Digitales Programm

So 29.9. Ton Koopman

20:00 Philharmonie

Jean-Philippe Rameau

Suite aus der Oper „Les indes galantes“

Johann Sebastian Bach

Orchestersuite Nr. 4 D-Dur BWV 1069

Pause

Georg Friedrich Händel

Concerto a due cori Nr. 2 F-Dur

Joseph Haydn

Concerto a due cori Nr. 2 F-Dur

Besetzung

Ton Koopman, Dirigent
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Südfoyer, Steffen Georgi

Das Konzert wird am 13.10.2024 um 21.05 Uhr auf Deutschlandfunk übertragen.

Ein frisches Barock-Bad mit Ton Koopman

Ton Koopman, 1944 im niederländischen Zwolle geboren, ist längst zu einer Legende geworden innerhalb der die Ohren nachhaltig reinigenden Bewegung der authentischen Aufführungspraxis der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Organist, Cembalist und Musikwissenschaftler gründete 1979 das Amsterdam Baroque Orchestra und 1992 den Amsterdam Baroque Choir, mit denen er weltweit große Erfolge feierte. Über 400 Einspielungen dokumentieren seine umfangreiche Tätigkeit, darunter sein wohl umfassendstes Projekt: die Gesamtaufnahme aller Kantaten von Johann Sebastian Bach. In den letzten Jahren brachte Ton Koopman – weitgehend ohne die Verwendung historischer Instrumente – vielen der bedeutendsten Orchester in Europa, den USA und Japan die historisch informierte Aufführungspraxis nahe, darunter schon mehrfach auch dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB).
Bach und Händel unter Koopmans Leitung versprechen erfrischende Klangerfahrungen. Rameau gehört zu den Leidenschaften des niederländischen Musikers, zumal sich hier gerade das deutsche Publikum immer wieder auf positive Verblüffungen freuen darf. Und Haydn? Der entpuppt sich einmal mehr als der Schelm, der dem Publikum das vermeintlich allfällige Gähnen gehörig auszutreiben versteht!

Podcast "Muss es sein?"

Jean-Philippe Rameau

Suite aus der Oper „Les indes galantes“

„Der unsterbliche Rameau ist das größte musikalische Genie, das Frankreich hervorgebracht hat.“

Camille Saint-Säens

Galant, galant

Suite aus der Oper „Les Indes galantes“

Ouverture. Lent
Orage. Vite
Air pour Borée. Très vite
Musette. Moderé
1er Tambourin. Gai
2er Tambourin
1er Rigaudon
2er Rigaudon
Rondeau

Jean-Philippe Rameaus galante Inder leben keineswegs in Indien, sondern zum Beispiel einmal mehr in – Nordamerika, wo 1492 bereits Christoph Kolumbus meinte, sie entdeckt zu haben und deswegen „Indios“ respektive „Indianer“ nannte. Aber auch in der Türkei, in Peru und Persien gibt es vergnügungssüchtige Inder, so man Rameau glauben darf.
Nein, der große französische Barockmusiker hat keinerlei bevölkerungspolitische Vorurteile, geschweige denn irgendwelche Ressentiments gegen irgendeine Ethnie.

Der Titel seiner Ballettoper „Les Indes galantes“ nimmt vielmehr Bezug auf den Erfinder des Genres der Ballettoper, einer Sonderform der französischen Grand Opéra, auf André Campra. Der hatte 1697 ein Werk namens „L’Europe galante“ vorgelegt, in welchem er Prachtexemplare von galanten Europäerinnen und Europäern aus Frankreich, Spanien, Italien und der Türkei heftig miteinander turteln ließ. Diese Ballettoper mit denkbar belangloser Handlung, dafür umso prunkvolleren Kostümen, überraschenden Bühneneffekten und furioser Inszenierung avancierte in Frankreich zu einem Publikumsmagneten, so dass der gar nicht faule Rameau dem Portfolio der galanten Liebhaber noch eins draufsetzte: die Exotik der fernen Länder. Und natürlich seine unvergleichliche, mitreißende Musik.

les Indes galantes Rameau (circa-1735)

