Digitales Programm

Fr 5.5.23

Vladimir Jurowski

20:00 Philharmonie

Modest Mussorgski

„Eine Nacht auf dem Kahlen Berge“ (Originalfassung des Komponisten)

Dmitri Schostakowitsch

Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 2 op. 126

Pause

Witold Lutosławski

Sinfonische Variationen für Orchester

Sergei Prokofjew

Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 44

Besetzung

Vladimir Jurowski, Dirigent

Ivan Karizna, Violoncello

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Ralf Sochaczewsky, Assistent des Chefdirigenten

 

19.10 Uhr, Südfoyer, Konzerteinführung von Steffen Georgi

Konzert mit rbbKultur, Sendung am 23. April 2023, 21.05 Uhr

Ivan Karizna ist am 5. Mai beim RSB erstmals zu Gast und interpretiert Schostakowitschs tief berührendes Cellokonzert Nr. 2 aus dem Jahre 1967, umrahmt von Mussorgski und Lutosławski. Zum Schluss erklingt Prokofjews komplexe Dritte Sinfonie, welche mit der Oper "Der feurige Engel" vom gleichen Komponisten korrespondiert. Am Pult steht RSB-Chefdirigent Vladimir Jurowski.

Texte von Steffen Georgi ©

Podcast „Muss es sein?“

Modest Mussorgski

„Eine Nacht auf dem Kahlen Berge“

„Er war sehr elegant, die Uniform geschniegelt und gebügelt, die Haare sorglichst frisiert, wunderbar gepflegte, gleichsam modellierte Hände, ein Grandseigneur.“

(Alexander Borodin über den 17-jährigen Mussorgski)

„Mussorgski. Noch kein Vierziger und doch eine alternde, kränkliche Gestalt. Der immer mehr den Trost, die Stärkung, das Vergessen und die Inspiration im Alkohol suchende, in raschem Tempo seinem Untergang zuschreitende, unglückselige Mussorgski.“

(Alexander von Leontieff über den ca. 38-jährigen Mussorgski)

Der Rausch des Düsteren

Kahle Berge gibt es in Russland viele. Auch in der Ukraine, sogar in Kiyv existiert ein Kahler Berg. Sie heißen so, nicht nur, weil Sturm und Wetter auf den Gipfeln keine Bäume wachsen lassen, sondern weil sie Orte der Geister und Dämonen sind, die dort oben mit dem Wind um die Wette heulen. Mit anderen Worten, stellen Sie sich die Walpurgisnacht auf dem Blocksberg alias Brocken vor, nur größer, mystischer, gruseliger.

Als Modest Mussorgki 1867 die Sinfonische Dichtung „Johannisnacht auf dem Kahlen Berge“ komponierte, just in jenen Tagen um Johannis, zwischen 12. und 23. Juni, hatte er möglicherweise den Kahlen Berg bei Kiyv im Sinn. Denn von dort geht die Sage, dass sich die Hexen in der kürzesten Nacht des Jahres zusammenfinden, um ihren Gebieter, den Teufel, zu empfangen. Mussorgski war wohl selber einmal dabei: „Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, pflegten die Hexen auf diesem Berge zusammenzukommen, trieben ihren Schabernack und erwarteten ihren Herrn – Satan. Bei seiner Ankunft bildeten sie einen Kreis um seinen Thron, auf dem er in Form eines Ziegenbocks saß, und sangen sein Lob. Als Satan durch ihren Preisgesang genügend in Leidenschaft versetzt worden war, gab er den Befehl für den Sabbath, wobei er für sich selbst die Hexen auswählte, die seinen Sinn fesselten.“

