Digitales Programm

So 29.01. Vladimir Jurowski

16:00 Philharmonie

 

 

Igor Strawinsky

„Zirkus-Polka für einen jungen Elefanten“ für Orchester

Igor Strawinsky

Concerto en Ré – Violinkonzert in D

 

Pause

 

Franz Schubert

Sinfonie C-Dur „Die Große“

Besetzung

Vladimir Jurowski, Dirigent

Frank Peter Zimmermann, Violine

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

15.10 Uhr, Südfoyer,
Konzerteinführung von Steffen Georgi

Übertragung am 29. Januar 2023, 20.03 Uhr (heute Abend). Europaweit. In Berlin auf UKW 89,6 MHz; Kabel 97,55; Digitalradio (DAB), Satellit, online und per App – auch zum Nachhören.

 

Ein Violinkonzert heizt ein

„Das ganze Orchester hämmerte. Ein grandioser Eindruck. Unheimliche Begeisterung der ausverkauften Philharmonie“, begeisterte sich Heinrich Strobel 1931 nach der Uraufführung des Violinkonzertes von Strawinsky. Das „Concerto en ré“ ist ein Meilenstein in der Orchestergeschichte des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB). Strawinsky selber dirigierte am 23. Oktober 1931 die Uraufführung in Berlin mit dem Funkorchester und dem Solisten Samuil Dushkin. Das Konzert der Berliner Funkstunde reihte sich damals ein in eine ganze Serie von Strawinsky-Aufführungen des Orchesters. Strawinsky erinnerte sich später lobend auch der zweiten Aufführung des Violinkonzertes in gleicher Besetzung am 28. Oktober 1932. Dazu passt Strawinskys gutmütige Karikatur des legendären Impresarios Sergei Diaghilew als Elefant. Im Porzellanladen?
Schubert hatte nicht solches Glück zu Lebzeiten. Erst aus dem Nachlass kam die Sinfonie C-Dur zur Uraufführung durch Felix Mendelssohn Bartholdy, nachdem Robert Schumann sie bei Schuberts Bruder Ferdinand aufgefunden hatte. Heute kündet sie von der vollgültigen Meisterschaft Schuberts, dem es kraft eigener Inspiration gelungen war, aus dem Schatten des bewunderten Beethoven herauszutreten.

Texte von Steffen Georgi ©

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Podcast „Muss es sein?“

Strawinsky Circus Polka

„In Ordnung. Wenn die Elefanten sehr jung sind, dann mache ich es.

„Zirkus-Polka für einen jungen Elefanten“
für Orchester

Der Choreograph George Balanchine erzählt die Geschichte, wie es zur Entstehung der „Zirkus-Polka für einen jungen Elefanten“ gekommen ist. Er erinnert sich an ein Telefongespräch mit Igor Strawinsky vom 12. Januar 1942. Balanchine: „Ich wollte Dich fragen, ob Du ein kleines Ballett mit mir zusammen machen willst.“ Strawinsky: „Für wen?“ Balanchine: „Für einige Elefanten.“ Strawinsky: „Wie alt?“ Balanchine: „Sehr jung.“ Nach einer Pause sagt Strawinsky mit ernster Stimme den oben im Bild zitierten Satz.

Balanchine, mit Strawinsky befreundet seit der gemeinsamen Arbeit an „Le chant du rossignol“ 1925 für Diaghilews Ballets Russes, war Ende 1941 vom Zirkus „Ringling Brothers & Barnum & Bailey“ mit der Frage konfrontiert worden, ob er für die nächste Frühjahrssaison in New York eine Zirkusnummer für deren berühmte Elefantengruppe choreographieren könne. Balanchine dachte sofort an eine Zusammenarbeit mit Strawinsky. Der ließ prompt andere dringende Projekte liegen und komponierte binnen weniger Tage das vierminütige Musikstück auf dem Klavier – kein Wunder, denn „Ringling Brothers“ hatte ihm ein fürstliches Honorar dafür geboten. Am 5. Februar 1942 war die Partitur fertig. Das Arrangement für eine blechschwere Blaskapelle mitsamt Zirkusorgel erstellte der Filmmusikkomponist David Raksin. Zwei Jahre später legte Strawinsky eine Fassung für Sinfonieorchester vor, die am 13. Januar 1944 durch das Boston Symphony Orchestra unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt wurde. Die Zirkuspolka gehört heute zu den populärsten Stücken von Strawinsky weltweit. Ähnlich wie Ravel seinen „Boléro“ sah Strawinsky seine Zirkuspolka später als Satire und verglich sie mit den karikierenden Halbwelt-Zeichnungen von Toulouse-Lautrec.