Barockschock

Rameau, zwei Jahre älter als Bach und Händel, tätig am Hof von Ludwig XV, hat ein überaus schillerndes, repräsentatives Lebenswerk hinterlassen, das Kompositionen für Tasteninstrumente, Lieder, vor allem aber Opern und Ballette einschließt. Darüber hinaus hat er vielbeachtete musiktheoretische Traktate verfasst. Rameaus Sache ist es nie gewesen, sich politisch korrekt zu benehmen und vornehme Zurückzuhaltung zu üben. Mit Vehemenz hat er seine sowohl klassisch-konservativen als auch modern-innovativen Positionen vertreten und nicht gezögert, in die hitzigen Debatten darüber immer wieder selbst einzugreifen. Das zeitgenössische Publikum liebte und hasste ihn dafür gleichermaßen. Erhaben widerstand er den Niederungen all der Egogefechte und Hofintrigen, allein mit der Energie seines stupenden musikalischen Könnens.

Fünfzig Jahre alt war Rameau, als es ihm endlich gelang, als Opernkomponist Fuß zu fassen, um fast bis zu seinem 80. Geburtstag Maßstäbe in dieser urfranzösischen Gattung zu setzen. Besonders an seinem berühmten Vorgänger Jean-Baptiste Lully rieb sich Rameaus Eigensinn. So geriet 1733 die Uraufführung seiner ersten großen Oper, der Tragédie lyrique „Hippolyte et Aricie“, zu einem ästhetischen „Choc“. Anstatt gemessen und elegant wie Lully, formte Rameau seine Arien und Rezitative spektakulär und radikal, unterstützte dies noch mit einer farben- und kontrastreichen Instrumentierung und einer diffizilen, auch Dissonanzen nicht scheuenden harmonischen Sprache. Von vornherein hatte für ihn die Musik das Primat. So konnte er auf einem weiteren Gebiet, dem in Frankreich sehr beliebten Ballett, für Furore sorgen. Neben seinen fünf großformatigen Opern nahmen sechs abendfüllende Opéra-ballets und weitere kleinere Werke die Herzen des Publikums für ihn ein.

Amor mischt immer mit

Die Uraufführung von „Les Indes galantes“ findet am 23. August 1735 in Paris statt.

Gleich nach der Ouvertüre entsendet kein Geringer als Amor selber, der griechische Gott der Liebe, den Chor und das Ballett in entfernte Länder, um die dortigen Formen der Liebe zu erkunden.

Der erste Akt ist eine Parabel über den großmütigen Pascha, wie sie später Mozart in „Die Entführung aus dem Serail“ noch einmal aufgreifen wird. Weniger gut geht der zweite Akt aus. Nicht nur wird der Sonnentempel in Peru durch die spanischen Konquistadors zerstört, sondern der Inkaherrscher verliert auch noch seine Angebetete an den Offizier Don Carlos.

Nach der Uraufführung des ursprünglichen Zweiakters hat Rameau kurzerhand noch einen dritten und später gar einen vierten Akt ergänzt. So spielt das Überkreuz-Techtelmechtel a la „Così fan tutte“ im dritten Akt in Persien, um sich am Ende – genau wie später bei Mozart – in liebliches Wohlgefallen aufzulösen. Der vierte Akt macht uns bekannt mit den „Wilden“ (Les Sauvages) von Nordamerika. Doch die Indianer trotzen den französisch-spanischen Truppen gar nicht mit Waffengewalt, sondern mit einem Friedenstanz „Forêts paisibles“ (Friedliche Wälder). Rameau greift hier auf seine Pièces de clavecin von 1728 zurück. Last but not least sorgen zwei Menuette und eine feierliche Chaconne für den krönenden Abschluss der Ballettoper.

Nachdem das Werk im 18. Jahrhundert oft gespielt worden war, geriet es nach dem Tod von Ludwig XV in Vergessenheit. 1925 erweckte der französische Komponist Paul Dukas es zu neuem Leben, indem er das Notenmaterial edierte und einige Bearbeitungen auskoppelte.

Spätestens seit der prunkvollen Inszenierung 1957 in der Königlichen Oper im Schloss Versailles zu Ehren von Königin Elisabeth II. von England haben sich „Les Indes galantes“ von Jean-Philippe Rameau wieder im Opernrepertoire etabliert.