Mussorgski schildert diese „Erinnerung“ mit geradezu rüden musikalischen Farben. Er gliedert die Musik in „Versammlung der Hexen und ihr Geschwätz“, „Satans Zug“, „Schwarze Messe“ und „(Hexen-)Sabbat“. Das Orchesterwerk ist von einer rauhen, heftigen Attitüde. Wie Dampf aus der Hölle entweichen scharfe Rhythmen und bizarre Harmonien aus einer brodelnden Ursuppe von Orchesterwogen, denen vor allem eines not zu tun scheint: ein Ventil. Mussorgski darf als einer der faszinierendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts gelten, eben, weil er nicht Maß und Ordnung gehalten hat in seinem Leben wie in seiner Musik. Die Herren Novatoren des „Mächtigen Häufleins“ schien er damit verhext und verschreckt zu haben. Hysterisch fielen sie über ihn her. Ihr Wortführer, Mili Balakirew, nannte Mussorgskis Komposition „Müll“ und „unnütz“. Mussorgski widersprach, freundlich aber bestimmt: „Ich war und bin der Meinung, dass dies ein recht gutes Stück ist, und zwar ein solches, in dem ich zum ersten Mal in einem großen Werk meine eigene Handschrift gezeigt habe. Ob Sie nun, mein Freund, sich einverstanden erklären werden, meine Hexen aufzuführen oder nicht, d.h. ob ich sie hören werde oder nicht – an der allgemeinen Anlage und Ausarbeitung werde ich nichts mehr ändern“, hieß es in einem Brief an Balakirew vom September 1867. Gleichwohl demoralisierte ihn der Affront derart, dass Mussorgski sich nie wieder ein größeres Orchesterwerk vorgenommen hat. Immerhin versuchte er, die musikalische Substanz der „Johannisnacht“ zu retten, indem er sie in zwei Opernprojekte integrierte („Mlada“ und „Der Jahrmarkt von Sorotschinzy“), die beide unvollendet blieben. Ab Mitte der 1870er-Jahre verfiel Mussorgski endgültig dem Verhängnis der Alkoholsucht. Zum Glück haben wir von ihm noch die Oper „Boris Godunow“ und den Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“. Kurz nach seinem 42. Geburtstag starb er und hinterließ einen Großteil seiner Werke unvollendet.

Wohlmeinend nahm sich Freund Nikolai Rimski-Korsakow der „Johannisnacht auf dem Kahlen Berge“ an und bereitete das Orchesterwerk auf die Uraufführung vor. Doch wenn Mussorgski in seiner Version alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, das düstere Hexentreiben in größtmöglicher Schroffheit und Wildheit darzustellen, machte sich Rimski-Korsakow daran, das Werk zu glätten und zu entschärfen. Er bediente sich dabei jenes Materials, das Mussorgski selbst für seine beiden Opernentwürfe vorgesehen hatte, unter anderem einen versöhnlichen Schluss bei Tagesanbruch.

1886 erlebte das Werk unter dem Titel „Eine Nacht auf dem Kahlen Berge“ in Rimski-Korsakows Bearbeitung in Sankt Petersburg die Uraufführung. Seitdem kündet es weltweit von Mussorgskis schroffer Kunst, wenn auch in der abgemilderten Variante. Weitere Dirigenten und Arrangeure erschlossen das Werk durch Bearbeitungen u.a. dem Film und sogar der Rockmusik. Die Originalfassung wurde 1920 wiederentdeckt und steht inzwischen alternativ für Konzerte zur Verfügung.

Dmitri Schostakowitsch

Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 2 G-Dur op. 126

Transparente Trauer

Largo
Allegretto
Allegretto

Das Recht auf die Tragödie und die tragische Kunst... Das Tragische ist nicht das Pessimistische... Über den Begriff „optimistische Tragö­die“. Über die Furcht vor dem Tragischen... Schostakowitsch als tragischer Poet in der Musik. Die Überwin­dung der Tragödie. Der Triumph der mann­haften Kraft. Transpa­rente Trauer...

Was Iwan Sollertinski hier in Gedankensplittern über Schostakowitsch sagt, lässt sich anhand vieler seiner Werke musikalisch untermauern. Das gilt auch für das zweite Violoncello-Konzert aus dem Jahre 1966. Am 25. September, dem 60. Geburtstag Dmitri Schostakowitschs, erklang es in einem Festkonzert im Moskauer Konservatorium neben der ersten Sinfonie des Jubilars, die den damals Neunzehnjährigen auf einen Schlag bekannt gemacht hatte. Mstislaw Rostropowitsch spielte den Solopart des neuen Werkes.

