Digitales Programm
Mi 18.9. Vladimir Jurowski
20:00 Konzerthaus
Johannes Brahms
Variationen über ein Thema von Joseph Haydn B-Dur op. 56a
Felix Mendelssohn Bartholdy
Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. 64
Pause
Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68
Besetzung
Vladimir Jurowski, Dirigent
Alina Ibragimova, Violine
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Ralf Sochaczewsky, Assistent des Chefdirigenten
Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Steffen Georgi
Inniges Herzensjuwel trifft „Beethovens Zehnte“ (von Brahms)
In die Fußstapfen von Beethoven solle er treten, riet Robert Schumann öffentlich seinem jungen Kollegen Johannes Brahms. Der nahm die Herausforderung wörtlich – und zögerte vierzehn Jahre, ehe er sich reife genug fühlte, sie einzulösen. Prompt wurde Brahms‘ Sinfonie Nr. 1 sogleich nach ihrem Erscheinen als „Beethovens Zehnte“ (Hans von Bülow u.a.) apostrophiert. Manchen Zeitgenossen galt sie aber auch als übermäßig schwer und düster. Brahms reagierte darauf mit der vermeintlich heiteren Sinfonie Nr. 2. Vladimir Jurowski wird sie am Ende alle vier mit dem RSB präsentieren – Nummer 1 und 4 in dieser Saison. Daneben erklingen in den RSB-Programmen 24/25 andere zentrale und – glücklicherweise – auch weniger zentrale Werke von Brahms. Vielleicht vermag das Finale der Sinfonie Nr. 1 die letzten Vorbehalte gegen den norddeutschen Bärbeiß zum Schmelzen bringen? „Der letzte Satz ist überwältigend. Bei dem Hornsolo zittern alle Herzen mit den Geigen um die Wette.“ (Theodor Billroth, 1876)
Joseph Joachim, der große Geiger des 19. Jahrhunderts, der einst mit seinem Freund Brahms um die Wette komponiert hatte, urteilte ohne Umschweife: „Die Deutschen haben vier Violinkonzerte. Das größte, konzessionsloseste stammt von Beethoven. Das von Brahms, in seinem Ernst, eifert Beethoven nach. Das reichste, das bezauberndste schrieb Max Bruch. Das innigste aber, das Herzensjuwel, stammt von Mendelssohn.“
„Muss es sein?“ Podcast zum Konzert
Johannes Brahms
Variationen über ein Thema von Joseph Haydn B-Dur op. 56a
Brav wie Brahms?
„Es ist zu beweisen, daß Brahms, der Klassizist, der Akademische, ein großer Neuerer, ja, tatsächlich ein großer Fortschrittler im Bereich der musikalischen Sprache war“, begann Schönberg seinen berühmten Vortrag „Brahms, der Fortschrittliche“ 1933 im Frankfurter Rundfunk.
Verschieden Gleiches
Veränderungen, Paraphrasen, Metamorphosen – Variationen. Sie durchziehen die Musikgeschichte von Monteverdi bis Mundry. Der aktuelle „Bonner Katalog“ der Orchestermusik weist mehr als 900 Werke aus, die den Begriff Variation im Titel tragen. Doch über einprägsamen Bezeichnungen wie den Bachschen Goldberg-Variationen, den (33!) Diabelli-Variationen von Beethoven, den Brahmsschen Haydn-Variationen bis hin zu einer Reihe von Variationenwerken aus der Feder von Reger sollten all die Paraphrasen und Fantasien nicht vergessen werden, die u.a. Franz Liszt oder Leopold Stokowski über diverse fremde Musik verfasst haben, nicht zu schweigen von den Charaktervariationen eines Chopin, eines Mendelssohn, eines Elgar. Endlich darf der Stellenwert der Variation für die Musik der Avantgarde nicht unerwähnt bleiben. In der seriellen Musik, so scheint es, ist alles nur noch Variation.
Musikalische Architekten wie Bach und Beethoven entwickelten aus der Lust am Fantasieren und Improvisieren über ein vorgegebenes oder selbst erdachtes Thema jene besondere Qualität musikalischer Verarbeitung, die in der Durchführung des Sonatenhauptsatzes zunächst ihren Höhepunkt fand.
