Digitales Programmheft

So 18.05. Vladimir Jurowski

20 Uhr Philharmonie

Ludwig van Beethoven

Ouvertüre„Egmont“

Frédéric Chopin

Klavierkonzert Nr. 2

Pause

Johannes Brahms

Sinfonie Nr. 4

Besetzung

Vladimir Jurowski, Dirigent
Yunchan Lim, Klavier
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Ralf Sochaczewsky, Assistenz Chefdirigent

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Südfoyer, Steffen Georgi

Konzertübertragung: Das Konzert wird am 18. Mai 2025 um 20.03 Uhr live auf radio 3 des rbb übertragen.

Endlich hier: Brahms‘ Vier

Im Land der aufgehenden Sonne war sie soeben zweimal zu hören: die letzte, die vierte Sinfonie von Johannes Brahms. Nun kommt sie mit dem RSB nach Berlin zurück. Vladimir Jurowski setzt somit den Brahms-Zyklus mit seinem Berliner Klangkörper fort und kombiniert die sinfonische Lebensbilanz des Hamburger Wahlwieners mit dem Porträt des niederländischen Patrioten Egmont, wie es ein nicht minder berühmter Bonner Wahlwiener musikalisch gezeichnet hat: Ludwig van Beethoven.
Yunchan Lim aber, ein junger südkoreanischer Pianist, der aktuell zwischen Wien, Paris, London, Berlin, Washington, New York und Tokio sich förmlich aufteilen muss, um die hochkarätigsten Konzerteinladungen wahrzunehmen, debütiert beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin mit jenem Werk von Fryderyk Chopin, welches ihn sich von den Zeitgenossen Mendelssohn, Schumann, Liszt abheben und zum polnischen Nationalkomponisten werden ließ.

Konzertpodcast "Muss es sein?"

Ludwig van Beethoven

Ouvertüre zu Goethes Trauerspiel „Egmont“ f-Moll op. 84

„Ihr seid ein Feuerkopf, Beethoven“

Kopfschüttelnd näherte sich der große Dichter Goethe dem großen Komponisten Beethoven, der – Kaiser und Kaiserin missachtend – seines Weges gestürmt war, während der kühl kalkulierende Goethe devot zur Seite trat. Diese Geschichte soll sich so zugetragen haben anno 1812 in Teplitz. Und weiter belehrte der Wortkünstler den Musiker: „Ihr findet die Welt detestabel, und nicht zu Unrecht, aber Ihr macht sie dadurch weder für Euch noch für andere genußreicher.“ Beethoven entgegnete Goethe: „Auf Euch habe ich gewartet, Exzellenz, weil ich Euch ehre und achte, wie Ihr es verdient, aber jenen habt Ihr zuviel Ehre angetan.“

Als ob der leidenschaftliche Freigeist Beethoven jemals seine Gesinnung für den Genuss geopfert hätte – und schon gar für den Genuss anderer! Unbeugsam bis zur Sturheit, trotzte er Potentaten, Künstlerkollegen und sogar der eigenen Gesundheit – ein sperriger Mensch, der für seine Botschaft keine Unbequemlichkeit ausließ. Darüber konnte der charmante Diplomat Goethe nur milde lächeln.

Ein Jahr vor der ersten und einzigen persönlichen Begegnung Beethovens mit Goethe hatte Beethoven seine „Egmont“-Musik nach Weimar geschickt, „... diesen herrlichen Egmont, den ich, indem ich ihn ebenso warm als ich ihn gelesen wieder durch Sie gedacht, gefühlt und in Musik gegeben habe – ich wünsche sehr Ihr Urteil darüber zu erfahren“ (12. April 1811). Goethe quittierte die Sendung mit dem lapidaren Satz „Beethoven ist mit bewundernswertem Genie in meine Intentionen eingegangen“.