Im Orchester spielt die Musik

Eine opulente französische Ouvertüre in G-Dur eröffnet die Ballettoper. Da ist der Altmeister Jean-Baptiste Lully noch nicht fern. Auf den Prolog folgt eine sanfte Musette von Hebe, der Göttin der Jugend (Sopran). Dort hinein fahren martialische Trompetenfanfaren, wirkungsvoll den Auftritt der Kriegsgöttin Bellone (Bass!) ankündigend. Rameau hat sofort erkannt, dass er die instrumentalen Teile der Opern und Ballette für Konzertzwecke zweitverwerten kann. In der Druckausgabe der Suiten aus seiner Oper „Les Indes galantes“ schreibt er 1735 im Vorwort, dass dem Publikum die Orchesterpassagen viel mehr zu gefallen scheinen als die ganze Oper.

Wenn in der Ouvertüre, den Zwischenaktmusiken und Festgesängen die Winde toben und die Herzen Purzelbäume schlagen, dann erinnern die rauschenden Tonleitern der Streicher an jene Kapriolen, die Antonio Vivaldi 1725 etwa in den Concerti „Vier Jahreszeiten“ vorgelegt hat. Die vier „Jahreszeiten“-Konzerte sind ab 1728 oft in Paris aufgeführt und in einer Pariser Ausgabe gedruckt worden. Jean-Philippe Rameau wird sich nicht gescheut haben – ebenso wenig wie nördlich der Alpen Johann Sebastian Bach –, dem italienischen Kollegen seine bewundernde Referenz zu erweisen.

Einleitungen, Überleitungen, Ausleitungen, dazu Bühnenmusik und jede Menge Tänze, all das versammelte Rameau eigenhändig in insgesamt fünf Suiten für Orchester, denen die Opernhandlung nicht mehr anzumerken ist. Ton Koopman wiederum hat aus diesen Suiten die Essenz der Essenz gezogen, die er heute Abend an den Anfang seines Konzertprogrammes stellt.

Johann Sebastian Bach

Orchestersuite Nr. 4 D-Dur BWV 1069

Familienbande

Ouverture
Bourrée I
Bourrée II
Gavotte
Menuett I
Menuett II
Réjouissance

Die Musikerfamilie Bach war ursprünglich eigentlich eine Bäckerfamilie. Stammvater Veit Bach (um 1550–1619) kam aus Ungarn nach Thüringen. Er war aus der Puszta wegen des lutherischen Glaubens ins Herz der Reformation, in die Nähe Martin Luthers, ausgewandert und brachte den Namen und das Handwerk mit nach Deutschland. Hier bedeutete das Wort „bachen“ bis ins späte Mittelalter: backen. In den Städten waren die Handwerksmeister in Zünften organisiert, wo sie als Meistersinger und Stadtpfeifer nach einer uralten bildungsbürgerlichen Tradition zugleich für das städtische Kultur-, vor allem für das Musikleben zuständig waren. Mehr als 100 Jahre lang dominierten die „Bache“ auf diese Weise die Erfurter Stadtpfeiferei. Insgesamt 77 männliche Nachkommen der Bach-Dynastie in der Erfurter und der Arnstädter Linie binnen 300 Jahren sind bis ca. 1860 nachgewiesen.

Davon waren die meisten schon längst keine Bäcker mehr. Dafür hatte sich der Begriff „die Bache“ in Erfurt eingebürgert für die Stadtpfeifer an sich, auch wenn sie nicht Bach hießen. Johann Sebastian war der dritte und jüngste Sohn von Johann Ambrosius Bach (1645–1695), geboren 1685 in Eisenach. Während er selber auf unvergleichliche Weise zugleich ein Ende und einen Anfang in der Musikgeschichte verkörperte, emanzipierten sich seine Söhne unterschiedlich konsequent gegen die Übermacht des „Alten“ in Richtung Zukunft. Vielleicht war es kein Zufall, dass gerade die Bach-Söhne an der neuen, kontrastreichen Ausdrucksfülle des Sturm und Drang maßgeblichen Anteil hatten und damit der Wiener Klassik den Weg ebneten.

Air & Co.