Karikatur auf den „Elefanten“ der Ballets Russes?

Eine Polka ist sie indes nur bedingt. Der Russe Strawinsky wählte den tschechischen Nationaltanz (der die ursprünglich polnische Herkunft im Namen trägt) wohl aus, weil er ihm für ein Elefantenballett geeigneter erschien als etwa ein Walzer. Musikalisch hat die Zirkusnummer mit einer Polka wenig zu tun, ist eher ein deftiger Marsch und verwendet als unüberhörbares Stilzitat den Militärmarsch D-Dur für Klavier zu vier Händen op. 51/1 (D 733/1) von Franz Schubert. Strawinsky konnte diese Inspiration stets vehement verneinen, weil der Marsch seinerzeit in den USA u.a. durch die Verwendung in einem Disney-Film (1932) so populär war, dass seine ursprüngliche Herkunft aus der Hand Schuberts auch in Fachkreisen kaum bekannt gewesen sein dürfte.

Darüber hinaus finden sich in dem im Grunde typisch russischen Orchesterscherzo weitere versteckte Anspielungen – wie oft bei Strawinsky – u.a. auf Pjotr Tschaikowsky, Johann Strauß und Maurice Ravel.

George Balanchine ließ 50 Elefanten gemeinsam mit 50 Balletttänzerinnen auftreten, wobei die Elefantendame Modoc sowie Balanchines Ehefrau, die Primaballerina Vera Zorina, die beiden Gruppen anführten. Die „Circus Polka“ ging bei den Auftraggebern insgesamt 425 Mal „über die Manege“, wobei die Elefanten erwartbar nicht anders als die meisten Menschen auf Strawinskys Musik reagierten: Sie kamen immer wieder aus dem Takt. Strawinsky selbst war an der Inszenierung der Ballettaufführung nicht beteiligt, er sah sie auch nie selbst. 

Eine Panik unter den in rosa Tutus gezwängten Tieren war zwar ausgeblieben, aber selbst George Balanchine beruhigte später sein Tierschutzgewissen, indem er 1945 eine neue Choreographie ohne Tiere erstellte. Das New York City Ballet unter Jerome Robbins ging ab 1972 mit einer Inszenierung der Zirkuspolka auf die Bühne, in der Elevinnen der School of American Ballet die Rolle der Elefanten übernahmen, die von einem älteren Dompteur angeführt wurden. Als Dompteur konnte das Publikum u.a. den prominenten Tänzer Mikhail Baryshnikov bewundern.

War es am Ende gar die Figur des in der Tanzszene der 20. Jahrhunderts legendären Impresarios und raffinierten Menschendompteurs Sergei Diaghilew gewesen, die in allen Beteiligten eine so erstaunliche und prompte Kreativität ausgelöst hatte? Diaghilews Markenzeichen war das des sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen, wenn es um die Wertschätzung der Leistung eines Mitarbeiters ging.