Hier wurden die in der Exposition aufgestellten Themen „durchgeführt”, d.h. variiert. Zunächst nur mit dem Ziel verbunden, ein weit außerhalb der Haupttonart liegendes harmonisches Feld zu erkunden, kamen den Variationen schnell auch übergreifende formale und strukturelle Aufgaben zu. Etwa Schuberts Variationen über die eigenen Lieder „Der Tod und das Mädchen“ und „Die Forelle“ stehen für die neue Dimension der Variation.
„Immer mehr wird die Durchführung zum eigentlichen Kern des gesamten Satzes, und nach und nach bestimmt ihr Verfahren – jenes der Variation – die gesamte Form. Bei Brahms etwa wird das Seitenthema nur zu einem gewissen Teil als Kontrast zum Hauptthema eingeführt: man kann es in der Regel als Variation eines zentralen Motivs verstehen, welches schon im Hauptthema eine Rolle spielt. Mehr noch: Gerade bei Brahms findet man kaum noch eine Note, die nicht in irgendeinem Verhältnis zu einer zentralen Idee steht – kaum ein Einfall, der sich letztlich nicht als Teil einer Variation erklären ließe. Die Wagnerianer – nicht zuletzt der Meister selbst – haben das noch für einen Mangel an Erfindungsgabe gehalten.“ (Michael Michaelis)
Haydn zu Ehren
Eine einfache Melodie im Zweivierteltakt, im Grunde vor allem deren erstes Motiv, hat Brahms’ Fantasie entzündet. Brahms fand den „Chorale St. Antoni“ 1863 in einem Manuskriptstapel des Wiener Archivars Karl Ferdinand Pohl. Pohl, Haydns erster Biograph, hielt die Melodie für Haydns Idee, auch wenn sie weder in dessen Handschrift vorlag noch irgendein Hinweis auf die Autorschaft existierte. Gleichviel ob der Choral nun von Haydn selber, von seinem Schüler Ignaz Pleyel oder gar einfach aus einem alten anonymen Wallfahrerlied stammen mag, der Gesang auf den Hl. Antonius findet sich zuerst in einer sogenannten Feldpartie B-Dur Hob II:46 von Haydn. Diese Harmoniemusik für Fürst Paul Anton II. von Esterhazy, formal verwandt der Partita, dem Divertimento, der Cassatio oder dem Notturno wäre wohl heute vergessen, wenn Brahms sich ihrer nicht angenommen hätte. Der angehende Sinfoniker setzte die ungewöhnlich basshaltige Freiluft-Bläsermusik (3 Fagotte und Serpent/ Kontrafagott) für großes Orchester und fantasierte darüber in acht Variationen und einem Finale.
Ein Meilenstein auf dem Weg zur Sinfonie also sind die Variationen über das Thema von (vielleicht) Joseph Haydn. Doch erstens gibt es sie gleichberechtigt zur Orchesterfassung in einer parallel entstandenen Fassung für zwei Klaviere und zweitens sind sie seit ihrer Uraufführung am 1. November 1873 durch die Wiener Philharmoniker unter Brahms’ Leitung weit mehr als nur eine Vorstufe zu Bedeutenderem.
Bass mit Charakter
Brahms entfaltet den „Chorale Sti. Antonii“ zunächst in Originalgestalt, differenziert ihn aber dreifach in der Lautstärke und vergrößert ihn auf die Zahl von zweimal fünf Takten. Bereits in der ersten Variation setzen die Streicher dem Thema Gegenthemen in Akkordbrechungen und doppelter Bewegung entgegen, das Ganze zu einem dichten Gewebe verflechtend. In der zweiten Variation wird das Tempo weiter gesteigert. Die Ausgangstonart B-Dur wechselt nach b-Moll, nochmals in der vierten und achten Variation. Variation III umrankt das Thema und hält die Orchesterstruktur trotzdem durchsichtig. Nach den drei ersten sich in der Bewegung stetig steigernden Variationen nimmt die vierte das Tempo wieder zurück und variiert den Rhythmus: Aus dem 2/4- wird ein 3/8-Takt. Darauf folgen zwei lebhafte Vivace-Varianten. Variation VII zeichnet sich vor allem durch ihren wiegenden „Siciliano“-Rhythmus aus, motivisch denkbar weit entfernt vom Ursprungschoral. Die letzte Variation schließlich gestaltete Brahms als derbes Scherzo in Moll, durchsetzt mit charakteristischen Synkopen.
