Digitales Programm

Do 14.12. Funkkonzert

19:30 Haus des Rundfunks

Johannes Kalitzke

„Chasse Royale“ – Ein Schattenwurf aus der Oper „Molière oder Die Henker der Komödianten“ für Orchester

Hans Winterberg

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1

Leonid Hrabovsky

Sinfonische Fresken nach Bildern von Boris Prorokov für Orchester (Deutsche Erstaufführung)

Besetzung

Johannes Kalitzke, Dirigent

Jonathan Powell, Klavier

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Das Konzert wird am 21.12.2023 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.

Das Konzert findet ohne Pause finden.

 

Ans Licht!

Komponisten, die ihre eigenen Werke präsentieren, gehören seit den 1920er-Jahren zu den Markenzeichen des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Johannes Kalitzke erfüllt aktuell die Doppelfunktion auf exemplarische Weise, ist er doch darüber hinaus ein engagierter Interpret auch jener entdeckenswerten Werke, die andere Kollegen komponiert haben. Leonid Hrabovsky lebt heute in den USA. Um der deutschen Erstaufführung seiner Sinfonischen Fresken über Motive aus Tuschezeichnungen von Boris Prorokov beizuwohnen, reist der 88-jährige Ukrainer eigens nach Berlin. Unter dem beklemmend aktuellen Titel „Das darf nie wieder passieren“ erklingen die sieben emotionalen Orchesterstücke, die nach der umstrittenen Uraufführung 1961 in der früheren Sowjetunion so gut wie totgeschwiegen worden sind.

Nicht weniger spannend und über Jahrzehnte ebenso unterdrückt von politischen Machenschaften entpuppt sich die Musik des 1901 in Prag geborenen jüdischen Komponisten Hans Winterberg. Seit wenigen Jahren kommt Winterberg hochverdient im Musikleben an. Johannes Kalitzke hat 2021 im Studio mit dem Pianisten Jonathan Powell und dem RSB u.a. das Klavierkonzert Nr. 1 für Deutschlandfunk Kultur aufgenommen. Nun erklingt es erstmals live.

Texte © Steffen Georgi

Werke

Johannes Kalitzke

„Chasse Royale“ – Ein Schattenwurf aus der Oper „Molière oder Die Henker der Komödianten“ für Orchester

Werdegang und Musizierpraxis

Geboren 1959 in Köln, begann Johannes Kalitzke seine musikalische Laufbahn als Kirchenmusiker in seiner Heimatstadt. Nach dem Abitur studierte er an der Kölner Musikhochschule Klavier bei Aloys Kontarsky, Dirigieren bei Wolfgang von der Nahmer und Komposition bei York Höller. Ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes ermöglichte ihm einen Studienaufenthalt in Paris am Institut für zeitgenössische Musik IRCAM. Dort war er Schüler von Vinko Globokar, zugleich in Köln von Hans Ulrich Humpert (elektronische Musik).

Sein erstes Engagement als Dirigent führte Johannes Kalitzke 1984 an das Gelsenkirchener „Musiktheater im Revier“, wo er in den Jahren 1988 bis 1990 Chefdirigent war. 1991 wurde er künstlerischer Leiter und Dirigent der „Musikfabrik Nordrhein-Westfalen“, deren Mitbegründer er war. Seither ist er regelmäßig als Gastdirigent bei Ensembles (Klangforum Wien, Collegium Novum, Ensemble Modern) und zahlreichen Sinfonieorchestern, u.a. denen des WDR, der BBC, des BR und der Münchner Philharmoniker, tätig. Beim RSB hat er Konzerte im Rahmen des Festivals Ultraschall sowie mehrere Studioaufnahmen u.a. mit Werken von Mossolow, Eisler, Blacher, von Einem, Wagner-Régeny, Winterberg. Opernproduktionen leitete Johannes Kalitzke u.a. an der Staatsoper Unter den Linden, der Stuttgarter Oper, den Wiener Festwochen, der Münchner Biennale und den Salzburger Festspielen. Tourneen nach Russland, Japan und Amerika sowie zahlreiche CD-Aufnahmen ergänzen seine Tätigkeit als Interpret klassischer und zeitgenössischer Musik.