Vater Bach ist im heutigen Konzert vertreten mit einer seiner berühmten „Ouvertüren-Suiten“ für Orchester. Ob sie noch in Köthen entstanden sind oder als Neukompositionen für das Leipziger Collegium musicum, sei dahingestellt. Johann Sebastian Bach hatte 1729 die Leitung der studentischen Musiziergemeinschaft übernommen, nachdem ihm das doppelte Kantorenamt zwar Immenses an Zeit und Arbeit abforderte, aber auf die Dauer starr und eintönig geworden war. Bach suchte nach weltlichen Ausdrucksmöglichkeiten und eigenhändiger musikalischer Praxis, wie sie ihm an allen seinen vorherigen Stationen möglich gewesen war. Da kam ihm die etwa 20-köpfige Gruppe aus ambitionierten Musikern gerade recht. Man probte bei Bachs zu Hause und trat wöchentlich auf: sommers „bey Herrn Gottfried Zimmermann auf der Wind-Mühl-Gaße im Garten, winterüber Freytags abends im Coffee-Haus auf der Katerinen-Straße“ (Lorenz Mizler). Natürlich ließ man auch Sonderaufträge für universitäre Huldigungs- und fürstliche Festmusiken nicht aus, versprachen die doch nicht zuletzt eine interessante Nebeneinnahme. Bach pflegte stets in höchster Qualität – und dennoch ökonomisch zu arbeiten. So stammten die Werke womöglich zum Teil aus älterer Zeit, wurden aber für den Zweck in Leipzig aufpoliert, uminstrumentiert, erweitert, gestrafft, je nachdem. Auf diese Weise blieben die vier Orchestersuiten erhalten.

Die gelegentlich zu hörenden Namen „Ouvertüre“ oder „Ouvertürensuite“ verweisen auf die Gewichtung des ersten Satzes, der vollmundig die Werke eröffnet, eine Tradition aus der Oper, diesmal der französischen etwa von Lully.

Hier besteht eine Verbindung zur Sinfonia, die ebenfalls aus einer Ouvertüre, diesmal der italienischen, hervorgegangen ist. Auf die Ouvertüre folgen bei Bach eine Reihe von prägnant geformten Tanzsätzen nach italienischen und französischen Vorbildern – unter denen gerade deshalb auch eine „Allemande“ wandeln kann. Es handelt sich jeweils um Stilisierungen, deren folkloristischer Hintergrund freilich auch sozialen Sprengstoff an die Adresse des höfischen Publikums sendet.

Soweit die Tradition. Bach jedoch belebt die alten Schläuche mit neuem Wein. Anspruchsvolle kontrapunktische Satztechnik, effektvolle Instrumentierung, deftig überzeichnete Tanzmelodien und -Rhythmen sowie eine kontrastreiche, augenzwinkernde, oft verblüffende Dramaturgie des Ablaufs sind seine Markenzeichen. Tradition und Zeitgeist, Handwerk und Kunst gehen ebenjene Liaison ein, die Bach zu dem macht, was er ist.

Georg Friedrich Händel

Concerto a due cori Nr. 2 F-Dur

Das Miteinander als Prinzip

Pomposo
Allegro
A tempo giusto
Largo
Allegro ma non troppo
A tempo ordinario

 
Fühlen Sie sich eingeladen, die verschiedenen Facetten des Konzertierens mit uns zu feiern! Erleben Sie, wie musikalische Bälle spielerisch hin- und herfliegen, wie natürliche Rede und kultivierte Gegenrede sich gegenseitig zu inspirieren vermögen, wie flexibles Aufeinandereingehen Kommunikation überhaupt erst möglich macht. Und wie kluges Reden mit Ausredenlassen zu tun hat. Über Generationen und Epochen hinweg, in allen Kulturen, zu allen Zeiten. Ein Concerto, das mit einer Ouvertüre beginnt und als Suite aufgebaut ist, eine Sinfonia, die sich des Konzertprinzips bedient. Die vermeintliche Verwirrung der Gattungen in der Barockzeit hat substantielle Gründe.