Das Finale nimmt fast die Hälfte des kleinen Zyklus ein. Es ist ein kunstvolles kontrapunktisches Gebäude über einem insgesamt siebzehn Mal wiederholten, fünftaktigen, ostinaten (gleichbleibenden) Bassthema, das sich an das Hauptthema anlehnt – wie überhaupt das Urthema in der Basslinie quasi ununterbrochen (wenn auch manchmal vor lauter „Orchestergewitter“ kaum noch wahrnehmbar) präsent bleibt.
Ganz am Ende kehrt das ursprüngliche Thema wieder, zugleich vertraut und doch neu, aufgeladen mit Assoziationen aus der vorhergehenden Reise. Brahms war durch das genaue Studium von Bachs Goldberg-Variationen mit der vorklassischen Satzkunst vertraut. Dort bildete oft die durchgehende Bassstimme das Grundgerüst der Komposition, eine Technik, die Brahms bereits in seinen Händel-Variationen anwendete. Das Finale der Haydn-Variationen fand später ein gewichtiges Pendant in Brahms’ Sinfonie Nr. 4, deren letzter Satz über einem festen Gerüst, einem Chaconne-Thema, aufgebaut ist. Auch Beethoven verwendete einen feststehenden Bass: in seiner „Sinfonia eroica“.
Felix Mendelssohn Bartholdy
Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. 64
Zwischen Wonne und Wehmut
Was aber sollte über das Violinkonzert sonst gesagt werden? Es ist das sorgfältig ausgearbeitete Werk eines 35-Jährigen, eines reifen Komponisten, der als Wunderkind begonnen hatte, als Erwachsener ähnlich wie Mozart nie seinem Rang entsprechend wahrgenommen wurde und der viel zu jung – im Alter von 38 Jahren – für immer gehen musste. Es ist eine schwer errungene summa einer Epoche, ein Werk des Abschieds. Jahrelange Feinarbeit war auch für ein Genie wie Mendelssohn notwendig, um dem Violinkonzert bei aller filigranen Schwerelosigkeit solche stolzen Charaktere wie Hoffnung und Resignation, Aufschwung und Elegie, Schmerz und Liebe mitzugeben. Die antagonistische Spaltung der Gefühle entsprang nicht zuletzt den politischen und sozialen Verhältnissen in Deutschland. Zu Mendelssohns persönlichen Bitternissen gehörten trotz aller Privilegien die alltäglichen Erfahrungen, die aus seiner jüdischen Herkunft resultierten, sie waren weder durch die christliche Taufe noch durch kulturelle Assimilation aufgehoben oder gar ausgelöscht worden.
Mendelssohn hatte dem Konzertmeister des Gewandhausorchesters zu Leipzig, dem er selbst als Kapellmeister vorstand, bereits am 30. Juli 1838 versprochen: „Ich möchte Dir wohl auch ein Violinkonzert machen für nächsten Winter; eins in e-Moll steckt mir im Kopfe, dessen Anfang mir keine Ruhe lässt.“ Ferdinand David hatte sich sechs Jahre zu gedulden, bis der Freund seinem Versprechen nachgekommen war. Wenig später spielte auch Joseph Joachim das Violinkonzert. Er urteilte ohne Umschweife: „Die Deutschen haben vier Violinkonzerte. Das größte, konzessionsloseste stammt von Beethoven. Das von Brahms, in seinem Ernst, eifert Beethoven nach. Das reichste, das bezauberndste schrieb Max Bruch. Das innigste aber, das Herzensjuwel, stammt von Mendelssohn.“
Ohne zu wollen
Frei von allen irdischen Lasten, unbeschwert im tieferen Sinn, scheint die Solovioline zu schweben, wenn sie ganz ohne virtuose Zudringlichkeit den ersten Satz beginnt. Hier ist kein Platz für ein artiges Orchesterritornell, wie es damals jedes „normale“ Solokonzert einzuleiten pflegte.