Igor Strawinsky - Violinkonzert

Concerto en Ré – Konzert für Violine und Orchester in D

Toccata

Aria I

Aria II

Capriccio

Kochende Emotionen wegen eines Violinkonzertes

Das „Concerto en ré“ ist ein Meilenstein in der Orchestergeschichte des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Strawinsky selbst dirigierte am 23. Oktober 1931 die Uraufführung in Berlin mit dem Funkorchester und dem Solisten Samuil Dushkin. Das Konzert der Berliner Funkstunde reihte sich ein in eine ganze Serie von Strawinsky-Aufführungen des Orchesters: 13. Januar 1930 Sinfonie für Blasinstrumente (Dirigent: Igor Strawinsky); 13. Januar 1931 „Die Geschichte vom Soldaten“ (Dirigent: Hermann Scherchen); 1. Juni 1932 Sinfonie Es-Dur op. 1 (Dirigent: Leo Borchard). Später erinnerte sich Strawinsky in seinen „Chroniques de ma vie“ lobend der zweiten Aufführung des Violinkonzertes in gleicher Besetzung ein Jahr später, am 28. Oktober 1932.

„Der Rundfunk tut, was die Konzertgeber tun sollten“, unterstützte Heinrich Strobel 1931 in der Zeitschrift „Melos“ das Konzert, bewunderte außerdem Strawinskys äußerste „Schärfe in Klang und Rhythmus.

Das ganze Orchester hämmerte. Ein grandioser Eindruck. Unheimliche Begeisterung der ausverkauften Philharmonie.“

Ganz anders die „Zeitschrift für Musik“. Deren Kritiker schäumte: „... Dann versteht man auch, weshalb Strawinsky seine neueste Musikware, für die er in seiner neuen Heimat keine Abnehmer findet, nach Berlin importiert. Und begreift den Jubel eines ausverkauften Konzertsaales, den die „Berliner Funkstunde“ (natürlich!) nach erfolgreicher Radio-Impfung mit Menschenmassen bis zum letzten Platz füllte. Bedauerlich, daß die öffentliche Meinung einen zu beschämend geringen Mut zur Aufrichtigkeit besaß, um die „Welt-Uraufführung“ dieses Violinkonzertes, das Samuel Dushkin vortrug, beim richtigen Namen zu nennen: Als eine Bachschändung, die auf den Urgrund Bachscher Stileigenheiten das wirre Gedankengestrüpp hypermodernen Unfugs verpflanzte mit Anklängen von Kirmes-Musik in bäurisch-derber Instrumentation, und die unter der Schminke französischer Zivilisation die Wildheit halbasiatischer Instinkte erkennbar genug aufleuchten ließ.“

Saitenspielereien

Strawinsky hielt das Violinkonzert für eines seiner besten Werke. Dass nicht nur er, für den der Umgang mit traditionellen Formen seiner unmittelbaren Vorgänger stets problematisch war, sich um 1930 auf das Konzertprinzip fixierte, entsprach offensichtlich dem musikalischen Zeitgeist und beschenkte uns mit einer stattlichen Zahl von singulären Violinkonzerten gerade aus dieser Epoche.

„Vom rein musikalischen Standpunkt schien es mir nun richtig und sogar dringend erforderlich, dieses Element wieder zu studieren und zu pflegen. Es lockte mich, eine Musik zu komponieren, bei der das melodische Prinzip im Mittelpunkt steht. Welche Freude, sich wieder dem vielstimmigen Wohllaut der Saiten hinzugeben und aus ihm das polyphone Gewebe zu wirken!“

Igor Strawinsky

Hatte er bereits während der 1920er-Jahre zwei Klavierkonzerte verfasst – 1935 folgte ein drittes –, so eignet diesen wie dem Violinkonzert und zahlreichen Kammermusikwerken dieser Zeit der höchst pragmatische Aspekt, für den eigenen Aufführungsbedarf geschrieben worden zu sein. Strawinsky befand sich damals jährlich mehrere Monate auf Konzertreisen und verdiente damit den wesentlichen Lebensunterhalt für die Familie.

Samuil Dushkin

Obwohl Strawinsky in anderen Schaffensphasen gerade die Violine stiefmütterlich behandelte, entstanden während weniger Jahre mehrere Kompositionen, die dem höchsten Streichinstrument, seiner „italienischen Herkunft entsprechend die Pflege des Gesangs, der Melodie“ (Strawinsky) betonend, solistischen Raum gaben: Concerto in D (1931), Konzertantes Duo (1932), Transkription aus „Mawra“ (Lied der Parascha) und die Suite aus „Der Kuss der Fee“ (Divertimento).