Als Komponist und Lehrer

Der Komponist Johannes Kalitzke erhielt Aufträge u.a. von den Donaueschinger Musiktagen und vom Festival Ultraschall Berlin. Orchesterwerke entstanden für das Festival Eclat in Stuttgart, das RSO Wien und die Hamburger Sinfoniker. Das Musiktheaterstück „Bericht vom Tod des Musikers Jack Tiergarten“ war ein Beitrag zur Münchner Biennale 1996. Die Opern „Molière oder die Henker des Komödianten“ und „Inferno“ nach Peter Weiss waren Auftragsarbeiten für das Land Schleswig-Holstein, beide wurden an der Oper Bremen uraufgeführt. Eine Oper nach dem Roman „Die Besessenen“ nach Witold Gombrowicz entstand 2010 für das Theater an der Wien. Im Auftrag der Augsburger Philharmoniker entstand im Jahr 2011 eine Stummfilm-Orchestermusik für den Film „Die Weber“ (1927), danach die Oper „Pym“ nach Edgar Allan Poe für das Theater Heidelberg. Anschließend beschäftigte er sich weiter mit Orchestermusik für den expressionistischen Stummfilm, unter anderem als Auftrag für die Wittener Tage für Neue Kammermusik und den Carinthischen Sommer 2019.

Johannes Kalitzke unterrichtet Ensemblemusizieren an der Folkwanghochschule Essen und Hannover, er leitet das Ensembleforum bei den Darmstädter Ferienkursen und übernimmt regelmäßig die Leitung des Dirigentenforums für Ensemblemusik des Deutschen Musikrates. Dirigentenkurse an der Sommerakademie Salzburg mündeten 2015 in eine Professur für Dirigieren an der Universität Mozarteum Salzburg. Darüber hinaus hat er als Gast an der Reina-Sophia-Musikhochschule Madrid und der Musikhochschule Zürich unterrichtet.  

Unter anderem mit dem Bernd-Alois-Zimmermann-Preis der Stadt Köln und einem Stipendium der Villa Massimo in Rom ausgezeichnet, ist Johannes Kalitzke seit 2009 Mitglied der Akademie der Künste und seit 2015 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München.

Königliche Jagd

„Chasse Royale ist eine Vorstudie zu meiner zweiten Oper ‚Molière oder die Henker des Komödianten‘ aus dem Jahr 1995. Der Titel bezieht sich auf den im Drama auftretenden Ludwig XIV, der – dem Druck der Kirche erlegen – den Theaterdichter Molière durch Spielverbote und andere Repressalien in den Abgrund treibt. Die Königliche Jagd ist also nicht nur Genrebild, sondern auch politisches Motiv: der Autor, gejagt vom Schatten des Königs.“ Ein Schelm, der hinter dieser Beschreibung durch Johannes Kalitzke Böses, gar Aktuelles und zeitlos Gültiges vermutet! „Die Komposition besteht aus verschiedenen Methoden, Schatten musikalisch abzubilden, erkennbar etwa an den Dreiklangsfolgen am Anfang, die im Blech immer ein chromatisch erhöhtes Ebenbild über sich haben, oder auch stilistisch, da durchgehend Elemente im Stil von Lully den feierlich-bedrohlichen Barockraum des Spiels wie eine mehr oder weniger durchlässige Wolke gegenwärtig machen. Formal folgt das Stück dem Prinzip einer Passacaglia, da der anfänglich einstimmige Cantus im Verlauf des Stückes in rhythmisch verkürzten Varianten paraphrasiert wird und die Affekte der Musik bis zum Schluss hin bestimmt.“ (Johannes Kalitzke)

Hans Winterberg

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1

Hans Winterberg –

was für ein Schicksal!

Pavel Haas, Hans Krasá, Viktor Ullmann, Gideon Klein und Hans Winterberg. Jüdische Komponisten aus Tschechien mit deutschen Namen. Sie alle waren zusammen mit zehntausenden Menschen ähnlicher Herkunft im Konzentrationslager Theresienstadt interniert, jenem heuchlerischen Vorzeige-Ghetto der Nazis, wo den Juden angeblich ein schönes Leben mitsamt kultureller Betätigung ermöglicht wurde. Von den Erbärmlichkeiten des Alltags in Theresienstadt abgesehen, für die meisten endete die Internierung mit der Deportation nach Auschwitz in den Tod in der Gaskammer.