Virus der Freiheit: Verrat

Napoleon überzog Anfang des 19. Jahrhunderts ganz Europa mit seiner Herrlichkeit. Derselbe, dem Beethoven ursprünglich seine Sinfonie Nr. 3 zu widmen gedachte, hatte sich zum Kaiser aufgeschwungen, um den Kontinent unter seinen Stiefel zu zwingen. Dagegen rebellierte Beethovens freiheitlicher Geist aufs Schärfste. 1809 kam ihm der Auftrag des Wiener Theaterdirektors Joseph Hartl von Luchsenstein gerade recht, Goethes Trauerspiel „Egmont“ mit einer Schauspielmusik zu versehen. Ein halbes Jahr lang beschäftigte sich Beethoven mit der Dichtung um die historische Person des niederländischen Grafen Egmont und dessen Kampf gegen die spanischen Unterdrücker. Die aktuelle politische Situation wie in einem Brennglas fokussierend, setzte Beethoven dem Freiheitshelden als einem Sinnbild von Unbeugsamkeit ein musikalisches Denkmal. Nach vier Zwischenaktmusiken, zwei Liedern und dem Schlussmonolog des Egmont samt Siegessinfonie komponierte er noch eine Ouvertüre, die in ihrer dreiteiligen Anlage den Aufstand des niederländischen Volkes nachbildete.

Zuerst werden die spanischen Unterdrücker in Form einer Sarabande (langsamer spanischer Hoftanz) dargestellt. Danach vernimmt man das Leid und die Verzweiflung der Niederländer, die sie unter der Herrschaft von Herzog Alba zu erdulden haben. Es folgen immer machtvollere Töne des organisierten Widerstandes im Vermächtnis des 1568 von den Spaniern hingerichteten niederländischen Anführers Egmont. Am Ende steht der Sieg über die Besatzer, verkörpert von einer triumphalen Hymne, die dem militärischen Gestus der französischen Revolutionsmusik verpflichtet ist. Auf diese Weise stellt Beethoven den zeitgenössischen Eroberer Napoleon bloß, der seine eigenen Ideale verraten hat.

Insgesamt zehn Ouvertüren hat Beethoven komponiert. Sie entstanden zwischen 1801 („Prometheus“) und 1822 („Die Weihe des Hauses“). „Egmont“ ragt als zwar kurzes, aber umso prägnanteres sinfonisches Werk heraus.

Ein längeres, ja ein menschheitsumarmendes sinfonisches Werk von Beethoven, die Sinfonie Nr. 9, führte das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin heute vor 80 Jahren, am 18. Mai 1945, gemeinsam mit überlebenden Kollegen anderer Orchester, mit Sängerinnen und Sängern aus dem zerstörten Berlin im Haus des Rundfunks in der Masurenallee auf. Das Gebäude hatte als einziges der renommierten Berliner Kulturinstitute den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden und wurde so, nur zehn Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und mit ausdrücklicher Billigung der sowjetischen Besatzungstruppen, zum Austragungsort des allerersten Nachkriegskonzertes in der Hauptstadt.

Frédéric Chopin

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 f-Moll op. 21

Wenn dem Klavier Flügel wachsen

„Dem Klavier sage ich das, was ich so manches Mal Dir sagen würde.“ Eine stille unausgesprochene Liebe war’s, die den 19-jährigen Fryderyk Chopin komponieren ließ wie besessen. Der jungen Sängerin Konstancja Gladkowska galten die schwärmerischen Wünsche des jungen Klaviervirtuosen. Diese Gefühle fanden ihren Niederschlag in den beiden Klavierkonzerten, die kurz hintereinander in den Jahren 1829 und 1830 entstanden, wobei die übliche Nummerierung nicht der Chronologie ihrer Entstehung entspricht, aber darauf beruht, dass das f-Moll-Konzert als zweites veröffentlicht wurde. Die beiden Konzerte bilden zusammen mit wenigen anderen Werken die kleine Gruppe von Kompositionen, die Chopin nicht ausschließlich für das Klavier geschrieben hat.

Konstancja Gladkowska

Ohne Klavier kam Chopin allerdings nie aus. Das betraf auch seine öffentliche Präsenz in den Konzertsälen und Salons von Warschau bis Paris. Dort erarbeitete er sich den Ruf als fulminanter Pianist, vor dem auch Kollegen wie Franz Liszt, Felix Mendelssohn Bartholdy oder Robert Schumann ehrfurchtsvoll den Hut zogen. Chopin vertraute mit seinen Sonaten, Polonaisen, Mazurken, Nocturnes, Balladen, Walzern, Scherzi und Etüden dem Klavier bis dahin ungeahnte Geheimnisse an. Dabei stand ihm ein unverwechselbarer persönlicher Stil zur Verfügung. Mit den in reicher Zahl hinterlassenen Solowerken, allen voran die sogenannten „Exerzitien“ oder Etüden, hat Chopin die nachfolgenden Komponistengenerationen von Liszt über Skrjabin bis hin zu Prokofjew nachhaltig beeinflusst.