Wesentlichen Anteil an Strawinskys „Violin-Interesse“ hatte der junge amerikanische Geiger Samuel Dushkin, ein engagierter, talentierter und aufgeschlossener Musiker von hohem kulturellem Format, der bei dem berühmten Violinpädagogen Leopold Auer (1845-1930) studiert hatte.

Strawinsky lernte Dushkin im Wiesbadener Haus von Willy Strecker, einem Mitbesitzer des Schott-Verlages und Freund Paul Hindemiths, kennen. Nach eigenen Aussagen sowohl Strawinskys als auch Dushkins überwanden beide schnell ihre anfänglichen Vorbehalte gegeneinander, und es begann eine intensive Zusammenarbeit. Dushkin nahm zu diesem Zweck extra seine Wohnung nahe bei Strawinsky, anfangs in Nizza, später in Voreppe en Isère. Entgegen seiner Gewohnheit prüfte Strawinsky Dushkins Vorschläge sehr wohlwollend und überdachte jeweils das bereits Geschriebene neu, wenn er auf Dushkins Rat etwas verändert hatte. Der Geiger, der sich wie Joseph Joachim an der Seite Johannes Brahms’ fühlte, verglich den Arbeitsstil des Komponisten mit dem eines Architekten, der immer das Fundament im Auge behielt, während er einen Raum im dritten Stock antastete.

Alle vier Sätze werden durch ein Dreiton-Motiv d – e’ – a” eröffnet. Gerade dieses „Passwort“, wie es Strawinsky selbst nannte, war Gegenstand der Diskussion zwischen beiden Künstlern gewesen. Strawinsky hatte Dushkin gefragt, ob ein derart weit auseinanderliegender Akkord auf der Violine spielbar sei. Dushkin antwortete mit Nein. Die maßlose Enttäuschung aber, die er Strawinsky damit ganz offenkundig bereitete, veranlasste ihn, die Violine zu nehmen und solange zu probieren, bis er am nächsten Tag seine Meinung stolz ändern konnte.

Bachianas Igoriensis

Während die beiden Ecksätze das virtuose spielerische Element bedienen, machen die beiden Mittelsätze Aria I und II ihrem Namen alle Ehre. Im Orchester dominieren die Bläser, verhelfen der Solovioline erst recht zur Entfaltung. Da spielen sich Solist und einzelne Instrumente und Instrumentengruppen des Orchesters wie agierende Individuen mit eigener Persönlichkeit gegenseitig den Ball zu: Motive werden aufgegriffen und fortgesponnen, ausgetauscht, kontrapunktiert und verknüpft, wobei Strawinsky die Gleichzeitigkeit dem Nacheinander vorzieht – „concertare“ reinsten Wassers.
Der Russe entdeckte das Konzertieren im Sinne Vivaldis und Bachs für sich neu. Dabei bediente er sich allein der Prinzipien und Ideen, nicht aber der unmittelbaren musikalischen Details. Rigoros baute er in das neoklassizistische Gerüst seine eigene Sprache ein, was die Traditionalisten immer das Fehlen Bachscher Intonationen bei Strawinsky bemängeln ließ, während die Modernisten geringschätzig auf den vermeintlich zopfigen Papa-Bach-Nachfolger herablächelten. „Strawinskys Wiederentdeckung des 18. Jahrhunderts war eine leidenschaftliche Anverwandlung, glich eher musikalischen Raubzügen und Einvernahmen.“ (Wolfgang Burde)

Franz Schubert - „Die Große“

Sinfonie C-Dur D 944 („Die Große“)

(1797 – 1828)

Andante – Allegro ma non troppo

Andante con moto

Scherzo. Allegro vivace

Allegro vivace

Neue Größe

Jetzt wolle er sich endlich „den Weg zur großen Sinfonie bahnen“, schrieb Franz Schubert im März 1824 in einem Brief. Behält vor diesem Hintergrund Brahms doch Recht mit seinem harten Urteil über Schuberts Sinfonien Nr. 1 bis 3?