Einige Häftlinge überlebten den Holocaust, weil es die Nazis 1945 nicht mehr geschafft hatten, sie verschwinden zu lassen. Zu ihnen gehörte der 1901 in Prag geborene Hans Winterberg. Der jüdische Rabbinersohn hatte in Prag Komposition bei Fidelio F. Finke und bei Alexander Zemlinsky studiert. Anschließend arbeitete er als Theaterkapellmeister in Brünn und begann mit zahlreichen Klavier- und Kammermusikwerken eine rege kompositorische Tätigkeit. 1934 entstand die erste Sinfonie, „Sinfonia dramatica“. 1930 hatte sich Hans Winterberg, dessen tschechische Dokumente ihn als Hanuš Winterberg auswiesen, zur tschechischen Nationalität bekannt. Seine Frau Maria Maschat jedoch, die er 1935 heiratete, hatte bei der gleichen Befragung die Nationalität „deutsch“ angekreuzt. „Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Prag wurde auch dort die nationalsozialistische Rassenpolitik eingeführt. Die Ehe eines Juden mit einer Nichtjüdin galt nun als ‚privilegierte Mischehe‘ und bedeutete für Hans Winterberg einen wertvollen Schutz. Sein Vater, der Fabrikant Rudolf Winterberg, war bereits 1932 gestorben. Dessen Witwe, Hans Winterbergs Mutter, war dagegen ungeschützt. Im Juli 1942 wurde Olga Winterbergová nach Theresienstadt deportiert und kam von dort sofort ins Vernichtungslager Maly Trostinez. Ihr Sohn blieb verschont – bis am 2. Dezember 1944 dessen Ehe aufgelöst wurde.“ (Albrecht Dümling) Am 25. Januar 1945 wurde Hans Winterberg ins Festungsghetto Theresienstadt eingeliefert.

Neuanfang unter falschen Vorzeichen

Lebend zwar, aber entwurzelt und zwischen allen Stühlen, begannen für Hans Winterberg die Nachkriegsjahre. Tschechien rächte sich für das erlittene Unrecht durch die Nationalsozialisten, indem es die deutschstämmigen Bewohner aus den inzwischen per internationalem Völkerrechtsvertrag dem tschechischen Staat zugewiesenen Regionen auswies. Was aber sollte mit jenen deutschsprachigen Menschen geschehen, die sich selber der tschechischen Nationalität zugeordnet hatten, ohne tschechische Muttersprachler zu sein? Ihnen wurde durch die Beneš-Dekrete ihre Staatsbürgerschaft aberkannt, sie galten solange als staatenlos, bis ein Land sie aufnahm. Doch wenn sie obendrein jüdischer Herkunft waren, hatten sie auch keinen Platz in den stark revanchistischen Kreisen der aus Tschechien ausgewiesenen Sudetendeutschen, die sich hauptsächlich in Nordostbayern ansiedelten. Winterbergs frühere Ehefrau, eine deutsche Katholikin, hatte in der Bundesrepublik eine neue Bleibe gefunden. Hans Winterberg erhielt 1947 vom tschechischen Staat einen Reisepass, um seinen Kompositionen, die er selbst während des Krieges außer Landes geschickt hatte, wieder auf die Spur zu kommen. Auch seine Exfrau hatte einige Partituren mitgenommen, so dass Winterberg zu ihr fuhr – um dann mehr oder weniger inkognito in ihrem Umfeld mit anderen deutschsprachigen Exiltschechen zu bleiben. Eine neue Ehe Winterbergs mit einer Sudetendeutschen verwischte die Spuren seiner Herkunft. Arbeiten unter anderem für den Bayerischen Rundfunk hielten ihn über Wasser. Am 17. Januar 1949 kam es im Nationaltheater Mannheim zur Uraufführung seiner ersten Sinfonie. Die Leitung hatte Winterbergs einstiger Kommilitone Fritz Rieger, der sich später als Chef der Münchner Philharmoniker noch mehrfach für Werke von Hans Winterberg einsetzte. Ironie des Schicksals: Rieger war unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen Mitglied der NSDAP geworden und hatte so im Gegensatz zu dem Juden Winterberg eine Karriere aufbauen können.