Warum Frédéric auch Fryderyk heißt

Von französisch-polnischer Abstammung, in Polen geboren, in Frankreich zu Weltruhm gelangt – Fryderyk (oder französisch: Frédéric) Chopin hat wie kein anderer vor ihm das polnische Idiom in die Kunstmusik eingebracht und dort als nationale Identität aufbewahrt. Seine Polonaisen und Mazurken singen das Lied von Ruhm, Sieg, Niederlage und Trauer seines Volkes zu einer Zeit, als die staatliche Existenz Polens ausgelöscht war und das Land unter den mächtigen Nachbarn Russland, Preußen und dem nicht minder habgierigen habsburgischen Österreich aufgeteilt war. Als Sympathisant der polnischen Revolutionäre um Adam Mickiewicz und Fürst Czartoryski, die als Emigranten die „nationale Frage“ Polens auch in Westeuropa bekannt machten, traf Chopin schweren Herzens die Entscheidung, seine Heimat ebenfalls zu verlassen. „Es bleibt mir nur noch, Abschied zu nehmen – und das ist das Schlimmste... Ich habe das Gefühl, dass ich das Haus nie wiedersehen werde, wenn ich Warschau verlasse. Und dass ich abreise, um zu sterben“. Ein letztes Konzert gab er am 11. Oktober 1830 im Nationaltheater. Drei Wochen nach diesem letzten Konzert verließ Chopin Polen für immer. Während seiner Abreise begann der sogenannte Novemberaufstand gegen die russische Fremdherrschaft. Dieser und die späteren Aufstände der Polen wurden niedergeschlagen; alle Autonomiebestrebungen gewaltsam zunichtegemacht. Chopin hat unter der Entwicklung in seinem Heimatland gelitten. Jedoch begehrte er nicht heftig auf, sondern wählte gemäß seinem Naturell die leisen, aber deutlichen Töne. Die Kompositionen der letzten neun Jahre seines Lebens sind unüberhörbar von der tiefen Verbundenheit mit seiner unterdrückten Heimat gekennzeichnet, die er nicht mehr wiedergesehen hat.

Was Rossini nicht konnte

Um die Kunst des Instrumentierens, wird gesagt, habe sich das fulminante Pianistentalent nie recht bemüht. Das mag richtig sein, heißt aber nicht, dass Chopin diese Kunst nicht beherrscht hat. Die Instrumentation des f-Moll-Konzertes hebt geschickt die fein gearbeitete Struktur und die emotionale Dynamik des Werkes hervor. Die verschiedenen Themen korrespondieren in farblichen Gegensätzen, der Orchesterklang schließt kammermusikalische Dialoge ein, aus denen jene zwischen dem Fagott und dem Klavier hervorzuheben sind.

Diese Dinge tragen zum Reiz des Konzertes bei, unerwartet oder neu sind sie nicht. Chopins Neuerungen liegen anderswo, im sensiblen, detailreichen Klaviersatz, den ausdrucks­vollen Verzierungen, in der durchbrochenen Harmonik. Überdies verfügt Chopin über eine außerordentlich brillante Virtuosität, mit er so natürlich und unaufdringlich umgeht, dass sie alle eitlen Selbstdarsteller unter seinen Kollegen in den Schatten stellt.