Während man sich hörend in die fahlen Weiten dieser Musik versenkt, mag man sich fragen, wie dem Komponisten zumute gewesen sein muss, als er an eben jenem 60. Geburtstag mit Ehrungen überhäuft wurde: Hun­derte von Glückwunschtelegrammen ka­men aus aller Welt, die Königliche Philharmonische Gesellschaft Großbritanniens verlieh ihm die Goldmedaille, die UNESCO berief ihn in den Internationalen Musikrat, in Moskau erhielt er den Lenin-Preis und wurde zum „Helden der sozialistischen Ar­beit“ ernannt.

Einer der ersten, der sich detailliert mit dem zweiten Konzert für Violoncello und Orchester von Dmitri Schostakowitsch auseinandergesetzt hat, war Benjamin Britten. Vom Urteil des Kollegen war Schostakowitsch tief berührt, weil Britten „ein sehr sensibler Komponist und ein guter Richter über Musik“ sei. Schostakowitsch seinerseits bewunderte an Britten „die Stärke und die Aufrichtigkeit seiner Gedanken und seine Fähigkeit, emotionale Dichte unter einfachen Oberflächen zu erzeugen.“

Tödliche Bilanz

Für alle nach 1966 entstandenen Werke von Dmitri Schostakowitsch wird der Begriff „Spätwerk“ verwendet. Nach einem Herzinfarkt spürte der ohnehin gesundheitlich geschwächte Komponist die Nähe des Todes. Seine physische Bewegungsfreiheit war durch eine chronische, unheilbare Rückenmarkserkrankung eingeschränkt. Muskelschwäche ließ ihn mehrfach stürzen, sich komplizierte Brüche zuziehen, hinderte ihn zudem am geliebten Klavierspiel und zwang ihn jährlich zu mehrmonatigen Krankenhausaufenthalten.

Mit seiner Lebenstechnik trotzigen Beharrens hinter vorgehaltener Maske, mit todernstem Humor und äußerlicher Gelassenheit auf die schärfsten Verleumdungen zu reagieren, höhlte Schostakowitsch seine Gesundheit aus. Seine acht Jahre währende, von weiteren Herzinfarkten und schweren Schicksalsschlägen geprägte Auseinandersetzung mit dem Tod ist mehr als die künstlerische Reflexion persönlicher Betroffenheit. Es ist die Bilanz des 20. Jahrhunderts durch einen hochgradig sensiblen Musiker.

Zwischen 1966 und 1971 entstanden wichtige Werke, darunter die Sinfonien Nr. 14 und 15, das zweite Violin- und das zweite Violoncellokonzert, die Streichquartette Nr. 11 bis 13 und die Violinsonate. Nach dem letzten Herzinfarkt (September 1972) kamen noch die Streichquartette Nr. 14 und 15, die Zwetajewa-Gedichte, die Michelangelo-Suite und die Bratschensonate hinzu.

Trockene Tränen

Auf sinfonischem Gebiet bildet das zweite Violoncello-Konzert das Bindeglied zwischen der dreizehnten (1962) und vierzehnten (1969) Sinfonie. Niedergeschrieben innerhalb weni­ger Tage im April 1966 in einem Sanatorium auf der Krim, steht es unter dem Eindruck der neuerlichen Erstarrung der politischen Meinungsfreiheit in der Sowjetunion: Nach Chruschtschows „Tauwetter“ folgte die Breshnew-Doktrin. Am Aufbegehren gegen Leid und Unrecht und an der Auseinandersetzung mit dem Tod schärfen sich die Konturen des Violoncello-Konzertes. „Die Musik genießt das große Vorrecht, alles aussagen zu können, ohne irgend et­was zu erwähnen“. (Ilja Ehrenburg)

Das Konzert beginnt mit einem langen langsamen Satz. Ernst und unpathetisch stimmt das Solocello einen abgrundtiefen, in sich gekehrten Klagegesang an. Er wird wesentlich getragen vom Intervall der absteigenden kleinen Sekunde as–g. Nur in sparsamer Kammerbesetzung begleitet das Orchester die schweren Gedanken. Dann wird das schwarze Themenmaterial zwangsweise beschleunigt. Aber es schwingt sich nicht auf zu wirklicher Bewegung, sondern irrt ziellos umher, zerfällt, zerfasert, wird schließlich diszipliniert mit Hilfe eines unheimlichen Dialogs von großer Trommel und Solocello.