Das Dilemma ist offenkundig. Nach der c-Moll-Sinfonie (Nr. 4), die als „Tragische“ möglicherweise Beethovenschen Prinzipien folgen wollte, rangierten die erneut klassizistischen Sinfonien B-Dur (Nr. 5) und C-Dur (Nr. 6). Im Anschluss (1818-1822) probierte Schubert verschiedene Sinfoniemodelle aus, hinterließ Fragmente, deren berühmtestes die beiden Sätze zur h-Moll-Sinfonie, der „Unvollendeten“ bilden. Im Bewusstsein, auch damit nicht die Lösung des Problems gefunden zu haben, erweiterte Schubert 1824 seine stilistischen Möglichkeiten in etlichen, dem Umfang und der Struktur nach sinfonischen Werken, ohne freilich damit Sinfonien komponiert zu haben: dem Oktett D 803, den Streichquartetten a-Moll D 804 und d-Moll D 810, der Klaviersonate zu vier Händen D 812.

In den Jahren 1825/1826 endlich erfüllte er sich einen Lebenswunsch mit der großen Sinfonie in C-Dur, von der Robert Schumann mit vollem Recht sagt, wer sie „nicht kennt, kennt noch wenig von Schubert“.

Ihr Geheimnis besteht nun darin, gerade nicht den gattungssprengenden Schritt getan zu haben, den Beethoven mit seiner Sinfonie Nr. 9 kurz zuvor unternommen hatte (deren Uraufführung am 7. Mai 1824 Schubert höchstwahrscheinlich beiwohnte).

Wohl mochte auch Schubert an einem großen, mithin repräsentativen, öffentlichkeitswirksamen Werk gelegen gewesen sein. Gerade das war es ja, was er an Beethoven bewunderte: die gleichermaßen tief berührenden wie hochfliegend intellektuellen Dimensionen, die soziale und philosophische Qualität in einem. Aber Schubert, gereift in Leben und Kunst, ging einen eigenen, einen (vorerst) einsamen Weg. Seine Sinfonie knüpft (nach der signifikant anders gebauten „Unvollendeten“) wieder an die klassische Viersätzigkeit an, übernimmt von Beethoven das dramaturgische Prinzip einer schrittweisen Katharsis durch weiträumige Steigerung bei mannigfaltiger Binnendramatik.

Diese Binnendramatik allerdings erreicht bei Schubert nie dagewesene Ausmaße. Sie markiert im eigentlichen Sinn ein absolut neues Niveau von „Romantik“ in der Musik. Die nach Beethoven drohende (und von Wagner so interpretierte) sinfonische Sackgasse ist überwunden. Das Tor steht offen – Schubert sei Dank – für Schumann und Mendelssohn, für Bruckner und Mahler.

Schumanns berühmter Ausruf von der „himmlischen Länge“ der C-Dur-Sinfonie, „wie ein Roman in vier Bänden von Jean Paul“, benennt nur den äußeren Aspekt einer inneren Qualität von Schuberts Werk. Nicht zwei, sondern oft drei Themen entfalten gleich vierfach einen jeweils derart komplexen Satzbau, dass der Einzelsatz die Qualität eines ganzen Werkes erhält. Das große Glück im Falle Schuberts besteht darin, dass der Musik stets mit voller emotionaler Aufmerksamkeit zu folgen ist, dass sie zu fesseln vermag vom ersten bis zum letzten Takt.

Begleitschreiben Sinfonie C-Dur

Winterreise ins Nirgendwo

Betrachten wir nur den zweiten Satz, Andante con moto. Trocken klopfen die Streicher den Takt, ein Marsch kündigt sich an. Aber das liedhafte Hauptthema (Oboe, Klarinette) suggeriert anmutige Ländler-Atmosphäre. Ein nicht weniger bezauberndes Seitenthema besänftigt die in der Liedmelodie angelegte Schwermut. Harte Orchesterakzente (Sforzati) fahren bedrohlich dazwischen. Wie um die Anfechtungen zu ignorieren, wird die ganze Themenaufstellung wiederholt. Dann, wenn die Exposition zu Ende scheint, stoppt Schubert den Fluss. Doch anstatt mit der Durchführung zu beginnen, lässt er ein weiteres Thema samt Seitengedanken folgen. Es fließt in weichem Streichergewand lyrisch dahin. Auch hier stören Sforzati die Idylle. Auch hier tut die Themenwiederholung so, als habe sie nichts gehört.

