischer Staatsbürger und lebt in Berlin. Seine internationale Karriere führt ihn als Solist und Konzertpianist von Europa in die Vereinigten Staaten, nach Ostasien und Australien.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Nebel, David
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Kynast, Karin
Tast, Steffen
Pflüger, Maria
Feltz, Anne
Polle, Richard
Behrens, Susanne
Scilla, Giulia
Heidt, Cathy
Koike, Seika

Violine 2

Kurochkin, Oleh
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Seidel, Anne-Kathrin
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Manyak, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Bauza, Rodrigo
Färber-Rambo, Juliane
Bara, Ania
Palascino, Enrico

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Drop, Jana
Doubovikov, Alexey
Montes, Carolina
Nell, Lucia
Inoue, Yugo
Yoo, Hyelim
Burmeister, Daniel

Violoncello

Eschenburg, Hans-Jakob
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Kim, Jean

Doublebass

Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Wheatley, Paul

Flöte

Uhlig, Silke
Döbler, Rudolf
Schreiter, Markus

Oboe

Esteban Barco, Mariano
Grube, Florian
Herzog, Thomas

Klarinette

Kern Michael
Zacharias, Ann-Kathrin
Korn, Christoph

Fagott

You, Sung Kwon
Voigt, Alexander
Königstedt, Clemens

Horn

Kühner, Martin
Holjewilken, Uwe
Mentzen, Anne
Jordans, Thomas

Trompete

Dörpholz, Florian
Gruppe, Simone
Hofer, Patrik

Posaune

Manyak, Edgar
Vörös, József
Hauer, Dominik

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud
Diaz Cotan, Rosa

Percussion

Tackmann, Frank
Morbitzer, Wolfgang
Vehling, Hanno

Pauke

Wahlich, Arndt

Saxophon

Elßner, Karola
Enzel, Christoph

Banjo

Gehlmann,Johannes

Akkordeon

Paté, Christine

Celesta/Klavier

Gneiting, Heike

Kooperationen

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Bild-/ Videoquellen

Bilder Orchester und Vladimir Jurowski © Peter Meisel

Portrait Kirill Gerstein © Marco Borggreve

https://www.youtube.com/watch?v=wHjx2IbVYow