Auch die Präsentation von markanten Themen, die dann in bewährter Sonatenhauptsatzform miteinander korrespondieren könnten, fehlt. Die Solokadenz folgt einzig aus der inneren Spannung der Musik, nicht aus einer Regel. Das begleitende Orchester wird von der Violine weder in die Rolle eines Steigbügelhalters gedrängt, noch hat es als dialogischer Widerpart herzuhalten. Auf schier entwaffnende Art und Weise enthält sich Mendelssohn jeglicher Eitelkeit. Winzige Motive sind es, Gesten nur, die er andeutet, ausprobiert, fortspinnt, zurückführt, ausblendet. Nur den geheimnisvollen Gesetzen ewiger Schönheit und Harmonie scheint sein zartes Gespinst zu gehorchen. Es weiß um die reichen Differenzierungsmöglichkeiten der Violine, kennt die lyrische Qualität von Beethovens Violinkonzert, respektiert sogar die Produktionen der Zeitgenossen, etwa jene von Louis Spohr. Aber das Konzert lebt von derselben vollendeten, dimensionslosen Absichtslosigkeit, die auch vielen Instrumentalwerken von Wolfgang Amadeus Mozart eigen ist.
Liedersinfonie mit Violine
Hat es deswegen keine Botschaft an uns? O doch, wird jeder Musikfreund strahlend bestätigen. Es singt, jubelt, weint, lacht und tröstet wie kaum ein anderes Violinkonzert. Einen Kosmos von Bildern, Ideen und Leidenschaften zaubert es vors innere Auge, in die Gedanken, ins Herz – oder wo immer die Seele wohnen mag, ganz ohne Worte. Es war ein Vorzug der vergleichsweise kurzen Epoche der musikalischen Romantik, beredt zu sein ohne Text. Ganz deutlich vernehmen wir die unmittelbare und unverwechselbare Substanz der Musik. Wollen wir sie mit den Begriffen der Sprache oder mit Stift und Pinsel des Zeichners festhalten, löst sie sich in Luft auf. Mendelssohns eigene Musik zu Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“, Webers „Oberon“ oder Schuberts Kammermusik, all das fasst das Violinkonzert zusammen, ohne entstehungsgeschichtlich noch zu dieser Epoche zu gehören.
Die Frage, wie es gemacht ist, lässt sich in einer Richtung einfach beantworten: Fast alle musikalischen Gedanken in Mendelssohns Violinkonzert sind aus dem Lied geboren. Sie sind nach der unmittelbarsten aller musikalischen Äußerungen, dem Singen, geformt. Herausgekommen ist etwas musikhistorisch vollkommen Neues: ein sinfonisches „Lied ohne Worte“ mit obligater Violine. Auf diese Weise hat Mendelssohn mit klassischer Vollendung die Romantik gekrönt und zugleich der Zukunft das Tor geöffnet. „Er ist der Mozart des 19. Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und versöhnt“, erkannte 1840 Robert Schumann.
Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68
Loben Sie Brahms!
In aller Bescheidenheit knüpft er mit seinen frühen Orchesterwerken, den Serenaden op. 11 und op. 16 zunächst bei den unverfänglichen klassischen Gattungen Divertimento und Notturno an. Er vermeidet es selbst, Streichquartette zu komponieren (stattdessen entstehen ein Trio und das Sextett op. 18). Gerademal an die Klaviersonate wagt er sich heran.
Er enthält sich strikt der Oper (nicht zuletzt wegen besagtem Gesamtkunstwerker), und schwört noch 1862, sinfonie-abstinent zu bleiben. Schließlich gibt er nach langem Zögern dem Drängen der Freunde nach und tritt 43-jährig mit einer Sinfonie an die Öffentlichkeit. Bereits ein Jahr später folgt die Zweite. In die darauffolgende, erneut sechsjährige sinfonische Pause fallen außer dem monumentalen Klavierkonzert Nr. 2 u.a. die beiden Ouvertüren „Tragische“ und „Akademische“ und die beiden Chorwerke „Nänie“ und „Gesang der Parzen“. Die Sinfonien Nr. 3 und 4 bilden zusammen wiederum ein (Gegensatz-)Paar (1883, 1885). Danach beendet der Komponist seine Auseinandersetzung mit der aus seiner Sicht heiklen Gattung.