Die liegen in den raffinierten Verquickungen der verschiedenen Merkmale in den Werken der Barockkomponisten. Das Concerto etwa wurzelt in den beiden Gattungen Sonata da camera und Sonata da chiesa des 16. Jahrhunderts, welche die gesamte weitere Entwicklung der Instrumentalmusik beeinflussen sollten. Zunächst etabliert sich das Gruppenkonzert im Concerto grosso. Eine Gruppe von Solisten, bei Corelli und Händel meist die Stimmführer der jeweiligen Streichinstrumentengruppe, später auch Kombinationen aus verschiedenen Blasinstrumenten, treten dem Ripieno, dem „Kollektiv“ des Orchesters gegenüber. Gemeinsam vereinigen sich alle wohldosiert zum Tutti. Ausgehend vom Gruppenkonzert des 17. Jahrhunderts, aus gewachsenem Selbstbewusstsein einzelner, virtuoser Musiker, aus instrumententechnischen Verbesserungen, verkörpert das Konzertprinzip nicht zuletzt ein neues soziales, ein bürgerliches Selbstverständnis. Der Einzelne gewinnt an Bedeutung durch Tat, nicht durch Geburt.

Concertare – sich verabreden

Die meisten seiner Concerti grossi, darunter auch die berühmten „Twelve Grand Concertos“ opus 6 (1739) und die drei „Concerti a due cori“ (1747/1748), komponiert Georg Friedrich Händel als instrumentale Zwischenspiele für seine Oratorienaufführungen. Ausgehend vorwiegend von Corellis Formmodellen (Bach bevorzugt dagegen Vivaldis Ideen), verwirklicht Händel in den Concerti grossi das ganze Repertoire seines reifen Stils: Es finden sich Elemente von französischen Ouvertüren, italienischen Sinfonias, deutschen Fugen, intimen Triosonaten, repräsentativen Opernszenen, lyrischen Arien, spielerischen Abfolgen aus Thema und Variationen sowie - allgegenwärtig – vielfältige Tanzcharaktere. Nicht zuletzt wegen der Überfülle an originellen musikalischen Ideen gehören die Concerti grossi von Händel zu den schönsten Blüten der barocken Instrumentalmusik überhaupt.

Die drei doppelchörigen Konzerte sind für die Oratoriensaison 1747/1748 des Covent Garden Theater entstanden. Händel verbindet wie immer das Angenehme mit dem Nützlichen. So schmeichelt er dem Publikum, indem er seine bereits damals berühmten Chöre aus den eigenen Oratorien (u.a. „Messias“, „Semele“), aber auch Kompositionen von Reinhard Keiser oder Georg Philipp Telemann, geschickt in Instrumentalfassungen umwandelt – und so den enthusiasmierenden Wiedererkennungseffekt unterstützt. Gleichzeitig macht Händels erfinderischer Geist aus Alt umgehend etwas Neues. Im Fall der doppelchörigen Konzerte teilt er das Orchester in zwei gleichwertig besetzte Gruppen, die in virtuosen Dialogen ein klangfarblich prächtiges und rhythmisch vielseitiges Frage-und-Antwort-Spiel betreiben. Händel hat dazu Hornisten, Oboisten, Fagottisten und andere Bläser aus ehemaligen Militärkapellen verpflichtet, um mit ihnen zwei besonders klangstarke Chöre aus Blasinstrumenten zu bilden, die neben den Streichinstrumenten für neue Orchestereffekte sorgten. Haydn, Mozart und Beethoven wussten genau, was sie an Händel schätzten!

Joseph Haydn

Sinfonie Nr. 100 G-Dur Hob I:100 („Militärsinfonie“)

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Mit geschärften Sinnen zu Haydn

Adagio – Allegro
Allegretto
Menuett. Moderato
Finale. Presto

Immer wieder sind es die unterschätzte Substanz seiner Musik, die reinigende Wirkung für Herz und Verstand, das eklatante Antifilzpantoffeltum des vermeintlichen „Papas“, die uns verzückt aufhorchen lassen, wenn Joseph Haydn so energiegeladen musiziert wird, wie es ihm gebührt.