Die Sache mündet in ein weiteres Scharnier. Über bangen Horntönen verharrt die musikalische Entwicklung in einem einzigen, großen, ratlosen Fragezeichen. Schubert entscheidet sich nach langem Zögern für einen nochmaligen Rückgriff auf den ersten Themenkomplex. Doch was nun anhebt wie eine erneute Wiederholung, wird gleichsam auf zweiter, kontrapunktischer Ebene angereichert um eine neue emotionale Dimension: um äußerste Verletzlichkeit. Der Eindruck höchster Gefährdung trügt nicht, wird vielmehr erschütternde Gewissheit. Zuerst muss sich das unschuldige Hauptthema immer machtvollere Deformierungen durch die Sforzati gefallen lassen. Dann folgt in einer verzweifelten Steigerung buchstäblich Schlag auf Schlag. Der Marschtritt übernimmt dröhnend das Zepter. Immer kurzatmiger werden die Motivfetzen. Krachend stampft Septakkord auf Septakkord jeden Schönklang nieder. Am Ende dieser grausigen Spirale gähnt der bodenlose Abgrund.

Nach der Generalpause ist nichts mehr wie vorher. Darüber kann kein tapferes Weiterspielen hinwegtäuschen. Nicht nur die melancholisch-verzagten, auch die anmutig-behänden Variationen der Themen haben ihre Unschuld verloren. Die Coda bemüht sich redlich um Beschwichtigung. Doch der Ring ums Herz bleibt.

Sieben, acht, neun, zehn…

Bleibt noch ein Wort zu sagen zum Dauerstreit über die Zählung der Schubertschen Sinfonien. Zum einen ist man sich uneins darüber, ob die Fragmente mehrerer Sinfonien mitzuzählen wären, immerhin gilt die „Unvollendete“ ja auch als Sinfonie. Zum zweiten suchte man jahrzehntelang nach einer in Briefen erwähnten „Gmunden-Gasteiner Sinfonie“. Die Zählung der C-Dur-Sinfonie als Nr. 7 geht auf Johannes Brahms zurück, der für die alte Gesamtausgabe den sieben vollendeten Sinfonien die „Unvollendete“ als Nr. 8 zuordnete. Später reihte man die „Unvollendete“ chronologisch ein, gab der in C-Dur die Nr. 9, indem man zugleich die fragmentarische D 729 als Nr. 7 mitzählte. Inzwischen gilt die C-Dur als Nr. 10, da noch ein weiteres Fragment mitgezählt wird. Dies wiederum entspricht nicht der Chronologie. Denn mittlerweile steht unter anderem auf Grund von Papieruntersuchungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass die „Große C-Dur-Sinfonie“ die vermisste „Gmunden-Gasteiner Sinfonie“ aus den Jahren 1825/1826 ist, mithin der Vermerk „1828“ auf der ersten Manuskriptseite (bei fehlendem Titelblatt) in eine irreführende Richtung weist. Dies heißt allerdings nicht, dass die „Große C-Dur“ Schuberts letztes sinfonisches Wort gewesen wäre. Mindestens das Fragment eines weiteren Sinfonie-Satzes ist nachweislich in das Jahr 1828 zu datieren…

Endlich erhört

Schubert unternahm im Sommer 1825 eine der wenigen längeren Reise seines Lebens, in das Salzburger Land.

Geradezu überschwänglich berichtete er den Freunden vom Zauber, den die schöne Landschaft auf ihn ausübte, von der warmherzigen Aufnahme, die man ihm allerorts bereitete.