Schuhgröße XXXL
Vierzehn lange Jahre hatte Johannes Brahms aus Respekt vor der Sinfonie und ihrem bis dato größten Repräsentanten – Ludwig van Beethoven – um seine Erste gerungen. Prompt wurde die Sinfonie als „Beethovens Zehnte“ (Hans von Bülow) gefeiert, die Kritiker meinten Anklänge an Form und sogar Motive der Beethovenschen Neunten herauszuhören. Und Brahms selbst bekannte sich gegenüber Hermann Levi dazu, dem „Riesen, den man ständig hinter sich stapfen höre“, seine Referenz erwiesen zu haben. „Jeder Esel merkt das auch gleich“, fügte er in seiner trockenen Art hinzu.
Gemessen an Beethoven, verursachte die Sinfonie bei ihren ersten Hörern erhebliche Wahrnehmungsprobleme.
Der gefürchtete Musikkritiker Eduard Hanslick, obschon mit Brahms befreundet, äußerte sich im November 1876, nach der Uraufführung in Kassel: „Zu einseitig scheint auch Brahms das Große und Ernste, das Schwere und Komplizierte zu pflegen auf Kosten der sinnlichen Schönheit. Wir gäben gern die feinsten kontrapunktischen Kunststücke (wie sie in Brahms’ Sinfonie zu Dutzenden vergraben liegen) um ein Stück warmen Sonnenscheins, bei dem uns das Herz aufgeht...“ Oder Hermann Kretzschmar: „Es ist diese C-Moll-Symphonie allerdings ein Kunstwerk, vor dem man den Maßstab der bloßen Gefälligkeit zu Hause lassen muß, eines jener Werke, das dem großen Publikum erst in der nächsten Generation vertraut sein wird. Es herrscht darin ein ernster, großer Geist, den man mit einer Mischung von Schreck und Furcht bewundert, eine herbe Energie und Leidenschaftlichkeit, die öfter erschüttert als erfreut.“
Also blus das Alphorn
Erste Entwürfe für eine Sinfonie datieren zwar bereits aus dem Jahre 1854. Doch Brahms ließ sämtliche Ideen in andere Werke, vor allem in das erste Klavierkonzert d-Moll op. 15 einfließen. Um Clara Schumann drehte sich damals sein ganzes Sehnen und Fühlen. Vor ihr (und damit vor der Welt) mit einer Sinfonie zu bestehen, fühlte er sich noch nicht reif genug. Folgerichtig war Clara viel später auch der erste Mensch, der den endlich abgeschlossenen Kopfsatz der Sinfonie im Jahre 1862 zur Begutachtung erhielt. Später vertraute Brahms einen der erhabensten Gedanken der Sinfonie, das Hornthema aus dem Finale, 1868 ebenfalls zuerst Frau Schumann an. Das Thema und die Widmung „Und also blus das Alphorn...“ gehen wohl zurück auf das tiefe Erlebnis eines Alphornbläsers während einer gemeinsamen Reise in die Schweiz.
1876 endlich fühlte sich Brahms bereit. Er verabredete mit dem Freund Otto Desoff, seinerzeit Kapellmeister in der kleinen Residenzstadt Karlsruhe, die Uraufführung am 4. November und nutzte die Sommermonate zur Vollendung der Sinfonie. Ein mehrmonatiger Aufenthalt in Saßnitz auf Rügen und das Erlebnis der Kreidefelsen in Stubbenkammer und am Wissower Klinken inspirierten ihn zum Finale der Sinfonie.
Im September schloss er die Partitur in Baden-Baden ab, feilte aber an Einzelheiten bis zum Vorabend der Premiere. Gespannt eilten alle, die in der Musikwelt Rang und Namen hatten, Anfang November 1876 nach Karlsruhe, obwohl Brahms noch bis zuletzt irregeführt und abgewiegelt hatte: „Es ist dies nicht die schöne neue ‘Zu den Wissower Klinken’, sondern eine bekannte aus dem berühmten C moll“.