„Bedächtig“ hat er seine Arbeitsweise selbst einmal genannt, ein verhängnisvolles Wort. Beförderte es doch bis weit ins 20. Jahrhundert das Vorurteil über Haydn, er sei von der langsamen Sorte und folglich gemächlich und langweilig zu musizieren. Haydn hatte aber „bedächtig“ in ganz anderem Sinne gemeint: als bedenkend, abwägend, kalkulierend – sämtlich Kategorien der Sorgfalt und Präzision. Erst unter solchen Vorzeichen dargeboten, entfalten die Sinfonien ihren unwiderstehlichen, suggestiven Reiz. Obwohl es längst kein Geheimnis mehr ist, erzeugt es dennoch immer wieder ungläubiges Staunen: Unter der Perücke von Joseph Haydn lauert ein spritziger Geist, der mit Vergnügen den ausübenden Musiker wie den genießenden Hörer „befällt“ – und ihn gelegentlich vor sich herjagt. Vorausgesetzt, man erlaubt dem eigenen Geist den gefährlichen Umgang.

Paradoxerweise war es gerade die Detailgenauigkeit der historischen Aufführungspraktiker, die gerade der klassischen Musik neues Leben einhauchte. Nicht laut, massiv und brav, sondern schlank, elegant und geistsprühend klang plötzlich eine Sinfonie von Haydn, geschärft um Details, die noch in den 1970er-Jahren schlicht Opfer eines opulenten Klanges ohne individuelle Phantasie geworden waren. Heute kommt kein Orchester mehr an den Errungenschaften und Neuentdeckungen der historischen Musizierweise vorbei, auch wenn die Verwendung alter Instrumente alles andere als zwingend ist.

Haydn hat es nicht darauf angelegt, uns zu bekehren. Er will nichts bedeuten und komponiert mit jener Absichtslosigkeit, die zur ästhetischen Kategorie des Heiteren gehört. Weil er aber seine Einsichten nicht mit dem Zaunpfahl übermittelt, nicht donnert noch dröhnt, geht sein feiner Witz mitunter unbemerkt an uns vorüber.

Die Warnende

Wenn aber Haydn laut wird, dann sollte man sich fragen, warum. Zwei Jahre lag die letzte Türkeninvasion zurück, als er 1794 die Sinfonie Nr. 100 für die zweite Serie der Londoner Salomon-Konzerte komponierte. Sie wurde schon bei der Uraufführung unter Haydns Leitung als „Military“ angekündigt, so dass anzunehmen ist, dass der Komponist keine Einwände dagegen hatte.

Ein weiteres Mal nutzt Haydn das Figur-Grund-Prinzip, um auf dem Boden reiner Idylle das Bedrohliche umso plastischer hervortreten zu lassen. Jedenfalls ist es keine freudige Ver­herrlichung des Kriegerischen, was da tönt mit Pauken und Tschingbum. Weder Marschrhythmus noch sonstige Insignien „fröhlicher Soldateska“ charakterisieren die Sinfonie, sondern Stimmungen bedrohten Friedens.

Immer wieder hat man im zweiten Satz, in welchen mehrfach die sogenannte türkische Musik einbricht, nach weiteren militärischen Attributen gesucht. Zu einer Schlacht gehören nun mal zwei Parteien. Doch fehlt schon die preußisch-martialische Komponente, so versiegt trotz des 4/4-Taktes auch die Ausflucht auf einen in österrei­chischer Gemütlichkeit geführten Kampf. Spätestens die sanfte Unschuld des Seitenthemas bestätigt die zutiefst unmilitärische, familiäre Atmosphäre. Es ist die Melodie „La gentille et belle Lisette“, die Haydn bereits 1786 im Konzert Nr. 3 G-Dur für Lyra organizzata (Drehleier, heute gespielt auf der Viola) Hob VIIh:3 und in der Sinfonie Nr. 85 B-Dur Hob I:85 („La Reine“ – Die Königin) verwendet hat. Jetzt, in der Sinfonie Nr. 100, dringen Pauken, Triangel, Becken und Große Trommel gewaltsam in das Lied ein. Sofort verkehrt sich die Musik ins Moll, wird immer wieder vom türkischen „Kriegsgebrüll“ herausgerissen aus ihrem lyrischen Romanzenton. Erst nach dem von der Trompete geblasenen Zapfenstreich (Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 5!) verebbt die damals europaweit bekannte Janitscharenmusik. Wehmut und Stille beenden den Satz.

Das Menuett geht ungeschoren aus der Auseinandersetzung hervor. Doch das Finale bestätigt, dass das Getöse nicht nur Episode war.