Spätestens im Mittelteil des zweiten Satzes des f-Moll-Konzertes – er schiebt sich zwischen zwei Strophen des liedartigen Haupt­themas – vernimmt man die Faszination, die Chopin für die italienische Oper emp­funden hat. Über rumorenden Streichertremoli erhebt sich ein instrumentales Rezitativ, eine leidenschaftliche Deklama­tion. Unversehens wird aus einer schlichten Variationenfolge eine dramatische Bühnenszene. Auch die vier Einleitungstakte des Orchesters erhalten so ihren Sinn. Die oben erwähnte Konstantija war eine passable Rossini-Sängerin. Chopin erwähnt, an sie gedacht zu haben während der Komposition der beiden Klavierkonzerte. Doch das Phänomen Rossini hat das Werk von Fryderyk Chopin weit darüber hinaus beeinflusst, nicht weniger als jenes von Franz Schubert und das von vielen anderen Zeitgenossen. Die Perlenketten des Chopinschen Klavierduktus erinnern an den reich kolorierten und verzierten Belcantostil der damals so populären italienischen Opern von Rossini, Donizetti und Bellini. Im As-Dur-Teil des f-Moll-Klavierkonzertes demonstriert das junge Klaviergenie, wie sein figurenreiches Belcanto dem der menschlichen Stimme gar überlegen sein kann.

Mazurka umarmt Walzer

Das Finale entlädt es dann, das Polnische, das Hinreißende. Doch die temperamentvolle Mazurka kokettiert temperamentvoll mit dem charmanten Nachbarn hinterm Zaun, dem berühmten Walzer aus Wien. Beide gelten ihren jeweiligen Ordnungshütern als suspekt, als unsittlich.

Im ersten Satz schon hat der junge Chopin unter Beweis gestellt, dass er sein Handwerk von Grund auf gelernt und verstanden hat. Die Sonatenhauptsatzform ist perfekt erfüllt, sie erfreut den musikalischen Sinn mit perfekten Proportionen, mehr noch, sie hat etwas mitzuteilen, spricht ihre individuelle Sprache. Denn Chopin gewinnt das Thema aus einem Fluchtpunkt in der Ferne, leise, einstimmig beginnend, bewegt die Musik sich auf uns zu – und wieder weg, Perspektiven eröffnend. Das hat jeder der vier großen, um 1810 geboren Komponisten auf seine Weise vermocht: Mendelssohn, Schumann, Chopin, Liszt. Auf dem Klavier aber differenziert sich ihr Potential; Chopin redet, flüstert, schwärmt virtuos wie kein anderer mit Hilfe von kleinen, feinen Figuren.

Johannes Brahms

Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

Brahms

Fallende Terzen

Ohne Vorwarnung setzen die Violinen mit der berühmten fallenden Terz ein. Ganz einfache Töne in schlichtem Rhythmus, aufgeladen mit Hochspannung. Weich muss dieser Einsatz kommen, Endgültiges haftet ihm an, unschuldig ist sein Charakter, geradewegs in den Abgrund führt er. Ist das das Schaukeln des Letzten Nachens auf dem Fluss Acheron? Und ist Brahms Charon, der Fährmann ins Totenreich? Haben wir hier den Gegenentwurf zu Beethovens Sinfonie Nr. 9 vor uns? Kein Sonatenhauptsatz, keine Dreiklangskadenzen, keine „Durch-Nacht-zum-Licht“-Dramaturgie. Oder sprechen Händel und Bach aus dieser Sinfonie? Das Eingangsmotiv weist Ähnlichkeit mit der Arie „Schaut her und seht“ aus dem „Messias“ auf. Der letzte Satz hingegen ist eine gewaltige Chaconne, ein strenger Variationensatz über ein Thema aus der Kantate Nr. 150 „Nach Dir, Herr, verlanget mich“ von Johann Sebastian Bach. Durch die Art der Verarbeitung als Kompendium all seiner kompositorischen Möglichkeiten erinnert Brahms hier unwillkürlich an Bachs „Kunst der Fuge“. Andere Analytiker fanden Parallelen zu Brahms’ Lied „O Tod, wie bitter bist Du“ (Vier ernste Gesänge) und interpretierten die fallende Terz als Todessymbol. Tatsächlich haftet diesem Intervall die Geste des Abschieds an. Es ist ein resigniertes Winken, ein Ausatmen ohne Einatmen.

