Mo 27.01.2025

Vladimir Jurowski

Zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz

Berthold Tuercke

„Aus Geigen Stimmen“ mit 53 Geigen, 1 Bratsche, 1 Cello und gemischtem Chor – mit den aus der Shoah geretteten „Violins of Hope“ des Amnon Weinstein (Uraufführung)
Das Werk ist dem Andenken Amnon Weinsteins (1939-2024) gewidmet.

Pause

Gideon Klein

Trio für Violine, Viola und Violoncello, bearbeitet als Partita für Streichorchester von Vojtech Saudek

Mieczyslaw Weinberg

Streichquartett Nr. 5 (Fassung für Streichorchester)

Besetzung

Vladimir Jurowski, Dirigent
RIAS Kammerchor
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Gregor Meyer, Choreinstudierung

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Südfoyer, Steffen Georgi im Gespräch mit Avshalom Weinstein und Berthold Tuercke

Das Konzert wird am 27.01.2025 live auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.

Partner in der ROC RIAS Kammerchor

Audio-, Foto- und Videoaufnahmen sind während des Konzerts nicht gestattet.

Podcast "Muss es sein?"

Wo Worte nicht hinreichen

An diesem denkwürdigen Tag besteht das Konzertprogramm aus drei Kompositionen, die in besonderer Weise die Musik im Holocaust reflektieren.

Zum ersten Mal erklingt das neue Werk „Aus Geigen Stimmen“ von Berthold Tuercke. Dessen Untertitel „mit 53 Geigen, 1 Bratsche, 1 Cello und gemischtem Chor – mit den aus der Shoa geretteten ‚Violins of Hope‘ des Amnon Weinstein“ bezieht sich auf die geretteten Instrumente, die der israelische Geigenbauer Weinstein von Holocaust-Opfern zusammengetragen hat. Es sind genau diese Originalinstrumente, die in unserem Konzert von den Musikerinnen und Musikern des RSB tatsächlich zum Klingen gebracht werden, während der RIAS Kammerchor mit gesprochenen und gesungenen Texten auf das Schicksal der Instrumente eingeht.

Es folgt das Streichtrio des so hochbegabten wie gezwungenermaßen frühreifen, tschechischen Komponisten Gideon Klein, in winziger Miniaturnotenschrift heimlich zu Papier gebracht im Oktober 1944 im Ghetto Theresienstadt, neun Tage vor dem Abtransport des 25-Jährigen nach Auschwitz, wo er im Außenlager Fürstengrube noch am 27. Januar 1945, dem Tag der Befreiung des KZ, sterben musste.

Das Streichquartett Nr. 5 des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg aus dem Jahre 1945 spiegelt nicht die Situation eines Todgeweihten, wohl aber die eines von gewaltsamen Toden in seinem unmittelbaren Umfeld vielfach Gezeichneten. Auf der Flucht Richtung Osten musste der im selben Jahr wie Gideon Klein geborene Musiker 1939 seine jüngere Schwester zurücklassen, weil ihre Schuhe das Weitergehen verhinderten. Sie starb wie Weinbergs Eltern schon bald durch die Nazi-Schergen, ohne dass der Bruder davon Kenntnis erhielt. Das Streichquartett Nr. 5 des engen Mitarbeiters von Dmitri Schostakowitsch, der sich im sicheren Hinterland der Sowjetunion grausam schuldig fühlte vor den unmittelbar vom Krieg Betroffenen, spiegelte all die fürchterlichen Ahnungen und bitteren Gewissheiten. Ein verzweifeltes Hoffen auf eine bessere Welt ist Weinberg bis zu seinem Tod 1996 dennoch nie abhanden gekommen.

Berthold Tuercke

AUS GEIGEN STIMMEN

Diese Geigen sagen: Wir sind hier. Für immer!

„Die Hecht-Violine. Alex und Fanny Hecht hatten zwei Söhne, Fritz und Ernst. Sie lebten in Bielefeld, Deutschland. Als die Nazis die Macht in Deutschland übernahmen, gingen sie nach Holland und fanden ein Zuhause in Amsterdam. Dort freundete sich Fanny, eine Geigerin, mit einer christlichen Nachbarin, Frau Visser, an, die ebenfalls Geige spielte, ebenso wie deren Tochter Helena.

Im Jahr 1943 trieben die Nazis die meisten in Amsterdam lebenden Juden zusammen und schickten sie nach Westerbrok und später nach Auschwitz. Fanny Hecht war beunruhigt. Sie befürchtete, dass ihre Familie wie so viele Juden verhaftet werden würde. Sie klopfte an die Tür von Frau Visser und bat sie, die Geige aufzubewahren, falls die Hechts deportiert werden sollten. ‚Frau Visser, ich möchte, dass Sie auf meine Geige aufpassen, ich möchte nicht, dass die Deutschen sie bekommen, und nach dem Krieg, wenn wir zurückkommen, können Sie mir die Geige zurückgeben, und wenn nicht, gehört sie Ihnen.‘

Der Klang der Geige ist wunderschön, und auf der Innenseite der Geige steht: Antonius Stradivarius Cremona, Faciebat anno 1743, also ist sie sehr alt. Bald wurden die Hechts verhaftet und deportiert. Ernst, 17 Jahre alt, starb am 9. Juli 1943 in Sobibor. Fanny und Alex wurden am 17. September 1943 in Auschwitz ermordet. Der älteste Sohn, Fritz, starb am 18. Januar 1945 in einem Arbeitslager in Monowitz. Keiner überlebte.

Die Geige wurde 74 Jahre lang von der niederländischen Familie Visser aufbewahrt. Sie bestanden darauf, sie jüdischen Musikern zurückzugeben. Als sie von den ‚Violins of Hope‘ hörten, reisten sie nach Israel, besuchten Yad Vashem, wo sie die Geschichte der Hechts recherchierten, und als sie feststellten, dass es keine Überlebenden gibt, schenkten sie sie Amnon Weinstein – damit die Geige erklingen und die tragische Geschichte von Fanny, Alex, Fritz und Ernst Hecht erzählen kann.“ (Avshalom Weinstein)

Wenn Instrumente zu Zeugen werden

Die Hecht-Violine wird heute Abend vom RSB-Musiker Kosuke Yoshikawa gespielt. Sie ist eines der fünfundfünfzig Instrumente aus der Sammlung der Geigenbauerfamilie Weinstein, die während des Konzertes im Werk von Berthold Tuercke zum Einsatz kommen. Alle diese Geigen erzählen eine individuelle Geschichte, die Amnon und Avshalom Weinstein zusammengetragen und aufgeschrieben haben, zusammen mit Fotos der Instrumente und (wenn vorhanden) ihrer ehemaligen Eigentümer, auf 138 Seiten. Angeregt von dem sächsischen Bogenbauer Daniel Schmidt, der um 1995 in Weinsteins Werkstatt in Tel Aviv seine Ausbildung absolvierte, stellte Amnon Weinstein (1939-2024) das Projekt bei einem Treffen von Geigenbauern und Bogenmachern 1999 in Dresden vor, um die jüdischen Instrumente einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So reisten die Geigen 2015 anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers von Auschwitz bereits schon einmal nach Berlin, um in einem Konzert der Berliner Philharmoniker zu erklingen. Hinter den Instrumenten stünden sechs Millionen Menschen, zitierte damals Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Geigenbauer Amnon Weinstein.

Inzwischen gehören mehr als 70 Instrumente zur Sammlung „Geigen der Hoffnung“, die von Amnons Sohn, dem heute hier anwesenden Avshalom Weinstein, ebenfalls Geigenbaumeister, weiter gepflegt und erweitert wird. „Ich musste die Violinen wieder zum Klingen bringen – auch als Zeichen gegen das Vergessen“, erläuterte Amnon Weinstein das Anliegen seiner Instrumentensammlung.