Lakonik durchzieht den zweiten Satz. Das Thema ist einem russischen Straßenlied nachempfunden. Die Figuren, die danach tanzen, gehören nicht zu den Gewinnern auf der Bühne des Lebens. Wie Marionetten werden sie von fremder Hand in kaltes Licht getaucht. Gleichwohl gehorchen sie einem exakten Ablaufplan, den Schostakowitsch wie ein Raster zugrunde gelegt hat: Eine komplexe Doppelsonatenform möchte diesem „Scherzo“ Halt geben. Doch anstatt sich zu straffen, „scherzen“ die armseligen Gestalten mit jaulenden Glissandi.

Hörnerrufe und Trommelwirbel rufen erneut zur Ordnung, leiten zum abschließenden Allegretto über. Erschrocken wiederholt das Solo-Cello zunächst die Losung, klinkt sich aber mehr und mehr aus dem Getriebe aus, mal ironisch, mal traurig.

Das Finale sinkt zurück in die Ausdruckssphäre des Largo. Das falsche grelle Licht verblasst, verlischt, schließlich weicht es der anfänglichen Dunkelheit. Noch einmal zuckt das Tanzbein der Marionette, dann entgleiten dem Spieler die Fäden. Klappernd fällt die Musik ins Leere.

Witold Lutoslawski

Sinfonische Variationen für Orchester

In der Musik darf es keine gleichgültigen Klänge geben.

Witold Lutosławski

Freiheit braucht Disziplin

Die Vaterfigur der russischen Musik des späten 19. Jahrhunderts, Nikolai Rimski-Korsakow, Mussorgskis Nachlassverwalter, war auch der Lehrer des polnischen Komponisten Witold Maliszewski. Der wiederum stülpte an der Warschauer Musikhochschule seinen konservativen Geschmack über die neuen Kompositionen der eigenen Schüler. Einer davon, Witold Lutosławski, erhielt für eines seiner ersten größeren Werke 1938 Maliszewskis Stempel verpasst: „Hässlich“.

Dabei enthält bereits die Komposition des 25-Jährigen jene Merkmale, die für Lutosławski typisch werden sollten: handwerklich-perfekt, mit dem Metier als praktizierender Musiker bestens vertraut, von geradezu mathematischer Logik.

Lutosławskis künstlerischer Weg sollte den diplomierten Pianisten und Komponisten 1939 eigentlich für weitere Studien nach Paris führen. Dann kam der Krieg – nur zehn Wochen nach der Uraufführung der Sinfonischen Variationen überfielen die Nazis Polen. Lutosławski wurde Soldat und als Funker nach Krakau befohlen. Dort kam er bald in deutsche Gefangenschaft, aus der er fliehen konnte. Die 400 Kilometer zurück nach Warschau legte er zu Fuß zurück. Um Geld zu verdienen, spielte Lutosławski Klavier in einer Tanzkapelle und in Warschauer Cafés. Die Musik dafür arrangierte er selbst. Die erste Sinfonie, in Arbeit seit 1941, fiel Ende der 1940er-Jahre unter das Verdikt des Sozialistischen Realismus, wurde als formalistisch und volksfern abgetan. Parallel dazu zeichnete man ihn für einige Sätze von Kinderliedern, die er bearbeitet hatte, mit dem Preis des Premierministers aus. Nach Stalins Tod 1953 etablierte sich in Polen eine vergleichsweise unabhängige Szene der zeitgenössischen Musik, ab 1956 ermöglichte der „Warschauer Herbst“ auch internationale Begegnungen.

Lutosławski distanzierte sich später selber von seiner ersten Sinfonie, jedoch quasi in die andere Richtung. Eine Art „Endstadium bei der Zerlegung des tonalen Systems“ sei erreicht, „aus dem keine Entwicklungsperspektiven mehr folgen.“ Ab 1958 entwickelte er eine eigene Lesart der Schönbergschen Zwölftontechnik, indem er, statt mathematisch und seriell zu werden, nach einer „ausdrucksvollen Physiognomie“, einer „charakteristische Farbe“ der Klänge suchte. Später arbeitete er mit „kontrollierter Aleatorik“. Die Bodenhaftung Lutosławskis verdankt sich der unverändert eingängigen, meist metrischen Rhythmik. Und er vermochte es, die Form auch komplexer Werke anschaulich und nahvollziehbar zu gestalten – Fähigkeiten eines Mathematikers eben.