Winterbergs Musik wird wiederentdeckt

Nach seinem Tod 1991 war Hans Winterberg nicht nur vergessen, er wurde zusätzlich aktiv dem Vergessen ausgeliefert. Das kam so: Ein Stiefsohn aus der späteren Ehe, Christoph Winterberg, vermachte im Jahr 2002 sein Erbe, den gesamten Nachlass des Komponisten – mehr als 10 000 Blatt Papier – dem Sudetendeutschen Musikinstitut in Regensburg. Diese staatliche (!) Organisation ließ sich von dem paranoiden Antisemiten Christoph Winterberg anno 2002 zu einer Vereinbarung drängen, in der u.a. steht, dass der Nachlass „bis zum 31. Dezember 2030 in keiner Kartei und in keinem Bestandsverzeichnis des Sudetendeutschen Musikinstitutes erwähnt“ werden darf. Sogar für die hausinterne Verwendung sei der gesamte Nachlass bis zu diesem Datum zu sperren. Auch danach sei auf unbegrenzte Zeit bei möglichen Aufführungen darauf zu achten, dass „die jeweilige Veranstaltung ausschließlich unter dem Motto ‚Sudetendeutsche Komponisten‘ steht. Auch Zusätze wie ‚jüdischer Herkunft‘ oder ähnliche, die als Hinweis auf jüdische Herkunft dienen können, dürfen nicht verwandt werden.“

Licht in dieses ungeheuerliche Dunkel zu bringen, gelang Peter Kreitmeir, dem leiblichen Enkelsohn von Hans Winterberg, der erst durch umfangreiche Familienrecherchen überhaupt von der Existenz seines Großvaters und seiner eigenen verwandtschaftlichen Verbindung zu ihm erfuhr. Unter anderem gelang es ihm, die jüdische Herkunft und die tschechische Nationalität von Hans Winterberg mit Hilfe von Originaldokumenten nachzuweisen. Die Organisation „musica reanimata“, die sich der Wiederentdeckung und Aufarbeitung jener osteuropäischen Komponisten verschrieben hat, die unter die Räder der Nazis gekommen sind, wurde von Peter Kreitmeir gebeten, auch dem Schicksal von Hans Winterberg und dessen Musik nachzugehen. Parallel schaltete Kreitmeir das exil.arte-Zentrum der Musikuniversität Wien ein, um die aufgefundenen Noten editorisch zu betreuen. Das auf die Enthüllungen folgende Medienecho bewirkte im Jahr 2015 die Aufhebung der oben zitierten Vereinbarung. Christoph Winterberg anerkannte das Anrecht von Peter Kreitmeir auf den Nachlass von Hans Winterberg, bevor er 2018 verstarb.

Ist damit das Problem aus der Welt? Keineswegs! Das Sudetendeutsche Musikinstitut verwahrt weiterhin und bis zum heutigen Tag Winterbergs Nachlass, ohne ihn an den Enkel des Komponisten und einzigen Inhaber der Verwertungsrechte herauszugeben. Wenn Peter Kreitmeir nicht über einige Kopien verfügen würde, die er sich zu einem früheren Zeitpunkt in Regensburg machen konnte, wäre das heutige Konzert nicht möglich gewesen! Ebensowenig die 2021 stattgehabte Rundfunk-und CD-Produktion mit Werken von Hans Winterberg, die das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Johannes Kalitzke und Jonathan Powell mit tatkräftiger Unterstützung durch den Verlag Boosey & Hawkes in Berlin realisiert haben.

Gebt Winterberg frei!

Angesichts der anhaltenden Diskriminierung des Nachlasses von Hans Winterberg sah sich Peter Kreitmeir veranlasst, am 17. September 2023 erneut einen Hilferuf als Pressemitteilung an die deutsche Öffentlichkeit zu gaben:

„Weggesperrt im Sudetendeutschen Musikinstitut (SMI) in Regensburg: der künstlerische Nachlass des jüdischen Komponisten Hans Winterberg (1901-1991)

Im Jahr 2000 kaufte das SMI die handgeschriebenen Noten meines Großvaters Hans Winterberg von dessen Adoptivsohn Christoph für 6.000,00 DM und erschlich sich somit jüdisches Kulturgut, welches im SMI nichts zu suchen hat. Der Träger des SMI ist der Regierungsbezirk Oberpfalz und somit der Freistaat Bayern.