Viele Jahre lang hatten die Geigen im Schrank seines Vaters, des jüdischen Geigenbauers Moshe Weinstein, gelegen, der 1938 aus Polen nach Palästina emigriert war. Moshe Weinstein hatte selbst nicht die Kraft gefunden, sich mit den Schicksalen der ihm überlassenen Instrumente auseinanderzusetzen, zu groß war der Schmerz über den Verlust des eigenen Vaters, des jüdischen Kantors Yaakov Weinstein, und dem Großteil der Familie – mehr als 300 Angehörige wurden im Holocaust ermordet.

Schließlich begann Amnon Weinstein in den 1980er-Jahren, die verstaubten Geigen zu restaurieren. Edle Intarsien kamen zum Vorschein, darunter zahlreiche eingravierte Davidsterne. Sie kündeten von ihren einstigen Besitzerinnen und Besitzern, sogar von jenen, die zynischerweise durch die Nationalsozialisten gezwungen worden waren, in den Konzentrationslagern aufzuspielen: „neben den Gaskammern, bei der Ankunft neuer Insassen oder auf den Feiern der SS-Leute. Allein in Auschwitz soll es acht Orchester gegeben haben, darunter ein Mädchenorchester.“ (Jüdische Allgemeine, 11.3.2024)

Gewidmet den Opfern von Ponar

Etliche der ehemaligen Besitzerinnen und Besitzer der Instrumente starben nicht in Konzentrationslagern, sondern bei den Massenerschießungen im Wald von Ponar. Zehn Kilometer vor der litauischen Hauptstadt Vilnius ermordeten deutsche SS-Angehörige und Polizisten sowie litauische Kollaborateure zwischen 1941 und 1944 fast 100.000 Menschen, die meisten davon waren Juden. Die Geige mit der Nummer JHV 35 der Weinstein-Sammlung wird heute Abend vom RSB-Musiker Andreas Neufeld gespielt. „Eine Geige mit einem Davidstern. Spielniveau: Sehr gut. Dies ist eine schöne Geige, die ursprünglich für einen Klezmervirtuosen gebaut wurde. Die Restaurierung dieser Geige ist Wolf und Bunia Rabinowitz gewidmet, einem Geschwisterpaar, beide Wunderkinder und begabte Geiger. Beide spielten während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Konzerte im Ghetto von Vilnius. Beide, Wolf und Bunia, gehörten zu den letzten Insassen des Ghettos, die wahrscheinlich im Wald von Ponar getötet wurden.“ (Avshalom Weinstein)

In von der sowjetischen Regierung ursprünglich als Heizöllager vorgesehen Gruben in Ponar wurden die Opfer in denselben Gruben begraben, in denen sie erschossen worden waren. Erst 1943 begannen die Nationalsozialisten, die Gruben wieder zu öffnen und die Leichen zu verbrennen, um alle Beweise für den Massenmord zu vertuschen. Etwa 80 jüdische Gefangene mussten diese Arbeit verrichten. Am 15. April 1944 versuchten diese Gefangenen, aus Ponar zu fliehen. Die meisten wurden getötet. Jenen fünfzehn Personen, denen die Flucht zu den Partisanen gelang, verdanken wir das Wissen um die Ereignisse in Ponar.

Dem Vergessen etwas entgegensetzen

Die meisten Geigen stammten aus jüdischem Besitz in Osteuropa. Aber auch Roma-Musiker und von den Nazis verfolgte Intellektuelle aus Polen, Russland, dem Baltikum, Frankreich, Italien, den Niederlanden besaßen Instrumente, die auf Umwegen zum Teil über die USA zu den Weinsteins nach Israel gekommen sind. Einige haben eine Odyssee nach dem Krieg hinter sich, als überlebende Ausreisende aus Osteuropa auf dem Weg nach Palästina von der britischen Militärpolizei abgefangen, in Lager auf Zypern verbracht und erst freigelassen worden sind, als im Jahre 1948 der Staat Israel gegründet wurde. Manche Geigen künden von einer fröhlich-klangvollen Vergangenheit in den Händen von Klezmer-Musikern. Ihr äußerlich erkennbares Zeichen ist der kunstvoll in den Korpus eingearbeitete Davidstern. Ein Instrument erinnert an den holländischen Geigenbauer Jacob Hakkert, der diese Geige einst gebaut hatte, bevor er am 20. Mai 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Eine andere Geige ist einem Instrumentenbauer und -händler gewidmet, der in Terezín seine Werkstatt hatte: Pavel Žalud. Seine Klarinetten, Flöten, Tubas und auch Streichinstrumente waren begehrt unter den Musikern im Konzentrationslager Theresienstadt. Die gesamte Familie Žalud fielt dem Naziterror zum Opfer. Es gibt zahlreiche anonyme Instrumente, die dem Gedenken an die Massenerschießungen gewidmet sind: Abertausende Opfer der deutschen Nationalsozialisten und ihrer polnischen, litauischen und ukrainischen Helfershelfer wurden in Babi Jar bei Kiew, in Ponar bei Vilnius, in Jedwabne, Radziłów, Szczuczyn, Kolno … erschossen, verbrannt, verscharrt.

Fast alle Violinen haben die Weinsteins eigenhändig repariert. Nur wenige haben sie bewusst im desolaten Zustand gelassen. Eine davon war 1936 von einem jüdischen Musiker einem deutschen Geigenbauer zur Reparatur übergeben worden. Der nutzte die Gelegenheit, um auf die Innenseite der Decke des geöffneten Instrumentes ein großes Hakenkreuz zu schmieren und daneben zu schreiben: Heil Hitler, 1936. Der jüdische Besitzer hat davon nichts bemerkt und noch jahrelang darauf gespielt.

„…damit sie leben kann“

„Geige aus Lyon, Frankreich, hergestellt in Deutschland um 1900. Spielniveau: Sehr gut. Im Juli 1942 wurden Tausende von Juden in Paris verhaftet und in Viehwaggons in Konzentrationslager im Osten gebracht, die meisten von ihnen nach Auschwitz. In einem der überfüllten Züge befand sich ein Mann, der eine Geige in der Hand hielt. Als der Zug irgendwo auf den traurigen Straßen Frankreichs anhielt, hörte der Mann Stimmen, die französisch sprachen, ein paar Männer, die an den Schienen arbeiteten, sie reparierten und in aller Ruhe spazieren gingen. Der Mann im Zug rief aus: „Dort, wo ich jetzt hingehe, brauche ich keine Geige. Hier, nimm meine Geige, damit sie leben kann!“

Der Mann warf seine Geige aus dem schmalen Fenster. Sie landete neben den Schienen und wurde von einem der französischen Arbeiter aufgehoben. Viele Jahre lang hatte die Geige kein Leben. Niemand spielte auf ihr. Niemand hatte eine Verwendung für sie. Jahre später verstarb der Arbeiter und seine Kinder fanden die verlassene Geige auf dem Dachboden. Sie wollten sie bald an einen Geigenbauer in Südfrankreich verkaufen und erzählten ihm die Geschichte, die sie von ihrem Vater gehört hatten. Der französische Geigenbauer hörte von ‚Violins of Hope‘ und gab sie an uns weiter, so dass die Geige weiterleben wird.“ (Avshalom Weinstein)

Zur Komposition von AUS GEIGEN STIMMEN

Als vor acht Jahren mein Blick zufällig auf einen Zeitungsartikel über den Geigenbauer Amnon Weinstein und seine „Violins of Hope“ fiel, war mir augenblicklich klar, dass ich für diese Instrumente etwas komponieren müsste, darin ihnen eine Stimme gegeben würde, begleitet von einem Chor, der sie besingt und von ihrem Schicksal erzählt. Diesen Gedanken trug ich lange mit mir herum, bis sich mit Vladimir Jurowski und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin die Möglichkeit einer Aufführung eröffnete.