Und er erwähnte mehrfach eine Sinfonie, an der er arbeite, selbstbewusst gegenüber dem großen Vorbild Beethoven, gestärkt durch den zeitweiligen Erfolg. Allein die Sinfonie blieb aus, denn die Rückkehr nach Wien ging einher mit Rückkehr in die seelische Einsamkeit, in Krankheit und Hoffnungslosigkeit. Im Frühjahr 1826 nahm er die Sinfonie wieder vor, überarbeitete sie und stellte sie endlich fertig, um sie im Oktober 1826 zur Uraufführung bei der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde einzureichen – vergebens. Zu lang, zu schwer.

„Klara, heute war ich selig. In einer Probe wurde eine Sinfonie von Franz Schubert gespielt. Wärst du dagewesen! Die ist Dir nicht zu beschreiben; das sind Menschenstimmen, alle Instrumente, und geistreich über die Maßen, und diese Instrumentation trotz Beethoven – und diese Länge, diese himmlische Länge wie ein Roman in vier Bänden, länger als die IX. Sinfonie! Ich war ganz glücklich und wünschte nichts, als Du wärest meine Frau und ich könnte auch solche Sinfonien schreiben.“ Diesem Brief von Robert an Clara Schumann vom 11. Dezember 1839 ging die Auffindung einer Kopie des Manuskriptes von Schuberts C-Dur-Sinfonie am Neujahrstag 1839 voraus. Schumann traf anlässlich einer Reise nach Wien mit Schuberts Bruder Ferdinand zusammen, nahm freudig die Partitur in Empfang und legte sie seinem Freund Felix Mendelssohn Bartholdy zur Uraufführung ans Herz. Der dirigierte am 21. März 1839 im Leipziger Gewandhaus zum ersten Mal Schuberts große Sinfonie. Schumann erinnerte sich: „Die Sinfonie hat denn unter uns gewirkt wie nach den Beethovenschen keine noch. Jahre werden vielleicht hingehen, ehe sie sich in Deutschland heimisch gemacht hat. Daß sie vergessen, übersehen werde, ist kein Bangen da; sie trägt den ewigen Jugendkeim in sich.“ Schade, dass Schubert weder dieses Lob noch seine eigene, solches Lob auslösende Musik zu hören vergönnt war.

Abendbesetzung, Kurzbiographien

Frank Peter Zimmermann

Frank Peter Zimmermann ist einer der bedeutendsten Geiger unserer Zeit. Geboren 1965 in Duisburg, begann er als Fünfjähriger mit dem Geigenspiel und gab bereits im Alter von zehn Jahren sein erstes Konzert mit Orchester. Nach Studien bei Valery Gradow, Saschko Gawriloff und Herman Krebbers begann 1983 sein kontinuierlicher Aufstieg zur Weltelite. Frank Peter Zimmermann gastiert bei allen wichtigen Festivals und musiziert mit allen berühmten Orchestern und Dirigenten in Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Australien. Beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin war Frank Peter Zimmermann zusammen mit Marek Janowski 2004/2005 mit einem Zyklus von sechs Violinkonzerten aus den 1930er-Jahren zu hören, darunter auch schon einmal mit dem Violinkonzert von Strawinsky. Seitdem konzertierte er regelmäßig mit dem RSB, zuletzt 2021 - coronabedingt in einem Radiokonzert - mit Werken von Bartók und Martinů.

Zu den Höhepunkten der Saison 2020/2021 zählen Konzerte mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Kirill Petrenko, mit dem Bayerisches Staatsorchester und Vladimir Jurowski, der Staatskapelle Dresden und Daniele Gatti, dem Tonhalle Orchester und Paavo Järvi, dem London Philharmonic Orchestra und Karina Canellakis, sowie mit den Münchner Philharmonikern und Pablo Heras-Casado. Geplante Konzerte mit dem Boston Symphony und dem Cleveland Orchestra wurden wegen COVID-19 auf eine spätere Saison verschoben. Frank Peter Zimmermann setzt seinen Zyklus der komplettem Beethoven-Sonaten mit Martin Helmchen fort in der in der Philharmonie in Berlin, im Prinzregententheater in München, der Wigmore Hall in London, im Concertgebouw in Amsterdam, im Konserthus in Stockholm und in der Philharmonie in Luxembourg.