Aber es stand nicht immer am Beginn der Sinfonie. Noch zur Uraufführung am 25. Oktober 1885 mit dem hervorragenden Meininger Orchester, das Brahms selbst dirigierte, gingen der fallenden Terz vier einleitende Takte voraus; zwei Akkorde, die die harmonischen Grenzen der gesamten Sinfonie bestimmten: ein sogenannter Plagalschluss – Übergang von der Subdominante direkt zur Tonika, ohne wie sonst üblich die spannungsvolle Dominante dazwischenzuschalten. Im Verein mit Motiven aus Kirchentonarten und phrygischer Harmonik machten sie den oft beschriebenen strengen, archaischen und vergrübelten Charakter der Sinfonie Nr. 4 aus. Doch der Komponist tilgte in der gedruckten Partitur diese Einleitungstakte ausdrücklich, sie werden heute nicht mehr gespielt. Ihr Fehlen verschärft den Eindruck des Unvermittelten und steigert die Wirkung des Schlusssatzes als unausweichliche Konsequenz ohne Beethovens Sieg-Idee.

Frei aber einsam

Die Terz darf als wichtigstes Intervall in Brahms’ Musik angesehen werden. Sein Wahlspruch „frei aber einsam“, den er bereits in jungen Jahren tief verinnerlichte, bündelt politische Entwicklungen, gesellschaftliche Erfahrungen, soziale Kontakte und persönliches Befinden. Die Töne f-a-e, abgeleitet aus „frei aber einsam“, enthalten eben auch die Terz und waren Motto zahlreicher Werke, wurden gespiegelt, gedreht und gewendet, bis Brahms ihnen in seiner Sinfonie Nr. 3 noch eine Moll-Variante mit zwei kleinen Terzen abgewann: f-as-f. Der Beginn der Sinfonie Nr. 4 besteht nun aus den Tönen h-g, e-c, a-fis, dis-h. Hintereinander gespielt, würden sie zwei ganze Oktaven mit fallenden Terzen ausfüllen! Und gleichsam um die Tendenz kategorisch zu untermauern, schließt Brahms dreimal nacheinander eine fallende Oktave an (e-e, d-d, c-c). Unmissverständlicher hätte er seine Absicht nicht formulieren können.

Damit ist das Motto des ersten Satzes nach wenigen Sekunden ausgesprochen. Kein Gegenthema, keine Durchführung, keine Reprise, kein Ringen, keine Entwicklung. Dies zu bekräftigen, durchläuft das Terz-Motiv alle denkbaren Varianten, wird rhythmisch durchdekliniert, kontrapunktisch dramatisiert und harmonisch immer neu verknüpft. Den Punkt unter den ersten Satz setzt eine von Pauken scharf hervorgehobene Akkordfolge Subdominante-Tonika: der oben erwähnte, eingangs gestrichene Plagalschluss.

In der Ausdrucksskala zwischen elegischer Resignation und kassandrischer Prophezeiung gehört dem zweiten Satz das Erinnern an vergangene, bessere Zeiten. Schlichte Tonfolgen verbergen die (nun aufgefüllten) Terzen und nehmen das „Tema ostinato“ des Finales vorweg, scheinbar unschuldig.

Dem Scherzo kommt das Laut-Malen der banalen Gegenwart zu. Widerborstig synkopiert, fällt der Satz über uns her, als ob sich der Rhythmus wie ein bockiges Pferd der Musik entgegenstemmen wollte. Momente sehnsuchtsvoller Hornmelodien bestätigen nur den vorherrschenden Ausdruck. Viel Blech und Geratter zwingen alles Unbotmäßige in Zaum und Zügel. Unvermittelt walzt auf derart bereitetem Boden die chromatische Akkordfolge des Finales herein. Unentrinnbar. Dreißig kunstvoll kontrapunktierte Variationen schaffen die Selbstbefreiung nicht, sondern werfen uns mit dem niederschmetternden Schluss zurück auf den Anfang.

Kaltes Feuer

In der Sinfonie Nr. 4 fehlen nicht nur die zwei erläuternden Einleitungsakkorde, sondern jegliche verzichtbaren Momente. Die Sinfonie, so könnte man sagen, ist auskomponierter Verzicht. Selbst die Struktur wird so unprätentiös wie unverrückbar streng „gelehrt“, dass man sie kaum beim ersten Mal vollständig wahrnehmen kann. Keine Kommentare, keine Redundanz, schon gar keine Redseligkeit – die Sinfonie ist verschlossen mit dem Siegel des Kühlen.