Sergei Prokofjew

Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 44

„Sie wirkte auf mich wie ein Weltuntergang... Im dritten Satz, dem Scherzo, spielen die Streicher eine abgehackte Figur, die geradezu fliegt, wie Rußflocken, als brenne etwas in der Luft. Der letzte Satz beginnt im Charakter eines Trauermarsches – grandiose Massen türmen sich auf und stürzen zusammen – eben ein ‘Weltuntergang’; nach einiger Beruhigung beginnt alles mit doppelter Gewalt und Grabesgeläut von neuem. Ich saß da und wusste nicht, was aus mir wird. Ich wollte mich verstecken. Ich blickte auf einen Nachbarn, er war feucht und rot im Gesicht... Noch in der Pause lief es mir kalt über den Rücken.“

Swjatoslaw Richter, 1939

Moderato – Un poco tranquillo – Poco più mosso – Poco meno – Più mosso – Più animato – Meno mosso – Moderato

Andante

Scherzo. Allegro agitato – Più mosso – Tempo I – Pocchissimo più animato – Allegro agitato - Meno mosso

Finale. Andante mosso – Poco più mosso – Allegro moderato – Andante non troppo – Tranquillo, un poco gravamente – Andante – Allegro moderato – Andante maestoso

Faszination Stahl

„Seine Finger sind Stahl, seine Handgelenke Stahl, seine Bizeps und Trizeps Stahl, seine Schultern Stahl...“, staunte die New York Times am 21. November 1918 über den russischen Pianisten Sergei Prokofjew. Man erwartete wohl einen zweiten Rachmaninow, erschrak dann aber regelmäßig über die moderne Tonsprache, fand sie „schön schrecklich“. „Aber das ist ja ein reißendes Tier“ hatte der Maler Mitja Sert 1914 bei einer Voraufführung des zweiten Klavierkonzertes ausgerufen.

Die Faszination moderner Technik, speziell die Revolution des Materials Stahl bemächtigte sich Anfang der 1920er-Jahre der Musik wie aller anderen Künste. Gigantische Bauwerke und Brücken in den USA, Türme in Europa, Lokomotiven, Schiffe und Maschinen fanden ihren Reflex beispielsweise bei Darius Milhaud („Machines agricoles“, 1919), Edgard Varèse („Ameriques“, 1920/21), Arthur Honegger („Pacific 231“, 1923), in den Klaviersonaten Georges Antheils, den Klavierkonzerten Alexander Mossolows und in Werken Sergei Prokofjews.

1924/1925 entstanden eine große – seine zweite – Sinfonie „aus Stahl und Eisen“ sowie 1925/1926 ein dröhnendes Ballett für die Diaghilew-Truppe unter dem Titel „Der stählerne Schritt“.

Dem Teufel ausgeliefert

Dazwischen und daneben hatte Prokofjew 1919 völlig ohne Auftrag und insofern auch ohne unmittelbare Aussicht auf finanziellen Erfolg mit der Komposition einer neuen Oper begonnen: „Der feurige Engel“. Vier Jahre lang band das düstere Sujet nach der gleichnamigen Novelle von Waleri Brjussow die schöpferischen Kräfte des Komponisten. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ein Großteil der Musik 1921/1922 in Ettal in Bayern in unmittelbarer Nachbarschaft des berühmten Klosters komponiert worden ist. Prokofjew hatte hier mit seiner frischvermählten Frau Lina knapp zwei Jahre preisgünstig, aber gesellschaftlich isoliert gelebt, bevor die Prokofjews 1923 wieder nach Paris übersiedelten.

Der symbolistische Text thematisiert die Spannungen zwischen Wissenschaft und Magie, zwischen Religion und Okkultismus im Europa der Inquisitionszeit. Renata, „eine vom Teufel besessene Frau“, geht im mittelalterlichen Deutschland an ihrer Sucht nach Liebe und Erlösung zugrunde. Sie wird verführt und betrogen von Madiel, dem „feurigen Engel“ in Gestalt des Grafen Heinrich. Auch der tugendsame Ruprecht, der sich für sie von Heinrich schwer verwunden lässt, kann sie trotz einer eingegangenen Verbindung zu Faust und Mephisto nicht retten.