Zuvor hatte sich bereits der Kontakt zu Amnon Weinstein ergeben, der von meiner Idee begeistert war. Dem folgte ein Besuch in seiner Werkstatt in Tel Aviv, wo mir seine Schwiegertochter, die Geigerin Sevil Ulucan (die auch im heutigen Konzert mitwirkt) auf einigen Instrumenten vorspielte, so dass ich einen Eindruck von der unterschiedlichen Klanglichkeit der Geigen bekam und die mit Davidsternen verzierten betrachten konnte. Außerdem hatte ich ein langes Gespräch mit Amnon Weinstein, worin er mir von der Geschichte seiner Arbeit erzählte und dabei auf die bewegenden Schicksale einiger Geigen einging. Die von seinem bot mir weitere Einblicke.

Damals zählte die Sammlung der Violins of Hope 53 Geigen, eine Viola und ein Cello. Die formale Anlage der Komposition für diese Besetzung hatte ich bereits im Kopf: ein Zyklus aus Soli, verbunden mit gesprochenen und gesungenen Chorpassagen, im Geist der griechischen Tragödie, und Zwischenspielen aus Tutti- und Kammermusik-Szenen. Zu komponieren begann ich zunächst die Soli, jedes mit einem eigenen Charakter, einer eigenen Seele, wobei die meisten unabhängig vom Schicksal der Instrumente entstanden sind; erst nachträglich habe ich sie ihnen zugeordnet.

Nachdem ich einige Soli geschrieben hatte, stellte ich fest, dass sie alle die gleiche motivische Zelle enthalten: kleine Sekund und Terz, oft abwärts gerichtet, mit der großen Terz. Das ist der Anfang des traditionellen Kol Nidrei, der meine Gedanken angestimmt hatte. Auch die bereits komponierten Einleitungstakte enthielten diese Intervallbeziehung: Sekund und Terz, die sich zur Quart, zum Tritonus versammeln, eingerahmt von der Quint, der Essenz der Geige. Auf dieser Motivik beruht nun die gesamte Komposition.

Die Texte für den Chor ergaben sich aus der auf Englisch verfassten Dokumentation, die Amnon Weinsteins Sohn Avshalom und seine Frau Assaela Bielski zu jedem der Instrumente erstellt haben. Da viele von ihnen aus Osteuropa stammen, wollte ich, dass der Chor hier in jene Sprache wechselt, die der Holocaust dort ebenfalls ausradiert hatte: Jiddisch.

Durch Vermittlung der Jüdischen Volkshochschule in Berlin meldete sich bei mir Lia Martyn, um die von mir aus der Dokumentation ausgewählten Texte ins Jiddische zu übertragen. Doch der Chor sollte nicht nur auf die Instrumente eingehen; auch andere Texte, die in den Kontext passen, sollten erklingen. Amnon Weinstein hatte mich auf den aus Vilnius stammenden, jiddischen Dichter Abraham Sutzkever aufmerksam gemacht. Lia Martyn empfahl mir dessen Gedichte „Der Fidlshpiler“ und „Di Fidlroyz“. Ihr verdanke ich auch den Hinweis auf den 137. Psalm, der für die jüdische Diaspora so bedeutend ist. Ebenso machte sie mich auf den jiddischen Dichter Jacob Glatstein aufmerksam und dessen Nachdichtung dieses Psalms, aus der ich ebenfalls zitiert habe.

Insgesamt ist nun eine Art Oratorium entstanden, wobei sich die Folge der Soli und ihrer Chor- und Orchester-Kontexte aus rein musikalisch-dramaturgischen Erwägungen ergeben hat.

Berthold Tuercke

Der Komponist Berthold Tuercke

„Meine musikalische Heimat ist das Wien der alten und neuen Wiener Schule: beredte Musik, unerhört, aus einem Geist von Negation und Utopie.“

Berthold Tuercke begann seine musikalischen Studien in Hannover. Prägende Einflüsse erhielt er dort durch den Theorieunterricht bei Helmut Lachenmann und durch die Pianistin Erika Haase, einer Schülerin von Eduard Steuermann. Von beiden in seinem Interesse an der Musik der Zweiten Wiener Schule bestärkt, führte sein Weg in die USA zu Interpretations- und Kompositionsstudien bei den Schönberg-Schülern Rudolf Kolisch, Eugene Lehner, Felix Greissle, Leonard Stein sowie bei Max Bloch, einem Schüler Viktor Ullmanns.

Die von ihm entwickelte Klangsprache nennt Tuercke „Musik der III. Wiener Schule“, deren Gestaltung auch durch die zahlreichen vertonten Texte inspiriert ist, die sein Œuvre durchziehen. So beruht das Orchesterstück „Partita“, unter Leitung von Peter Gülke 1993 in Wuppertal uraufgeführt, auf Passagen aus Sergei Eisensteins Autobiographie „Yo“. Texte von Ernst Bloch klingen in „Spurengesang“ für Saxophon und Klavier an, erschienen mit Frank Lunte und Tatjana Blome in einer Produktion des Kulturradio vom RBB und der „Edition Abseits“. Heiner Müllers „Quartett“ als Kammeroper entstand 1990 im Auftrag der Kieler Oper. Die Vertonung von Pasolinis „Ballata del dilirio“hatte 1989 mit Catherine Gayer an der Deutschen Oper Berlin Premiere. Der NDR produzierte mit der Sängerin Ute Florey und dem Komponisten „Vier Lieder“ nach Paul Celan, auch in den USA aufgeführt durch Catherine Gayer und Axel Bauni. Kafkas „Auf der Galerie“ für Rezitation und Streichquartett wurde vom Auftraggeber, dem Kronos-Quartett, mehrfach gespielt. Der Zyklus „Die blassen Herren mit den Mokkatassen“ nach Herta Müllers gleichnamigen Buch war vom Modern Art Ensemble und Anna Clementi erstmals zu hören. Die Schola Heidelberg, unter Leitung von Ekkehart Windrich, hob das Chorwerk „Kassandra-Male“ nach Texten von Ingeborg Bachmann aus der Taufe.

Weitere Resonanz erhielten Tuerckes Arbeiten u.a. durch Aufführungen beim Tanglewood Festival und, während seiner Gastprofessur im brasilianischen Curitiba, durch eine Brasilien-Tournee mit dem Ensemble UnitedBerlinauf Einladung des Goethe-Instituts.

Zum Werkkatalog gehören außerdem zahlreiche Transkriptionen, u.a. die Filmmusik aus Bergs „Lulu“ für das ensemble recherche, Schönbergs „Glückliche Hand“ im Auftrag des Konzerthauses Berlin für das Ensemble UnitedBerlin unter der Leitung von Peter Hirsch sowie, für das gleiche Ensemble, Henzes „Versuch über Schweine“ unter der Leitung von Vladimir Jurowski; eine Orchestrierung von Schönbergs Klavierstück op. 11 Nr. 2 wurde von Peter Gülke dirigiert.

Berthold Tuercke lehrt Musiktheorie und Komposition an der Universität der Künste Berlin.

Zahlreiche Publikationen, u. a. in den „Musik-Konzepten“ und in „Musik & Ästhetik“ kennzeichnen seine Arbeit als Musiktheoretiker.

Berthold Tuercke AUS GEIGEN STIMMEN

Texte

Da! Da, an den Strömen Babels, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.
There! There, by the rivers of Babel, there we sat and wept when we remembered Zion.
(nach dem ersten Vers aus Psalm 137)

„Un s’vareme fidele […] iz farshtumt.“ / „varem“ = gutherzig, sanft; „fidele“ = Geige (Diminutiv)
(aus Jacob Glatsteins Adaption des Psalms 137)

Nameless.
On a nomen.
Keyn nomen nit.

Farbay!
Ot ligt di daytshishe viole. Ibergelozt.
/„daytshish“ = deutsch (hier pejorativ)
No more.

Left behind the German viola. There it lies.


Ver zhe hot geshpilt di fidl, /„ver zhe“ = wer aber
vos vayzt dray mogn-dovids? / „mogn-dovid” = Davidstern

Avrom Mertshinski un zayne brider, / = Abram Merczinski
koydem Lodzh, dernokh Oyshvits, / koydem” = zuerst
un shpeter Dachau.
Geblibn lebn ale, oykh zayn fidl.