2015 spielte Frank Peter Zimmermann die Welturaufführung von Magnus Lindbergs Violinkonzert Nr. 2 mit dem London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Jaap van Zweden. Weitere Aufführungen dieses neuen Werks führten ihn zu den Berliner Philharmonikern und dem Swedish Radio Symphony Orchestra, jeweils mit Daniel Harding, sowie zu New York Philharmonic und dem Orchestre Philharmonique de Radio France, jeweils mit Alan Gilbert. Er brachte drei weitere Violinkonzerte zur Uraufführung: “en sourdine” von Matthias Pintscher mit den Berliner Philharmonikern und Peter Eötvös (2003), “The Lost Art of Letter Writing” (2007) mit dem Royal Concertgebouw Orchestra unter der Leitung des Komponisten Brett Dean, der für diese Komposition 2009 den Grawemeyer Award erhielt, sowie das Violinkonzert Nr. 3 “Juggler in Paradise” von Augusta Read Thomas mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France, dirigiert von Andrey Boreyko (2009).

Frank Peter Zimmermann erhielt zahlreiche Preise und Ehrungen, darunter den Premio del Accademia Musicale Chigiana in Siena, den Rheinischen Kulturpreis, den Musikpreis der Stadt Duisburg, der Paul-Hindemith-Preis der Stadt Hanau und das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland.

Er spielt auf der „Lady Inchiquin“ von Antonio Stradivari aus dem Jahr 1711, die ihm von der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellt wird.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Wolters, Rainer

Nebel, David

Herzog, Susanne

Neufeld, Andreas

Beckert, Philipp

Tast, Steffen

Pflüger, Maria

Feltz, Anne

Polle, Richard

Hildebrandt, Laura

Violine 2

Kurochkin, Oleh

Drop, David

Petzold, Sylvia

Seidel, Anne-Kathrin

Buczkowski, Maciej

Manyak, Juliane

Bauza, Rodrigo

Färber, Juliane

Bara, Ania

Palascino, Enrico

Viola

Rinecker, Lydia

Adrion, Gernot

Silber, Christiane

Zolotova, Elizaveta

Markowski, Emilia

Drop, Jana

Violoncello

von Gutzeit, Konstanze

Riemke, Ringela

Breuninger, Jörg

Weigle, Andreas

Kipp, Andreas

Kalvelage, Anna *

Kontrabass

Wagner, Marvin

Rau, Stefanie

Schwärsky, Georg

Zón, Jakub *

Flöte

Uhlig, Silke

Dallmann, Franziska

Schreiter, Markus

Oboe

Esteban Barco, Mariano

Vogler, Gudrun

Herzog, Thomas

Klarinette

Kern Michael

Pfeifer, Peter

Zacharias, Ann-Kathrin

Fagott

You, Sung Kwon

Königstedt, Clemens

Gkesios, Thomas

Horn

Ember, Daniel

Holjewilken, Uwe

Mentzen, Anne

Demmler, Frank **

Trompete

Dörpholz, Florian

Gruppe, Simone

Hofer, Patrik

Posaune

Manyak, Edgar

Hauer, Dominik

Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Schlagzeug

Schweda, Tobias

Tackmann, Frank

Vehling, Hanno **

Pauke

Eschenburg, Jakob

* Orchesterakademie

** Gäste

Kooperation

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Übertragung am 29. Januar 2023, 20.03 Uhr (heute Abend). Europaweit. In Berlin auf UKW 89,6 MHz; Kabel 97,55; Digitalradio (DAB), Satellit, online und per App auch zum Nachhören.

Bild-und Videoquellen

  • Bilder Orchester & Vladimir Jurowski © Peter Meisel
  • Portrait Frank Peter Zimmermann © Irène Zandel