Ruhelos hin- und hergeworfen zwischen selbstverleugnender Heilshoffnung und sexueller Hemmungslosigkeit, ist Renata Spielball im Netz der Bischöfe, Grafen, Gelehrten und Landsknechte: „Dieses Weib ist schuldig, fleischlich Umgang zu haben mit Satanas. Man überliefere sie dem Strafgericht Inquisition. Zur Folter mit der Hexe, lasst sie verbrennen!“ Dies schreit der Inquisitor in höchster Erregung; mit seinem Stab würde er Renata am liebsten durchbohren. – Tiefenpsychologische Bildhaftigkeit. Symbolträchtiges Seelendrama. Prokofjews Einzug in den Olymp der ganz Großen? Bruno Walter beschäftigte sich eingehend mit dem Stück, wollte es 1926, dann 1927 an der Staatsoper in Berlin herausbringen – und sagte aus fadenscheinigen Gründen ab. Auch andere Theater zögerten, Prokofjew war wütend und verzweifelt. Erst nach seinem Tod, 1954, gab es die erste konzertante, ein Jahr später die erste szenische Aufführung in Venedig. Vladimir Jurowski dirigierte die Oper 2015 an der Bayerischen Staatsoper in München. Dem voraus waren 30 Jahre intensiver Beschäftigung mit dem Werk gegangen.

Apocalypse now

Um die unerhörte, prophetische Musik zu retten, hob Prokofjew sie zu Lebzeiten in einer Sinfonie auf. Keine Suite oder sonstige kleinere Form, sondern eine anno 1928 in Paris und im ganzen Westen anachronistische Gattung Sinfonie. „Die so entstandene Dritte Sinfonie halte ich für eine meiner wesentlichsten Kompositionen. Ich habe es nicht gern, wenn sie die ‘Sinfonie des feurigen Engels’ genannt wird“. Ihre Uraufführung fand am 17. Mai 1929 in Paris unter Leitung von Pierre Monteux statt. 1948 war die Sinfonie eines der Werke Prokofjews, die in der UdSSR auf die Verbotsliste gesetzt wurden.

Die zahlreichen Tempowechsel innerhalb des ausgedehnten ersten Satzes sind das äußere Anzeichen für eine jähe Abfolge unversöhnlicher musikalischer Gedanken, die nahezu alle der Oper entstammen, um sich in der Sinfonie nervös und hart aneinander zu reiben. Eine Vision von unendlich zarter, zerbrechlicher Schönheit appelliert im zweiten Satz in aller Bescheidenheit an jeden noch so geringen Glücksanspruch, von dumpfem Stampfen immer wieder existentiell bedroht. Blinde Zerstörungswut, die einsamen Figuren zum Herumirren in völliger Orientierungslosigkeit verdammend, so bricht das Scherzo herein. Der zwischenzeitliche Trost ist behäbig und selbstgefällig, entpuppt sich als korrumpiert, wandelt sich selbst zum Bedrücker, jagt die Bedrängten schließlich wie unter grellem Scheinwerferlicht, um sich an ihrer schrillen Panik zu weiden. Spätestens die apokalyptische Düsternis des Finales offenbart das Unentrinnbare mit aller Wucht.

Prokofjews Sinfonie Nr. 3 ist Zukunfts-Musik, sie ist Welt-Anschauung eines Wanderers zwischen den politischen Systemen. Sie ist moralische Prognose für das Terrain jenseits von Sowjetstern und Mercedesstern. Diese Prognose fällt nicht günstig aus, für niemanden.

Kurzbiographien, Abendbesetzung

Vladimir Jurowski

Vladimir Jurowski ist seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Seinen Vertrag hat er mittlerweile bis 2027 verlängert. Parallel dazu ist er seit 2021 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.