Dainty was Ruth Katzenstein.
Seven eighths her violin. Kindertransport to Antwerpen.
Soon to her parents in the New World.

Pavel Žálud, instrument maker.
His woodwinds, brasses, violins were played in Terezín, where he and his kin were also confined.
/ "Terezín" = Theresienstadt
No one survived.

Nor in droysn, afile in a regn, in shneyen /„afile“ = sogar
oyf der o fidl mit finef mogn-dovids a tsirung.
Tsimermans a fidl. Yankev Tsimerman fun Varshe.
/ = Yaacov Zimermann

They never got him. He had false papers.
Leon Schatzberg-Sawicki.
He played in cafés, at street corners all over Poland.
False papers. Imagine! They never got him.

Partizaner in di poylishe velder.
Asoyl Byelski un zayne brider, /
= Assael Bielski
vos hobn geratevet toyznt tsvey hundert draysik yidn./ „geratevet“ = gerettet

It’s the first he ever built.
Jacob Hakkert from Rotterdam.
He had left it at home when he was deported to that place, where his live ended on May twenty-second, nineteen-fourty-four.

„Der fidlshpiler shpilt un vert alts diner, din un diner, / „strune“ = Saite
shoyn diner funem fidl-boygn, diner fun a strune. / „har“ = Meister
Anshtot ir har, di fidl shpilt aleyn alts diner, diner, / „shayter“ = Scheiterhaufen
un oyf a vaysn shayter brent ir har far zayn emune. / „emune“ = Glaube

Di fidl shpilt atsind aleyn alts diner, din un diner, / „atsind“ = jetzt
der fidlshpiler kon ir keyn trunk vaser nit derlangen.
Aleyn di klangen shpiln un zey shpiln diner, diner,
biz vanen oyfn shayter glíen klangen, glíen klangen.

Es glíen klangen oyfn shayter, glíen din un diner,
shoyn shpilt aleyn di finsternish on fidl un on boygn.
Zi shpilt on klangen un ir shpiln – diner, diner, diner,
biz vanen mir tsefinklen zikh in ire shvartse oygn.
/ „tsefinklen zikh“ = funkeln

O, finsternish, far vemen shpilstu diner, din un diner. / „trer“ = Träne
Far undz, di kleyne trern? Iz bashert undz dayne gnodn? / „gnod“ = Gnade
Muzik fun trern. Kleyne trern. Diner, diner, diner,
tsuzamen mitn vaysn shayter un dem shvartsn bodn.“ / „Der Fidlshpiler“ (Abraham Sutzkever)

gleichzeitig gesprochen:

Look! There!
„The fidler plays becoming thinner, thinner, thinner.
Thinner than his fidl bow, thinner than a string.
Now the fidl plays alone, her sounds grow thinner?
Now the sounds play on their own becoming thinner, ever thinner!
Till the darkness plays alone – with neither bow nor fidl.
Playing soundlessly, its music – thinner, thinner?!”

(nach der englischen Übertragung des Gedichts „Der Fidlshpiler“ von Heather Valencia)

Vos far a fidl! Mit a prekhtikn mogn-dovid fun perl-muter.
Fanny and Alex Hecht.
Auschwitz, September seventeenth, nineteen-fourty-three.
Fanny’s Stradivari survived with the Christian neighbors in Amsterdam.
Hiding, fleeing, running, hiding.
Ḣana Asher with her violin and her husband in Holland until it was freed.
They came from that place. He and his violin. It had saved him. In the Lagerorchester.
Yes, it had saved him. But it would always remind him from what it had saved him.
So he sells it to Abraham Davidowitz, whose son played and guarded it.
    

Ha! Daytshishe fidlen!
Ir koyft zey nit?
Vel ikh zey tsebrekhn!

Babyn Yar. Tsendliker toyznter: Babyn Yar. / „tsendliker toyznter = zehntausende“

There it stood alone – even though they had survived together and made it to the desired land, where he left it standing in the corner.
A daytshisher Cello!
He was a Sinti or Roma.
Deported to that place.
Never returned.
Only his violin remained
with a castle engraved on the back.

Di mit-gefangene hobn zi im gebrengt?
Yo! Oyf ir tsu shpiln in lagerorkester.
Farn yungen, talantirtn
Maks Beker, fun Vilne. /
= Max Bekker
Stalag Acht bay Gerlits. Bafrayt fun di Amerikaner.

Sara yunge fidlers! / „sara“ = welch
Volf un Bunya Rabinovitsh, bruder un shvester. / = Wolf und Bunia Rabinowitz
Mit di letste fun Vilner geto tsu der grub in vald fun Ponár.

Ponár. Hundert toyznt mol: Ponár

„Shtiler, shtiler, lomir shvaygn, / „lomir” = lasst uns
kvorim vaksn do. / „kvorim” = Gräber

S’firn vegn tsu Ponár tsu,
s’firt keyn veg tsurik.

Shtiler, kind mayns, veyn nit, oytser, / „oytser” = Schätzchen
s’helft nit keyn geveyn.”
(aus dem „Lied von Ponar” von Shmerke Kaczerginski; Melodie: Alexander Wolkowyski)

Suddenly the train stops. Cattle waggons full of people from Lyon. There are workers on the rails.
Someone shouts through the window slit:
„Où je vais, je n’ai pas besoin du violon. Tiens! Pour qu’il vive!”
And through the slit he throws the case onto the rails.

She would not play it any more when she returned to Le Havre where she had left it behind. Violette Silberstein. Number Fifty-one thousand nine-hundred thirty-seven in that place, where she lost her parents and where she was saved by Alma Rosé.

Yes! Alma Rosé, the daughter of Arnold Rosé, Gustav Mahler’s niece, who gave Violette a violin to play in the Mädchenorchester.

Joyce Vanderveen. Teen-aged ballerina, violinist.
She survived in Holland’s northern edge.
Anne Frank had her picture on the wall.

He fled all the way to Tashkent where he died of Typhus.
Inside his violin sticks a handwritten note:

„Gemakht hob ikh di fidl far mayn
getrayen khaver Shimen Krongold. / „khaver” = Freund; = Shimon Krongold
Yankev Tsimerman,
Varshe nayntsn hundert fir un tsvantsik.“

There were still some dry and faded flowers inside the violin.
Cathérine, as a young girl, had picked them in a field,
Put them into the violin-case and stowed it away.
She would not play it any more, when she had learned that it belonged to a boy who had fled from Poland to Belgium and lived in her uncle’s house.
One day the boy did not return to his room.
The violin lay on his bed.

Feivel Wininger and his kin.
Deportation from Romania.
Standing for days in overcrowded waggons.
Window slits nailed. Unbearable heat. No air, no water.
To the swamps of Transnistria.
From there marching through the mud.
Killing and dying day-in, day-out.
Finally, to the Ukrainian ghetto Shargorod.
The violin saved him and his kin.

Tsvi Haftl. Tsvey kontsert-maysters. / = Zvi Haftel
Tsvi Haftl mit zayn frantseyzisher fidl zaynen bay tsaytns
avek fun Vin un geshpilt in orkester in Erets Yisroel.


Erich Winkel in Berlin, young and red in heart and brain, survived.
With him his Sinti-Roma-fidl against all brown fists.

Reb Yankev Vaynshteyn mit zayn mishpokhe. / = Rabbi Yaakov Weinstein
Umgekumen zey ale. In Treblinke, Oyshvits.
Amnon iz geven zayn eynikl. / „eynikl“ = Enkel

Het vayt zaynen zey antlofn. Biz Shanghay! / „antlofn“ = geflohen

Now another kind of silk. The Polish word is Jedwabne.
And there was a shtetl of that name. Jedwabne.
Nearby there was a barn.
Di yidn fun shtetl were driven into that barn.
Jedwabne.