Die Geräusch- und Lärm­instrumente sind kein exotischer Zauber, sondern bittere Anklage: Triangel mit Ringen (Cinellen), eine teils mit peitschender Rute, teils mit der dumpfen Keule geschlagene Trommel.

Diese Trommel ist, wie Johann Friedrich Reichardt 1803 von einer Aufführung aus Paris berichtet, „recht hoch frei aufgehängt, damit sie frei durch den Saal schallen sollte und in die ein Kerl aus Leibeskräften hineinschlug“. Reichardt spricht von einer „unausstehlich star­ken Janitscharenmusik“. Man hüte sich vor einer Unterschätzung Haydns.

Texte © Steffen Georgi

Kurzbiographie

Ton Koopman

In seiner nunmehr 60-jährigen Karriere hat sich der am 2. Oktober 1944 im niederländischen Zwolle geborene Ton Koopman zu einer unbestrittenen Autorität für die historische Aufführungspraxis im Allgemeinen und das Werk Bachs im Besonderen entwickelt. Er ist der wichtigste noch lebende Pionier im Bereich der historischen Aufführungspraxis, die in den 1960ern und 1970ern nur eine Nische des klassischen Musikbetriebs war, bis nicht zuletzt das 1979 von Ton Koopman ins Leben gerufene Amsterdam Baroque Orchestra einen Umschwung bewirkte. Mit diesem Orchester sowie dem 1992 gegründeten Amsterdam Baroque Choir hatte Koopman viel Einfluss darauf, wie etwa die Musik von Johann Sebastian Bach heute aufgeführt und wahrgenommen wird. Koopmans große Liebe für Bach war schon früh erwacht. Und sie blieb, als er nach dem Abitur in Amsterdam Orgel, Cembalo und Musikwissenschaft studierte. Zu jener Zeit leitete er bereits seine Musica Antiqua Amsterdam. 1973 hat er mit diesem Vorläuferensemble des Amsterdam Baroque Orchestra und dem Collegium Vocale Gent von Philippe Herreweghe in den Niederlanden erstmals Bachs Johannes-Passion auf historischen Instrumenten aufgeführt. Es folgten viele weitere Premieren mit dem Amsterdam Baroque Orchestra & Choir (ABO&C), wie sich das Gesamtensemble seit 1992 nennt. Unter der inspirierenden Leitung von Ton Koopman gelangte es schnell zu Weltruhm und gilt heute als eines der führenden Orchester auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis.
Im Laufe seiner Karriere hat Ton Koopman einen beeindruckenden Bestand an Büchern, alten Drucken, Noten und Handschriften zusammengetragen. Seit 2020 ist diese Bibliothek im Orpheus-Institut im belgischen Gent untergebracht, damit sie weiterhin für Musiker und Forscher zugänglich bleibt und Koopmans Werk von künftigen Generationen fortgeführt werden kann.

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Nebel, David
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Feltz, Anne
Kynast, Karin
Pflüger, Maria
Morgunowa, Anna
Polle, Richard

Violine 2

Contini, Nadine
Petzold, Sylvia
Seidel, Anne-Kathrin
Draganov, Brigitte
Hetzel de Fonseka, Neela
Shalyha, Bohdan

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Silber, Christiane
Yoo, Hyelim
Kantas, Dilhan

Violoncello

Eschenburg, Hans-Jako
Breuninger, Jörg
Kipp, Andreas

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Rau, Stefanie

icon

Flöte

Schaaff, Ulf-Dieter
Döbler, Rudolf

Oboe

Pechuan Ramirez, Juan
Grube, Florian
Vogler, Gudrun
Herzog, Thomas

Klarinette

Kern, Michael
Pfifer, Peter

Fagott

You, Sung Kwon
Königstedt, Clemens

Horn

Ember, Daniel
Klinkhammer, Ingo
Mentzen, Anne
Stephan, Frank

Trompete

Coker, Alper
Niemand, Jörg
Gruppe, Simone

Schlagzeug

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Ellwanger, Johannes

Pauke

Wahlich, Arndt

Cembalo

Mathot, Tini

Kooperation

Bild- und Videorechte

https://www.youtube.com/watch?v=QcKlZh755Xo&list=PLzhqqOAVkymZl_o3kIFya1Y9BXdMuZ1mp&index=4

Bilder Orchesterprobe und Ton Koopman © Peter Meisel