Der Dirigent, Pianist und Musikwissenschaftler Vladimir Jurowski wurde zunächst an der Musikhochschule des Konservatoriums in Moskau ausgebildet. 1990 kam er nach Deutschland, wo er sein Studium an den Musikhochschulen in Dresden und Berlin fortsetzte. 1995 debütierte er beim britischen Wexford Festival mit Rimski-Korsakows „Mainacht“ und im selben Jahr am Royal Opera House Covent Garden mit „Nabucco“. Anschließend war er u.a. Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin (1997– 2001) und Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera (2001–2013). 2003 wurde Vladimir Jurowski zum Ersten Gastdirigenten des London Philharmonic Orchestra ernannt und war von 2007 bis 2021 dessen Principal Conductor. Ebenfalls bis 2021 war er Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters „Jewgeni Swetlanow“ der Russischen Föderation und Principal Artist des Orchestra of the Age of Enlightenment in Großbritannien, außerdem Künstlerischer Leiter des Internationalen George-EnescuFestivals in Bukarest. Er arbeitet regelmäßig mit dem Chamber Orchestra of Europe und dem ensemble unitedberlin.

Vladimir Jurowski hat Konzerte der bedeutendsten Orchester Europas und Nordamerikas geleitet, darunter die Berliner, Wiener und New Yorker Philharmoniker, das Königliche Concertgebouworchester Amsterdam, das Cleveland und das Philadelphia Orchestra, die Sinfonieorchester von Boston und Chicago, das Tonhalle-Orchester Zürich, die Sächsische Staatskapelle Dresden und das Gewandhausorchester Leipzig. Er gastiert regelmäßig bei den Musikfestivals in London, Berlin, Dresden, Luzern, Schleswig-Holstein und Grafenegg sowie beim Rostropowitsch-Festival. Obwohl Vladimir Jurowski von Spitzenorchestern aus der ganzen Welt als Gastdirigent eingeladen wird, möchte er seine Aktivitäten zukünftig auf jenen geographischen Raum konzentrieren, der unter ökologischem Aspekt für ihn vertretbar ist.

Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ist er 2022/2023 bei Konzerten in verschiedenen Städten Deutschlands, Italiens und in Antwerpen in den Niederlanden zu erleben. Die gemeinsamen CD-Aufnahmen von Vladimir Jurowski und dem RSB begannen 2015 mit Alfred Schnittkes Sinfonie Nr. 3. Es folgten Werke von Britten, Hindemith, Strauss, Mahler und demnächst erneut Schnittke. Vladimir Jurowski wurde vielfach für seine Leistungen ausgezeichnet, darunter mit zahlreichen internationalen Schallplattenpreisen. 2016 erhielt er aus den Händen von Prince Charles die Ehrendoktorwürde des Royal College of Music in London. 2018 kürte ihn die Jury der Royal Philharmonic Society Music Awards zum Dirigenten des Jahres. 2020 wurde Vladimir Jurowskis Tätigkeit als Künstlerischer Leiter des George-Enescu-Festivals vom Rumänischen Präsidenten mit dem Kulturverdienstorden gewürdigt.

Ivan Karizna

„Dieser Riese von einem Musiker, der über zwei Meter groß ist, besitzt eine fast erhabene Sensibilität in der musikalischen Interpretation, die im Kontrast zu seinem beeindruckenden Körperbau steht. Er hat eine ‚Rockstar‘-Qualität an sich, die ebenso verblüffend wie faszinierend ist.“ Branchés Culture