Eduard Hanslick fühlte sich während einer Voraufführung (Johannes Brahms und Ignaz Brüll hatten auf zwei Klavieren gespielt) „von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt“. Der Komponist selbst warnte Hans von Bülow vor der Sinfonie: „Ich fürchte, sie schmeckt nach dem hiesigen Klima – die Kirschen werden hier nicht süß, die würdest Du nicht essen!“ Die Zeitgenossen reagierten mit Andacht und Bewunderung auf das neue Werk. Brahms war auf dem Zenit seines Ruhmes. Und er entfernte sich mit dieser hochkomplexen Sinfonie weit aus bekannten Gefilden. Die ganz und gar unbeethovensche Vierte öffnete der sinfonischen Orchestermusik des 20. Jahrhunderts das Tor.

Text © Steffen Georgi

Kurzbiographien

Vladimir Jurowski

Vladimir Jurowski dirigiert.

Vladimir Jurowski ist seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB). Sein aktueller Vertrag in Berlin läuft bis 2027. Parallel dazu ist er seit 2021 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.
Vladimir Jurowski, einer der gefragtesten Dirigenten unserer Zeit, der weltweit für seine innovativen musikalischen Interpretationen und ebenso für sein mutiges künstlerisches Engagement gefeiert wird, wurde 1972 in Moskau geboren und absolvierte den ersten Teil seines Musikstudiums am Music College des Moskauer Konservatoriums. 1990 siedelte er mit seiner Familie nach Deutschland über und setzte seine Studien an den Musikhochschulen in Dresden und Berlin fort. 1995 debütierte er beim irischen Wexford Festival mit Rimski-Korsakows „Mainacht“ und 1996 am Royal Opera House Covent Garden mit „Nabucco“. Anschließend war er Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin (1997-2001).

Bis 2021 arbeitete Vladimir Jurowski fünfzehn Jahre lang als Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra (LPO) und wurde inzwischen zu dessen „Conductor Emeritus“ ernannt. In Großbritannien leitete er von 2001 bis 2013 als Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera eine breite Palette von hochgelobten Produktionen. Seine enge Verbindung zum britische Musikleben wurde im Frühjahr 2024 von König Charles III. dadurch gewürdigt, dass er Vladimir Jurowski zum Honorary Knight Commander of the Most Excellent Order of the British Empire (KBE) ernannte. Im April 2024 kehrte Vladimir Jurowski als Gast nach London zurück, um mit dem LPO in der Royal Festival Hall den konzertanten Aufführungszyklus von Wagners „Ring“ mit der „Götterdämmerung“ zu vollenden.

Vladimir Jurowski hat Konzerte der bedeutendsten Orchester Europas und Nordamerikas geleitet, darunter die Berliner, Wiener und New Yorker Philharmoniker, das königliche Concertgebouworchester Amsterdam, das Cleveland und das Philadelphia Orchestra, die Sinfonieorchester Boston und Chicago, das Tonhalle-Orchester Zürich, die Sächsische Staatskapelle Dresden und das Gewandhausorchester Leipzig. Er gastiert regelmäßig bei den Musikfestivals in London, Berlin, Dresden, Luzern, Schleswig-Holstein und Grafenegg. Obwohl Vladimir Jurowski von Spitzenorchestern aus der ganzen Welt als Gastdirigent eingeladen wird, konzentriert er seine Aktivitäten inzwischen auf jenen geographischen Raum, den er unter ökologischem Aspekt mit vertretbarem Aufwand gut erreichen kann.

Die gemeinsamen CD-Aufnahmen von Vladimir Jurowski und dem RSB begannen 2015 mit Alfred Schnittkes Sinfonie Nr. 3. Es folgten Werke von Britten, Hindemith, Strauss, Mahler und erneut Schnittke. Vladimir Jurowski wurde vielfach für seine Leistungen ausgezeichnet, darunter mit zahlreichen internationalen Schallplattenpreisen. 2016 erhielt er aus den Händen des heutigen Königs Charles III. die Ehrendoktorwürde der Royal Philharmonic Society. 2020 wurde Vladimir Jurowskis Tätigkeit als Künstlerischer Leiter des George-Enescu-Festivals vom Rumänischen Präsidenten mit dem Kulturverdienstorden gewürdigt.