 Di fidlroyz – / „fidlroyz” = Geigenrose
atsind nit keyn fidler – / „atsind” = jetzt
zi shpilt on a shpiler

lekoved / „lekóved” = zu Ehren
a vidergeboyrener
strune, lekoved a vidergeboyrenem veytik.“ / „strune” = Saite; „veytik“ = Schmerz
(aus „Di fidlroyz“ von Abraham Sutzkever)

Assaela Bielskis und Avshalom Weinsteins englische Dokumentation zum Schicksal der Instrumente ist ein „work in progress“. Auszüge daraus sind auf der Website „Violins of Hope“ veröffentlicht.

Die Gedichte „Der fidlshpiler“ und „Di fidlroyz“ sind erschienen in: Avrom Sutzkever, “Still My Word Sings. Poems Yiddish and English, edited and translated by Heather Valencia”, Düsseldorf 2017. Mit freundlicher Genehmigung der Düsseldorf University Press.

Das Zitat aus Jacob Glatsteins Nachdichtung des 137. Psalms ist entnommen aus: Jacob Glatstein, „I Shall Record“, Bergen-Belsen Memorial Press, New York, Tel Aviv 1987.

Gedichtauswahl in Zusammenarbeit von Lia Martyn und Berthold Tuercke.

Dr. Lia Martyn ist Lektorin für Jiddische Sprache und Literatur am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft an der Universität Potsdam und unterrichtet an der Jüdischen Volkshochschule der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Der Notensatz der Partitur und des Chor- und Orchestermaterials von AUS GEIGEN STIMMEN wurde von „Notengrafik Berlin“ erstellt.

 
Gideon Klein

Trio für Violine, Viola und Violoncello, bearbeitet als Partita für Streichorchester von Vojtěch Saudek

Komponieren in Theresienstadt

In den großen Musiklexika fehlte bis vor kurzem der Name Gideon Klein. Dafür stand er in den Listen, mit denen die SS die Insassen des KZ Theresienstadt registriert hatte. Eingeliefert am 4. Dezember 1941 in das „Musterghetto“, zwei Tage vor seinem 22. Geburtstag, gehörte der junge Musiker gemeinsam mit Hans Krasa, Pavel Haas, Rafael Schächter, Karel Ančerl und Viktor Ullmann zu denjenigen, die in dem Lager die „Großherzigkeit“ der Nazis zu spüren bekamen. Das Judenreservat Theresienstadt, wo seit 1942 Tausende von jüdischen Menschen vor allem aus Prag eingeliefert worden waren, sollte nach dem abgefeimten Plan der Nazis von außen wie das Paradies wirken.

Gideon Klein wurde 1919 als jüngstes Kind des Viehhändlers Jindřich (Heinrich) Klein und seiner Frau Helene, geb. Ilona Marmorstein, in der mährischen Kleinstadt Přerov geboren. Der Vater entstammte einer Familie böhmisch-mährischer Juden, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts nicht zum deutschen, sondern zum tschechischen Kulturkreis hin orientierten. Noch während der Schulzeit am Gymnasium in Prag erhielt Gideon Klein eine fundierte pianistische Ausbildung beim seinerzeit berühmten tschechischen Klavierpädagogen Vilém Kurz. Das Absolventenkonzert im Juni 1939 brachte ihm mit der Interpretation von Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 große öffentliche Reputation. Im Herbst 1939 immatrikulierte sich Gideon Klein in Prag noch für Studien der Musikwissenschaft und der Komposition. Am 17. November 1939 wurden durch die deutschen Okkupanten im Zuge der „Sonderaktion Prag“ sämtliche tschechischen Universitäten geschlossen und infolge der NS-„Rassegesetze“ allen jüdischen Studenten jegliches Studium verweigert. Ein Stipendium der Londoner Royal Academy of Music zum 1. September 1940 konnte Klein nicht mehr wahrnehmen, weil ihm die Ausreise verweigert wurde. Auch öffentliche Konzerte durfte er nun nicht mehr geben. Er trat deshalb zeitweise in privaten Kreisen unter dem Pseudonym Karel Vránek auf. Die Kompositionen aus dieser Zeit wurden erst Anfang der 1990er-Jahre von Milan Slavický im Nachlass der Familie von Kleins früherem Freund Eduard Herzog aufgefunden und gesichtet. Sie legen Zeugnis ab von dem außergewöhnlichen Können des jungen Komponisten. Nach seiner Internierung in Theresienstadt organisierte er im Lager Musikveranstaltungen, übernahm die Betreuung von Waisenkindern, erteilte Musikunterricht, trat als Pianist auf und studierte Kammermusik mit Gleichgesinnten ein. Darüber hinaus komponierte er Madrigale, Männerchöre, kammermusikalische Werke und Volksliedbearbeitungen für die mit ihm inhaftierten Dirigenten, Sänger und Instrumentalisten, eine beklemmend sorgfältig ausgewählte Schar genialer jüdischer Künstler der Zeit. „Zu betonen ist nur, dass ich in meiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht etwa gehemmt worden bin, dass wir keineswegs bloß klagend an Babylons Flüssen saßen und dass unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war“, notierte Viktor Ullmann 1944 in einem Aufsatz „Goethe und Ghetto“.

Wenige Wochen, nachdem im Sommer 1944 ein Propagandafilm über die angebliche Idylle in Theresienstadt gedreht worden war, wurden die Häftlinge Schub um Schub im Verlauf von sogenannten „Herbsttransporten“ in das KZ Auschwitz-Birkenau in die Gaskammern deportiert. Als Kleins eigene Deportation absehbar war, vertraute er seine Manuskripte der damaligen Theresienstädter Freundin und Mitinhaftierten Irma Semtzka an. Sie überlebte und händigte die Dokumente nach dem Krieg an Gideons Schwester Eliška (Lisa) Kleinová aus, die das KZ Auschwitz ebenfalls wie durch ein Wunder überlebt hatte. Lisa sorgte später für die Herausgabe der Werke, organisierte Konzerte und gründete 1994 die Gideon-Klein-Stiftung.

Gideon Klein war im Transport, der am 16. Oktober 1944 Nordböhmen verließ. Er überstand zunächst die Selektion auf der Rampe und wurde in das Außenlager Fürstengrube verbracht, wo er Zwangsarbeit in den Kohlegruben leisten musste. Über drei Monate hinweg hielt der junge Musiker durch. Als die Ostfront näher rückte, wurden auch die Außenlager mittels Todesmärschen geräumt. Wahrscheinlich wurde Gideon Klein unmittelbar vor der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 1945 von der SS erschossen. Er war damals 25 Jahre alt.

Wenige Wochen, nachdem im Sommer 1944 ein Propagandafilm über die angebliche Idylle in Theresienstadt gedreht worden war, wurden die Häftlinge Schub um Schub im Verlauf von sogenannten „Herbsttransporten“ in das KZ Auschwitz-Birkenau in die Gaskammern deportiert. Als Kleins eigene Deportation absehbar war, vertraute er seine Manuskripte der damaligen Theresienstädter Freundin und Mitinhaftierten Irma Semtzka an. Sie überlebte und händigte die Dokumente nach dem Krieg an Gideons Schwester Eliška (Lisa) Kleinová aus, die das KZ Auschwitz ebenfalls wie durch ein Wunder überlebt hatte. Lisa sorgte später für die Herausgabe der Werke, organisierte Konzerte und gründete 1994 die Gideon-Klein-Stiftung.

Gideon Klein war im Transport, der am 16. Oktober 1944 Nordböhmen verließ. Er überstand zunächst die Selektion auf der Rampe und wurde in das Außenlager Fürstengrube verbracht, wo er Zwangsarbeit in den Kohlegruben leisten musste. Über drei Monate hinweg hielt der junge Musiker durch. Als die Ostfront näher rückte, wurden auch die Außenlager mittels Todesmärschen geräumt. Wahrscheinlich wurde Gideon Klein unmittelbar vor der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 1945 von der SS erschossen. Er war damals 25 Jahre alt.

Kulturwille als Lebenswille

Besetzung und Inhalt des Streichtrios beziehen sich unmittelbar auf die final zugespitzte Situation, in der sich die Lagerinsassen befanden: Täglich rissen Häftlingstransporte Lücken in die Reihen der verfügbaren Musiker, ließen vertraute Kollegen, Freunde und Familienangehörige für immer verschwinden.