Netto schön
„Obgleich es in dem großen Saale furchtbar hallte, war doch die Wirkung der Symphonie eine großartige. Von irgendeiner Unklarheit über die Form kann wohl bei aller Kühnheit der Gestaltung nicht die Rede sein, auch nicht beim ersten Satz, der wie ein gewaltiger Sturmwind daherbraust. Mir sind die Motive des ersten Satzes trotz aller Energie und Leidenschaft nicht sympathisch; sie sind rhythmisch sehr langatmig und harmonisch von allzu herbem Trotz, wenn auch wieder von aufregendster Sehnsucht; es ist eine Art Faust-Ouvertüre. Der ganze erste Satz ist mehr eine Einleitung zum Ganzen. Der zweite Satz E-Dur, den ich Dir vorspielte, wird von diesem Orchester nicht fein genug gespielt, als das der Hörer zu der klaren himmelblauen Schönheit käme, welche dieser Intention entsprossen sind. Der dritte Satz ist einfach, anmutig und netto schön. Der letzte Satz ist überwältigend. Bei dem Hornsolo zittern alle Herzen mit den Geigen um die Wette.“ (Theodor Billroth, 1876)
„Nun möchte ich noch die vermutlich sehr überraschende Mitteilung machen, daß meine ‘Sinfonie’ lang und nicht gerade liebenswürdig ist“, bereitete der zerknirschte Brahms vor der ersten Leipziger Aufführung 1877 den Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke auf seine Aufgabe vor.
Brahms revidierte das Werk gründlich zwischen den rasch folgenden Aufführungen in Mannheim, München, Wien, Leipzig und Breslau und ließ es 1877 bei Simrock in Berlin drucken. In dieser Fassung trat es seinen bis heute ununterbrochenen Siegeszug durch die Konzertsäle der Welt an. Dieser Siegeszug hat nichtsdestoweniger zwei Richtungen: jene des opulenten Orchesterklanges, wie ihn die großen sinfonischen Orchester in Leipzig, Wien, Berlin und anderswo pflegen und jene schlanke und aller Massigkeit abholde, die Transparenz der Streicher-Bläser-Beziehungen befördernde Richtung der Meininger Hofkapelle, wo Brahms ab 1882 ein exzellentes Ensemble vorfand, mit dem er schließlich 1885 seine Sinfonie Nr. 4 persönlich aus der Taufe heben sollte.
Texte © Steffen Georgi
Vladimir Jurowski
Vladimir Jurowski ist seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Seinen Vertrag hat er mittlerweile bis 2027 verlängert. Parallel dazu ist er seit 2021 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.
Der Dirigent, Pianist und Musikwissenschaftler Vladimir Jurowski wurde zunächst an der Musikhochschule des Konservatoriums in Moskau ausgebildet. 1990 kam er nach Deutschland, wo er sein Studium an den Musikhochschulen in Dresden und Berlin fortsetzte. 1995 debütierte er beim britischen Wexford Festival mit Rimski-Korsakows „Mainacht“ und im selben Jahr am Royal Opera House Covent Garden mit „Nabucco“. Anschließend war er u.a. Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin (1997– 2001) und Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera (2001–2013). 2003 wurde Vladimir Jurowski zum Ersten Gastdirigenten des London Philharmonic Orchestra ernannt und war von 2007 bis 2021 dessen Principal Conductor. Ebenfalls bis 2021 war er Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters „Jewgeni Swetlanow“ der Russischen Föderation und Principal Artist des Orchestra of the Age of Enlightenment in Großbritannien, außerdem Künstlerischer Leiter des Internationalen George-EnescuFestivals in Bukarest. Er arbeitet regelmäßig mit dem Chamber Orchestra of Europe und dem ensemble unitedberlin.
Vladimir Jurowski hat Konzerte der bedeutendsten Orchester Europas und Nordamerikas geleitet, darunter die Berliner, Wiener und New Yorker Philharmoniker, das Königliche Concertgebouworchester Amsterdam, das Cleveland und das Philadelphia Orchestra, die Sinfonieorchester von Boston und Chicago, das Tonhalle-Orchester Zürich, die Sächsische Staatskapelle Dresden und das Gewandhausorchester Leipzig. Er gastiert regelmäßig bei den Musikfestivals in London, Berlin, Dresden, Luzern, Schleswig-Holstein und Grafenegg sowie beim Rostropowitsch-Festival. Obwohl Vladimir Jurowski von Spitzenorchestern aus der ganzen Welt als Gastdirigent eingeladen wird, möchte er seine Aktivitäten zukünftig auf jenen geographischen Raum konzentrieren, der unter ökologischem Aspekt für ihn vertretbar ist.