Yunchan Lim

Seit Yunchan Lim im Jahr 2022 im Alter von 18 Jahren als jüngster Teilnehmer des Van Cliburn International Piano Competition die Goldmedaille gewann, hat er einen kometenhaften Aufstieg zu internationalem Ruhm erlebt. Marin Alsop äußerte: „Yunchan ist der seltene Künstler, der tiefe Musikalität und erstaunliche Technik organisch zusammenbringt“.

In den Jahren nach seinem Cliburn-Gewinn gab Yunchan sein erfolgreiches Orchesterdebüt beim New York, Los Angeles, München und Seoul Philharmonic Orchestra sowie beim Chicago, Lucerne, BBC, Boston und Tokyo Symphony Orchestra und weiteren Orchestern. Zu seinen Konzertauftritten gehören Auftritte in der Carnegie Hall, beim Verbier Festival, in der Wigmore Hall, im Het Concertgebouw und in der Suntory Hall, neben anderen großen Bühnen.

Zu Lims Höhepunkten der Saison 2024/25 gehören Orchesterdebüts mit dem Washington National Symphony, dem London Symphony, dem Royal Philharmonic, dem Radio-Sinfonieorchester Wien, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und dem WDR-Sinfonieorchester sowie die Rückkehr zum New York Philharmonic, dem Luzerner Sinfonieorchester und dem Orchestra Paris. In dieser Saison wird er auch sein Debüt im Kennedy Center und eine Rückkehr in die Carnegie Hall geben.

Als Exklusivkünstler bei Decca Classics hat Yunchan Lims gefeiertes Debütalbum Chopin Études Op. 10 & 25 in Südkorea Doppelplatin erhalten und weltweit die Klassikcharts angeführt. Zu seinen früheren Veröffentlichungen gehören Liszts Transzendentale Etüden (Steinway & Sons), Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 „Kaiser“ (Universal Music Group) und sein Auftritt auf dem Album 2020 Young Musicians of Korea von KBS.

Geboren in Siheung, Korea, begann Yunchan Lim im Alter von 7 Jahren mit dem Klavierunterricht. Im Alter von 13 Jahren wurde er am Korea National Institute for the Gifted in Arts aufgenommen, wo er seinen Lehrer und Mentor Minsoo Sohn kennenlernte. Im Jahr 2019 gewann er im Alter von nur 15 Jahren als jüngster Teilnehmer den internationalen IsangYun-Wettbewerb in Korea. Yunchan studiert derzeit am New England Conservatory of Music bei seinem Lehrer Minsoo Sohn.

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Nebel, David
Ofer, Erez
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Feltz, Anne
Kynast, Karin
Morgunowa, Anna
Pflüger, Maria
Polle, Richard
Ries, Ferdinand
Stangorra, Christa-Maria
Shalyha, Bohdan

Violine 2

Contini, Nadine
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Buczkowski, Maciej
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Färber-Rambo, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Manyak, Juliane
Palascino, Enrico
Bauza, Rodrigo
Hagiwara, Arisa
Cazac, Cristina

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Doubovikov, Alexey
Drop, Jana
Inoue, Yugo
Kantas, Dilhan
Montes, Carolina
Sullivan, Nancy

Violoncello

Eschenburg, Hans-Jakob
Hornig, Arthur
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Kipp, Andreas
Weigle, Andreas
Kalvelage, Anna
Paetsch, Raphaela

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Rau, Stefanie
Moon, Junha

icon

Flöte

Schaaff, Ulf-Dieter
Schreiter, Markus

Oboe

Bastian, Gabriele
Herzog, Thomas

Klarinette

Link, Oliver
Kern Michael
Simpfendörfer, Florentine

Fagott

You, Sung Kwon
Shih, Yisol
Kneisel, Markus

Horn

Ember, Daniel
Klinkhammer, Ingo
Mentzen, Anne
Stephan, Frank

Trompete

Kupriianov, Roman
Niemand, Jörg

Posaune

Hölzl, Hannes
Hauer, Dominik
Vörös, József

Percussion

Tackmann, Frank

Pauke

Wahlich, Arndt

Bild- und Videorechte

Portraits Vladimir Jurowski © Peter Meisel
Portrait Yunchan Lim © James Hol
https://www.youtube.com/watch?v=EB1XpOOOvaA&t=1s