Alle drei Sätze des Trios von Gideon Klein verwenden mährische Volksmelodien. Heimatfreude will gleichwohl nicht aufkommen. Bitonal verzerrt und rhythmisch zerborsten, atmen die Volksmelodien in den Ecksätzen illusionslose Trauer, aber auch Charakterfestigkeit, Härte und Stolz. Kleins fortgeschrittenes kompositorisches Denken lässt eine Wandlung erkennen; statt dem Fokus auf Schönberg wie in den Frühwerken fällt sein Augenmerk nun eher auf Janáček. Dessen instrumentale Figurationen, gespickt mit scharf punktierten Rhythmen und ganztöniger Melodik schlagen direkt auf die herben Harmonien durch.

Im zentralen Satz, einer Variationenfolge über das Volkslied „Ta Kněždubská věž“ (Der Turm von Kněždub) macht ein schlichtes zehntaktiges Thema in äolischem Modus die Substanz aus. Das mährische Lied handelt von einem Jungen und seiner Liebsten, einem „wilden Gänslein“, das sich nicht zähmen lässt und auf den Kirchturm flüchtet. Dort tötet der Junge die Geliebte mit Gewehrschüssen, um sie zu besitzen. Wenn schon das musikalische Thema kein fröhliches sein kann – es steht im Zeitmaß „Lento“ (Langsam), so hat die Wiederholung am Ende, nun „Grave“ (schwer) überschrieben, jede Hoffnung verloren.

Ganz im Herzen des Werkes aber, in der Mitte des Mittelsatzes, schnürt eine Variation dem Zuhörer buchstäblich das Herz zusammen. Leise, schmucklos, einstimmig, in beiläufigem Andantino-Tempo und lapidarem 5/8-Takt kündet eine kleine Melodie von der gründlichsten aller Grausamkeiten, dem Auslöschen durch Vergessen.

Wider das Vergessen

Diese Musik ist ein Stück Widerstand durch ihre bloße Existenz. Menschliche Würde hat hier eine letzte Zuflucht gefunden. Oder wie es Viktor Ullmann 1944 im oben erwähnten Aufsatz ausdrückte: „Früher, wo man Wucht und Last des stofflichen Lebens nicht fühlte, weil der Komfort, diese Magie der Zivilisation, sie verdrängte, war es leicht, die schöne Form zu schaffen. Hier, wo man auch im täglichen Leben den Stoff durch die Form zu überwinden hat, wo alles Musische in vollem Gegensatz zur Umwelt steht: Hier ist die wahre Meisterschule, wenn man mit Schiller das Geheimnis des Kunstwerks darin sieht: den Stoff durch die Form zu vertilgen – was ja vermutlich die Mission des Menschen überhaupt ist, nicht nur des ästhetischen, sondern auch des ethischen Menschen.“

Das Manuskript des Streichtrios von Gideon Klein wird heute in der Gedenkstätte Terezín (ehemaliges KZ Theresienstadt) aufbewahrt. Es handelt sich um 14 Blätter, auf denen die drei Stimmen Geige, Bratsche und Cello getrennt niedergeschrieben sind. Eine Partitur ist nicht vorhanden. Als Entstehungsdaten der drei Sätze sind vermerkt: 1. Satz 5.9.1944, 2. Satz 21.9.1944, 3. Satz 10.7.1944.

Der tschechische Komponist Vojtĕch Saudek, einstiger Klavierschüler von Lisa Kleinová, bearbeitete das Streichtrio für Streichorchester, um es einem größeren Publikum zugänglich zu machen. „Klein hat seine Musik nie gehört, er schrieb sie und wusste nicht, ob sie erhalten wird. Er konnte keinen Vorteil von ihr erwarten, er schrieb, weil es sein inneres Bedürfnis war, seine einzige Verbindung zum Leben.“ (Vojtĕch Saudek)

Mieczysław Weinberg

Streichquartett Nr. 5 B-Dur op. 27, Einrichtung für Streichorchester von Vladimir Jurowski und Steffen Georgi, Erstaufführung

Moshe Weinsteins eigene Geige

„JHV 6. Die Geige, die Moshe Weinstein gehörte, gebaut von: Johann Gottlieb Ficker um 1803.

Spielniveau: Ausgezeichnet. Diese Geige war eine lebenslange Freundin von Moshe Weinstein, unserem Geigenbauer der ersten Generation. Der kleine Moishale, geboren in einem Schtetl in Osteuropa, verliebte sich in den Klang der Geige. Es geschah, als eine Klezmer-Gruppe in das Schtetl kam, um bei der Hochzeit eines reichen Mannes zu spielen. Während sich alle Kinder unter dem Tisch versammelten, um Süßigkeiten zu verstecken und zu stehlen, war Moishale vom Klang der Musik hypnotisiert. Nach ein paar festlichen Tagen verließ die Truppe die Stadt und mit ihr Moishale, der den Klezmorim aus der Stadt folgte. Seine Mutter Ester suchte vergeblich nach dem Jungen. Als er gefunden und nach Hause geschleppt worden war, bekam er zuerst eine Strafe und dann – eine sehr einfache Geige! Dies war ein Wendepunkt in unserer Familiengeschichte. Moishale brachte sich das Spielen selbst bei und studierte später an der Musikakademie in Vilnius, wo er die Pianistin Golda kennenlernte. Beide wanderten 1938 nach Palästina aus.

Bevor er Europa verließ, ging Moshe Weinstein nach Warschau, um bei Yaacov Zimermann das Reparieren von Streichinstrumenten zu erlernen. Da die meisten Juden Geige spielen, dachte Moshe, würden sie in dem neuen Land einen Geigenbauer brauchen. Er arbeitete zunächst in einem Obstgarten und pflückte Orangen, ein Jahr später eröffnete er ein Geigengeschäft in Tel Aviv.

Getreu der Tradition, jungen Wunderkindern bei ihren ersten Schritten in der Musik zu helfen, unterstützte er viele talentierte israelische Kinder, darunter Shlomo Mintz, Pinchas Zukerman, Yitzhak Perlman und viele andere.“ (Avshalom Weinstein)

Mieczysław Weinbergs Flucht

Die Geige spielt in der jüdischen Kultur eine exponierte Rolle. Auch der polnisch-jüdische Komponist Mieczysław Weinberg erweist sich in seinen Werken als genauer Kenner der Möglichkeiten der Violine. Bei Weinberg kommt zu dem traditionellen Moment noch ein biographisches hinzu: die Erinnerung an den Vater.

Mieczysław Weinberg wurde am 8. Dezember 1919 in Warschau geboren, wo sein Vater, ein namhafter Geiger, als Komponist und brillanter Musiker am jüdischen Theater engagiert war. Beide Eltern waren Juden, stammten aus Bessarabien, dem südwestlichen Teil des damaligen zaristischen Reiches. Dort, im moldawischen Chişinău (früher russisch: Kischinjow), waren am 19. und 20. April 1903 bei einem grauenhaften Pogrom der Urgroßvater und der Großvater väterlicherseits ermordet worden. Die Familie entging mit der Auswanderung nach Warschau einem zweiten Pogrom in Kischinjow, bei dem 1905 erneut zahlreiche Juden von ihren bis dahin friedlichen russischen Nachbarn erschlagen wurden.

Die Familie richtete sich in Warschau ein, zehnjährig debütierte Mieczysław als Pianist und Dirigent am Theater, mit zwölf begann der Hochbegabte ein Klavierstudium bei Jozef Turczynski am Konservatorium. Obwohl sein Vater durch die Schließung des Theaters arbeitslos wurde und der jugendliche Weinberg durch Nebenverdienste die Familie über Wasser halten musste, schien ihm eine Zukunft als internationaler Klaviervirtuose bevorzustehen, bis im September 1939 die deutschen Nationalsozialisten Polen überfielen.