Die russisch-britische Geigerin Alina Ibragimova ist eines der interessantesten Talente ihrer Generation. Mit Musik vom Barock bis hin zu neuen Kompositionsaufträgen sowohl auf historischen als auch modernen Instrumenten hat sie sich international als Solistin und Kammermusikerin einen Namen gemacht. Schon in jungen Jahren besuchte Alina Ibragimova die Moskauer Gnessin Schule, bevor sie mit ihren Eltern 1995 nach Grossbritannien zog. Sie studierte an der Yehudi Menuhin School in London, am Royal College of Music sowie der Kronberg Academy bei Natasha Boyarskaya, Gordan Nikolitch und Christian Tetzlaff. Die junge Geigerin ist vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Royal Philharmonic Society Young Artist Award, dem Borletti-Buitoni Trust Award, dem Classical BRIT Young Performer Award oder der renommierten BBC Radio 3 New Generation Artists Scheme.
Alina Ibragimova konzertiert weltweit: über London, Berlin, Sydney, Tokyo bis New York mit Orchestern wie dem London Symphony Orchestra, dem Boston Symphony, Cleveland Orchestra, dem Orchestra of the Age of Enlightenment, dem Orchestre Philharmonic de Radio France, Royal Concertgebouw Orchestra, dem Chamber Orchestra of Europe, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen oder dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Dirigenten wie Sir John Eliot Gardiner, Valery Gergiev, Paavo Järvi, Vladimir Jurowski, Philippe Herreweghe, Daniel Harding, Bernard Haitink oder Robin Ticciati. Zu Alina Ibragimovas Kammermusikpartnern zählen Cédric Tiberghien und Kristian Bezuidenhout. Sie ist Primaria des Chiaroscuro Quartet, das sich der historischen Aufführungspraxis verschrieben hat. Alina Ibragimova nimmt für Hyperion Records auf. Für die Einspielung von Mozarts 34 Violinsonaten samt Variationen, Einzelsätzen und Fragmenten sind Cédric Tiberghien und Alina Ibragimova mit dem Jahrespreis 2017 der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Alina Ibragimova spielt auf einer Anselmo Bellosio von 1775, von Georg von Opel zur Verfügung gestellt.
RSB-Abendbesetzung
Violine 1
Ofer, Erez
Wolters, Rainer
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Kynast, Karin
Tast, Steffen
Pflüger, Maria
Feltz, Anne
Scilla, Giulia
Stangorra, Christa-Maria
Behrens, Susanne
Violine 2
Kurochkin, Oleh
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Seidel, Anne-Kathrin
Draganov, Brigitte
Buczkowski, Maciej
Manyak, Juliane
Bara-Rast, Ania
Hetzel de Fonseka, Neela
Bauza, Rodrigo
Shalyha, Bohdan
Kanayama, Ellie
Hagiwara, Arisa
Viola
Regueira-Caumel, Alejandro
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Drop, Jana
Doubovikov, Alexey
Inoue, Yugo
Yoo, Hyelim
Maschkowski, Anastasia
Roske, Martha
Violoncello
Eschenburg, Hans-Jakob
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Weigle, Andreas
Kipp, Andreas
Boge, Georg
Kalvelage, Anna
Kleimberg, Elise
Kontrabass
Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Rau, Stefanie
Ahrens, Iris
Schwärsky, Georg
Gazale, Nhassim
Thüer, Milan
Flöte
Schaaff, Ulf-Dieter
Schreiter, Markus
Dallmann, Franziska
Oboe
Bastian, Gabriele
Vogler, Gudrun
Klarinette
Link, Oliver
Korn, Christoph
Fagott
Kofler, Miriam
Shin, Yisol
Königstedt, Clemens
Horn
Ember, Daniel
Holjewilken, Uwe
Hetzel de Fonseka, Felix
Stephan, Frank
Trompete
Dörpholz, Florian
Niemand, Jörg
Posaune
Hölzl, Hannes
Hauptmann, Nicolai
Lehmann, Jörg
Percussion
Tackmann, Frank
Pauke
Eschenburg, Jakob
Bildrechte
Portrait Alina Ibragimova © Eva Vermandel & Joss McKinley
Bilder Orchester & Vladimir Jurowski © Peter Meisel