Ivan Karizna ist einer der ungewöhnlichsten und ausdrucksstärksten Musiker der jungen Generation, der gleichermaßen für seine poetischen Interpretationen wie für seine eindrucksvolle, kraftvolle Präsenz auf der Bühne bekannt ist. Sein Spiel wurde von lebenden Legenden der Musikwelt gerühmt, darunter Andras Schiff, der Ivan als „einen der besten Cellisten seiner Generation“ bezeichnete, und Gidon Kremer, der einmal feststellte: Ivan hat durch die Musik etwas Besonderes zu sagen.
Ivan entstammt zwei unterschiedlichen Schulen des Spiels. Bis zum Alter von 17 Jahren wurde er in der traditionellen russischen Schule ausgebildet, doch nach seiner Aufnahme am Pariser Konservatorium setzte er seine Studien bei Jerome Pernoo und später bei Frans Helmerson an der Kronberg Academy in Deutschland fort. In diesen Jahren war er Preisträger solch renommierter internationaler Wettbewerbe wie des Tschaikowsky-Wettbewerbs in Moskau, des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs in Brüssel und der Guilermina Suggia in Porto.
In den letzten Spielzeiten war Ivan Karizna als Solist mit dem Stuttgarter Kammerorchester, dem hr-Sinfonieorchester in Frankfurt, dem MDR-Sinfonieorchester Leipzig, den Brüsseler Philharmonikern, dem Chamber Orchestra of Europe, dem Orchestre symphonique de Montréal, dem Nationalen Sinfonieorchester der Ukraine und anderen zu hören. Er arbeitete mit Dirigenten wie Christoph Eschenbach, Stéphane Denève und Juraj Valčuha zusammen.

Im Januar 2023 gab Ivan sein hochgelobtes Debüt im Concertgebouw Amsterdam, als er für Truls Mørk im Dvořák-Konzert mit der Niederländischen Philharmonie unter der Leitung von Markus Poschner einsprang. Auch heute Abend ersetzt er dankenswerterweise Truls Mørk, der das Konzert aus gesundheitlichen gründen absagen musste.

Als leidenschaftlicher Kammermusiker arbeitet er häufig mit Musikerinnen und Musikern wie Clara Jumi Kang, Amihai Grosz, Elena Bashkirova, Gerard Causse, Boris Brovtsyn, Enrico Pace, Olli Mustonen, Liza Fershtman, Andrei Korobeinikov, Alena Baeva, Vadym Kholodenko und Mate Bekavac zusammen.
Ivan Karizna spielt ein Tassini-Cello von 1760, „ex Paul Tortelier“, eine großzügige Leihgabe eines Mitglieds der Stretton Society.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Nebel, David
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Tast, Steffen
Pflüger, Maria
Morgunowa, Anna
Kynast, Karin
Feltz, Anne
Polle, Richard
Scilla, Sofia *
Heidt, Cathy *
Khachatryan, Davit **

Violine 2

Kurochkin, Oleh
Simon, Maximilian
Drop, David
Seidel, Anne-Kathrin
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Manyak, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Färber, Juliane
Bara, Anna
Palascino, Enrico
Vatseba, Vasyl **
Wehmschulte, Felicitas **

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Markowski, Emilia
Drop, Jana
Doubovikov, Alexey
Montes, Carolina
Nell, Lucia
Balan-Dorfman, Misha
Kreuzpointner, Isabel *
Burmeister, Daniel *

Violoncello

von Gutzeit, Konstanze
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Kalvelage, Anna *

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Nejjoum-Barthélémy, Mehdi
Zón, Jakub *
Wheatley, Paul **
Lee, Okhee **

Flöte

Schaaff, Ulf-Dieter
Döbler, Rudolf
Schreiter, Markus

Oboe

Esteban Barco, Mariano
Grube, Florian
Herzog, Thomas

Klarinette

Link, Oliver
Pfeifer, Peter
Zacharias, Ann-Kathrin

Fagott

You, Sung Kwon
Königstedt, Clemens
Gkesios, Thomas

Horn

Ember, Daniel
Klinkhammer, Ingo
Mentzen, Anne
Stephan, Frank

Trompete

Dörpholz, Florian
Ranch, Lars
Niemand, Jörg
Hofer, Patrik

Posaune

Hölzl, Hannes
Hauer, Dominik
Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud
Ravot, Marion **

Percussion

Schweda, Tobias
Tackmann, Frank
Weiss, Leonard **
Grahl, Christoph **

pauken-picto

Pauke

Eschenburg, Jakob

Klavier/Celesta

Gneiting, Heike **
Inagawa, Yuki **

* Orchesterakademie

** als Gast

Kooperationspartner

rbb-kultur-logo

Konzertübertragung bei rbb Kultur 07.05. 20:03 Uhr

Bild- und Videoquellen

Portrait Ivan Karizna © Yannis Gutmann

Bilder Orchester © Peter Meisel

Bilder Vladimir Jurowski © Peter Meisel

https://www.youtube.com/watch?v=mg8gefbv87M