Der zwanzigjährige Mieczysław Weinberg spielte am Abend des 6. September 1939 im Café Adria, einem beliebten Tanzlokal. „Ich kam heim. Ich erinnere mich, dass meine Mutter mir Apfelkompott und Schinkenbrote anbot [woraus zu entnehmen ist, dass die Familie nicht zu den orthodoxen Juden gehörte]. Die ganzen letzten Tage hatte die polnische Propaganda uns versichert, dass unsere Armee erfolgreich kämpfe. Plötzlich jedoch verbreitete der Rundfunk einen Befehl: Da der Feind [...] sich Warschau nähere, sollten alle Männer die Stadt verlassen. Mutter und ich waren in furchtbarer Panik. Am nächsten Morgen verließ ich Warschau mit meiner kleinen Schwester in Richtung Osten. Da sich ihre Füße in den Schuhen wund scheuerten, kehrte sie bald wieder zu Mutter und Vater zurück. Ich aber setzte meinen Weg fort.“

Immer wieder entkam der junge Mann knapp den Granaten und dem Gewehrfeuer. Praktisch ohne Nahrung und in ständiger Lebensgefahr schlug sich eine Gruppe von Flüchtlingen, der er sich angeschlossen hatte, siebzehn Tage lang durch. Einmal überredeten sie einen Bauern, sie auf seinem Anhänger mitzunehmen. Doch eine andere Gruppe bot dem Bauern zehnmal so viel Geld. Kurze Zeit später fanden sie den Anhänger mit der anderen Gruppe – alle getötet durch einen deutschen Tiefflieger.

„Wir erblickten vor uns eine Straße, vielleicht einen halben Kilometer entfernt. Zwei oder drei Juden, erkennbar an ihrer Kleidung, gingen diese Straße entlang. Im selben Augenblick kam ein Motorrad. Ein Deutscher sprang ab, und seinem Gestikulieren konnten wir entnehmen, dass er nach dem Weg fragte. Den beschrieben sie ihm präzise: hier lang, da lang, rechts, links. Er sagte wahrscheinlich ‚Danke schön‘, setzte sich wieder auf sein Motorrad, ließ den Motor an, und als die Juden sich wieder in Bewegung setzten, warf er eine Handgranate zwischen sie, die sie in Stücke riss. Ich hätte leicht auf dieselbe Weise ums Leben kommen können. Es war leicht zu sterben.“ (Mieczysław Weinberg)

Entwurzelt

„Die Deutschen standen auf der einen Seite, ihre Maschinengewehre auf die Demarkationslinie gerichtet, wo Tausende Polen und Juden auf die Genehmigung warteten, sowjetisches Territorium zu betreten. Auf der anderen Seite waren berittene sowjetische Grenzschützer. Ich werde nie vergessen, wie Mütter mit ihren Kindern die Beine der Pferde streichelten und darum bettelten, so schnell wie möglich auf die sowjetische Seite wechseln zu dürfen. Schließlich durften sie es: Eine Anordnung traf ein, die Flüchtlinge ins Land zu lassen. Es wurde eine Abteilung zusammengestellt, die die Dokumente prüfen sollte, doch geschah dies ziemlich nachlässig, da so viele Menschen warteten. Als ich an der Reihe war, wurde ich gefragt: ‚Nachname?’ – ‚Weinberg.’ – ‚Vorname?’ – ‚Mieczysław.’ – ‚Mieczysław? Was heißt das? Sind Sie Jude?’ – ‚Ja, ich bin Jude.’ – ‚Dann heißen Sie Moisei.’“

Weinberg musste alles zurücklassen, was er nicht tragen konnte. Er erhielt einen neuen Vornamen, eine neue Identität als Moisei Vainberg. Viele Jahre später erfuhr er, dass sein Vater, seine Mutter und seine kleine Schwester von den Faschisten im Lager Trawniki, vierzig Kilometer östlich von Lublin, ermordet worden waren.

Weinberg ging in die weißrussische Hauptstadt Minsk, wo er bei Wassili Solotarjow, einem Schüler Balakirews und Rimski-Korsakows, Komposition studierte. Am Tage nach seiner Abschlussprüfung im Juni 1941 griff die Wehrmacht die Sowjetunion an, und Weinberg musste abermals fliehen, diesmal nach Usbekistan, eine der sowjetischen Teilrepubliken im Südosten. In der usbekischen Hauptstadt Taschkent fasste er Fuß als Korrepetitor an der Oper. Er lernte viele ebenfalls evakuierte Künstler kennen, darunter den bedeutenden Regisseur, jüdischen Theaterdirektor und Schauspieler Solomon Michoels (Wowsi), dessen Tochter Natalja er heiratete. Auch Dmitri Schostakowitsch erfuhr von Weinbergs großer Begabung. Als ihm die Partitur von dessen erster Sinfonie gebracht wurde, beeindruckte sie ihn so sehr, dass er sich persönlich um eine Aufenthaltsgenehmigung für Weinberg in Moskau bemühte. Dankbar nahm Weinberg das wertvolle Angebot an und übersiedelte mit seiner Frau 1943 in die sowjetische Hauptstadt. Es begann eine enge Freundschaft zwischen den beiden Komponisten. Sie spielten sich gegenseitig ihre Kompositionen vor, wobei Weinberg als versierter Pianist von Schostakowitsch immer wieder eingeladen wurde, auch bei Konzerten aufzutreten. Die Wertschätzung war wechselseitig, beide gaben später an, einander viel zu verdanken.

Verdrängt

Weinberg lebte ein unauffälliges Leben als Ausländer und Jude in der Sowjetunion. Man ließ ihn äußerlich weitgehend in Ruhe. 1948 ermordete Stalins Geheimpolizei seinen Schwiegervater Solomon Michoels, den man als Gefahr für das Regime betrachtete. Schließlich wurde Weinberg selbst am 6. Februar 1953 verhaftet. Seine Frau war die Cousine von Solomons Bruder Miron Wowsi, dem Hauptangeklagten der „Mörder im weißen Kittel“ bei dem geplanten antisemitischen Prozess gegen die „Verschwörung der Kremlärzte“, welche der paranoide Staatschef Stalin und die Geheimpolizei willkürlich erfunden hatten.

Stalins Tod einen Monat später rettete sowohl Wowsi als auch Weinberg das Leben. 43 weitere Jahre lebte Weinberg in Moskau, ohne zu Lebzeiten die Position unter den sowjetischen Komponisten einnehmen zu können, die der Qualität seiner Musik entsprochen hätte. Weinbergs Werkverzeichnis umfasst mehr als 150, bis heute zumeist ungedruckte Werke; dazu kommen etwa 350 Kompositionen ohne Opuszahl, Lieder, Chöre, Film-, Theater- und Hörspielmusik. Gut ein Dutzend Bühnenwerke, 26 Sinfonien, 17 Streichquartette und 28 Sonaten für verschiedene Instrumente stehen an der Spitze seines Œuvres. Humor und Tragik rangieren in Weinbergs wie in der meisten jüdischen Musik gleichauf, das Spektrum reicht vom Requiem bis zur Zirkusmusik. „Viele meiner Werke befassen sich mit dem Thema des Krieges. Dies war leider nicht meine eigene Wahl. Es wurde mir von meinem Schicksal diktiert, vom tragischen Schicksal meiner Verwandten. Ich sehe es als meine moralische Pflicht, vom Krieg zu schreiben, von den Gräueln, die der Menschheit in unserem Jahrhundert widerfuhren.“

Fröhlich und traurig

Während die Geigen zu Beginn unseres Konzertes als Zeitzeugen ihre eigene Geschichte ins Gedächtnis gerufen haben, sind die Kompositionen von Gideon Klein und Mieczysław Weinberg – beide waren Jahrgang 1919 – selbst Zeitzeugen. So unterschiedlich der Lebensweg der beiden Komponisten auch verlaufen ist, spiegelt doch ihre Musik essentielle Erfahrungen von Menschen am Rande des von anderen Menschen willkürlich herbeigeführten, gewaltsamen Todes.

Das Streichquartett Nr. 5 komponierte Mieczysław Weinberg im Jahr 1945, zur gleichen Zeit, als Richard Strauss – gefühlte Lichtjahre von ihm entfernt – an den „Metamorphosen“ arbeitete. Und doch war Weinbergs wie Strauss’ Hauptantrieb eine unbedingte, schier unheimliche Sehnsucht nach reiner, unschuldiger Schönheit. Gleichwohl könnte jene halbstündige Musik, die jeweils aus diesem starken Bedürfnis erwuchs, verschiedener nicht sein. Für Weinberg spielen Sentenzen der Trauer, der Angst, der Verzweiflung und, in zentraler Position, das immense Schuldgefühl eines Überlebenden eine nicht zu überhörenden Rolle, aber auch Momente der Hoffnung und der Zuversicht – musikalisch stark verwandt mit einigen Werken seines Zeitgenossen und Freundes Dmitri Schostakowitsch.

In fünf Sätzen, Melodie, Humoreske, Scherzo, Improvisation, Serenade, entfacht Weinberg die ganze Bandbreite, die ein menschlicher Puls durchmachen kann an Erregung, ja Raserei, aber auch an Lähmung bis hin zum Stillstand. Unweigerlich stürzt man in ein Wechselbad der Gefühle, sofern man sich auf diese Musik einzulassen vermag. Weinberg nutzt die klanglichen Möglichkeiten der Mitglieder der Familie der Streichinstrumente bis an den Rand aus. Von beseeltem Gesang über temperamentvollen Tanz bis hin zum verzweifelten Schreien und tonlosen Verstummen ist alles auskomponiert. Prominente Aufgaben bekommen immer wieder einzelne Soloinstrumente, neben Cello und Bratsche vor allem die Geige.

Fokus auf die jüdische Musik

Während in den meisten Werken, die sich mit dem Holocaust befassen, die Mahnung und die Anklage der NS-Verbrechen im Zentrum stehen, findet man selten darin eine Erinnerung an die jüdische Welt, die durch den Holocaust vernichtet worden ist. Zwölftontechnik, Atonalität, expressive Rhythmik, elektronische Verarbeitung kennzeichnen die musikalische Auseinandersetzung des Westens mit dem Holocaust. Für die jüdische Musik hat aber vor allem die Melodik eine Bedeutung, ein Parameter, der von vielen zeitgenössischen Komponisten im Westen bewusst vermieden wird. Osteuropäische Komponisten, darunter auch ehemals sowjetische, bedienen sich hingegen gerade der jüdischen musikalischen Elemente, etwa übermäßiger Sekundengänge und jüdischer Tanzrhythmen (z.B. des Freylekhs), sowie der der jüdischen Musik verwandten Volksmusik aus Polen, Moldawien, Litauen, der Ukraine oder Rumänien. Sie stellen sich auf die Seite der Opfer und beziehen damit nicht zuletzt Position gegen aktuelle antijüdische Stimmungen im eigenen Land.

Eingedenk der authentischen Verlusterfahrungen just in dieser Musik von Mieczysław Weinberg, die sich anno 1945 ohne Weiteres auf das gesamte jüdische Volk projizieren ließen, wählte Vladimir Jurowski das Streichquartett Nr. 5 für den Abschluss des heutigen Konzertes aus. Obwohl Weinberg selber im Jahre 1990 dieses Streichquartett in die Gestalt der Kammersinfonie Nr. 3 überführt hat, finden sich dort nur ansatzweise die Intentionen der ursprünglichen Musik. Aus diesem Grund war es dem Chefdirigenten des RSB ein Anliegen, das ursprüngliche Streichquartett zu behalten, jedoch für Streichorchester einzurichten. Gemeinsam mit Steffen Georgi erarbeitete Vladimir Jurowski die Fassung für Streichorchester, die heute Abend ihre Premiere erlebt. Mit Unterstützung des Verlages Peermusic erstellten Mutsumi und Carlos Solare von der Notenbibliothek der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin in akribischer Kleinarbeit die neue Partitur. Noch während des Probenprozesses haben sich etliche RSB-Musikerinnen und -Musiker mit wertvollen Hinweisen eingebracht, welche die Spielbarkeit der Streichorchesterfassung zusätzlich optimiert haben.

Auf die raumgreifende, elegische Melodie des ersten Satzes folgt eine schlendernde Humoreske, welche den unversiegbaren jüdischen Humor hervorzaubert. Mit brutaler Wucht fährt das Scherzo dem Spaß in die Seite, nimmt giftige Momente aus dem Werk des dreizehn Jahre älteren Kollegen und Freundes Schostakowitsch frappierend vorweg. Ganz besonders sind sich Weinberg und Schostakowitsch in einem einig: Wo es derb-lustig wird, ist der Abgrund nicht weit. Das Strampeln nach Heiterkeit mutet hilflos an, trotz aller hektischen Energie. Die Verlusterfahrungen, Wunden und Ängste sind tief eingebrannt. In dem mit „Improvisation“ überschriebenen Satz kehrt Weinbergs Musik zum Ton der Wehmut zurück, erzählt vom Alleinsein und Vergessenwerden. Diesem Gefühl zu wehren, sind wir heute auf dem Podium.

Steffen Georgi

Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Wolters, Rainer
Nebel, David
Herzog, Susanne
Neufeld, Andreas
Yoshikawa, Kosuke
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Feltz, Anne
Kynast, Karin
Morgunowa, Anna
Pflüger, Maria
Polle, Richard
Stangorra, Christa-Maria
Tast, Steffen
Behrens, Susanne
Ries, Ferdinand
Bernsdorf, Romina
Stoyanovich, Sophia
Guillier, Antoine

Violine 2

Contini, Nadine
Kurochkin, Oleh
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Bara-Rast, Ania
Buczkowski, Maciej
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Hetzel de Fonseka, Neela
Manyak, Juliane
Palascino, Enrico
Seidel, Anne-Kathrin
Bauza, Rodrigo
Shalyha, Bohdan
Hagiwara, Arisa
Sak, Muge
Weinstein, Sevil

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Rinecker, Lydia
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Drop, Jana
Doubovikov, Alexey
Inoue, Yugo
Yoo, Hyelim
Kantas, Dilhan
Markowski, Emilia
Maschkowski, Anastasia
Olgun, Berkay
Balan-Dorfman, Misha

Violoncello

Hornig, Arthur
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Bard, Christian
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Kalvelage, Anna
Paetsch, Raphaela
Meiser, Oliwia

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Yeung, Marco

RIAS Kammerchor Berlin © Matthias Heyde

Abendbesetzung RIAS Kammerchor

Chor Bühne

Sopran

Krispin, Sarah
Miller, Jana
Petersen, Anja
Petitlaurent, Stephanie
Poulsen, Birita
Weiß, Fabienne

Alt

Bartsch, Ulrike
Markowitsch, Franziska
Mbodjé, Julienne
Rützel, Hildegard

Tenor

Buhrmann, Joachim
Hong, Minsub
Nietzke, Volker
Gaubitz, Johannes

Bass

Drexlmeier, Stefan
Horenburg, Ingolf
Schneider, Valentin
Zaens, Jonathan E. de la Paz

Chor Links

Sopran

Hohlfeld-Redmond, Katharina
Lösch, Anette

Alt

Hinz, Magdalena
Löbbert, Sibylla Maria

Tenor

Genslein, Jörg
Büttner, Friedemann

Bass

Mayr, Paul
Raschke, Marcel

Chor rechts

Sopran

Tschimpke, Esther
Wiemker, Viola

Alt

Herzog, Marlen
Poczykowska, Helena

Tenor

Arndt, Volker
Roterberg, Kai

Bass

Preckwinkel, Rudolf
Rumpf, Felix

Kooperation

Deutschlandfunk Kultur

Bildrechte

Bilder Vladimir Jurowski © Peter Meisel
Bilder Probe © Peter Meisel
Bild RIAS Kammerchor © Matthias Heyde