Zugrunde lag eine perfide, antisemitische Vereinbarung, die die Existenz eines Juden auslöschen sollte und mit der eines Sudetendeutschen ersetzt wurde. Im Rahmen meiner Familienforschung kam ich dem Ganzen auf die Schliche und konnte zumindest 2015 eine Aufhebung dieser Vereinbarung erreichen. Durch eine weitere mir zuerst unbekannte Vereinbarung mit Christoph Winterberg verblieb jedoch das Originalmaterial weiterhin im SMI. Mittlerweile bin ich dennoch alleiniger Inhaber der Rechte am künstlerischen Nachlass meines Großvaters Hans Winterberg. Es ist auch mein Recht ein wirtschaftliches Interesse zu bekunden. Die Schutzfrist (GEMA) gilt noch bis 2061.

Eine umfängliche Erforschung und Aufarbeitung des kompositorischen Werkes Winterbergs ist nur mit den Originalnoten möglich, die zum Teil noch unsortiert sind. Das SMI selbst tut nichts für das Werk und versteht sich nur als Archiv. Ich fordere eine bedingungslose Herausgabe des gesamten Notenmaterials. Das SMI weigert sich bis heute das Notenmaterial an mich herauszugeben, um es mit meinen Partnern, dem exil.arte-Zentrum der Musikuniversität Wien (mdw), zuständig für die redaktionelle Aufarbeitung des Notenmaterials, und dem Verlag Boosey & Hawkes in Berlin als Herausgeber von gedruckten Notenausgaben, zur Blüte zu bringen.

… Mein Verlagspartner Frank Harders-Wuthenow sagt dazu: ‚Was wir bei Winterberg erreichen müssen ist, ihn nicht nur aus dem ideologisch bedingten Vergessen der Nachkriegszeit herauszuholen, sondern ihm auch ein Entree in den internationalen Musikbetrieb zu verschaffen, wo er unbedingt hingehört. Für mich ist Winterberg einer der großen Sinfoniker des 20. Jahrhunderts.‘“

Musik eines Tschechen

Tschechische Musik des 20. Jahrhunderets, das heißt bisher: Leoš Janáček und Bohuslav Martinů. In Zukunft wird es auch Hans Winterberg heißen. „Diese Beeinflussung durch die tschechischen Komponisten geht quer durch seine Werke. Man hört immer diese Polyrhythmik, man hört sehr viel tschechische Volksmusik. Bei seiner Musik kann er seine kulturelle Zugehörigkeit nicht verleugnen“, meint die Wiener Musikhistorikerin Ulrike Anton. Zu einem Nationalkomponisten Tschechiens macht das Winterberg noch nicht. In einem Rundfunkinterview sagte er in den 1960er-Jahren: „Was heißt Nationalität? Was ist denn das für ein rückständiger, verquerer Begriff?“

Michael Haas stellt die weitgehend durch die Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgelöschte

musikalische Sprache tschechischer Provenienz mit all ihrer „Polyrhythmik, einer oft kantigen Melodik und überbordender Energie“ auf eine Stufe mit den Entwicklungen in Wien und Berlin. „Sie war zu ausdrucksstark, um sich an Berlin zu orientieren, und zu diatonisch, um der Zweiten Wiener Schule zugeordnet werden zu können. Ihr nächster musikalischer Nachbar war Paris, aber eher das Paris von Strawinsky als das von Debussy und Ravel.“ Nachdem er Prag verlassen hatte, lebte Winterberg nie wieder in einer Großstadt, sondern in Kleinstädten und Dörfern. Einige aussagekräftige Vorkriegsfotos zeigen ihn beim Wandern in den böhmischen Wäldern mit seiner Tochter Ruth, der Mutter von Peter Kreitmeir.

„Die Gattung des Klavierkonzertes sollte Winterberg über ein Vierteljahrhundert lang beschäftigen. Sein Erstes (1948) war das erste große Werk, das er nach seiner Emigration nach Deutschland im Jahr 1947 vollendete. Es zeichnet sich durch seine extreme Kompaktheit aus – es dauert nur 15 Minuten – und enthält trotz seiner bescheidenen Dimensionen eine Fülle von musikalischer Vielfalt.“ (Jonathan Powell)

Leonid Hrabovsky

Sinfonische Fresken nach Bildern von Boris Prorokov für Orchester (deutsche Erstaufführung)

Schlüsselfigur der Musik des 20. Jahrhunderts in der Ukraine

Im April 2023 war Alexander Shchetynskyi beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin zu Gast, um die Uraufführung eines eigenen Werkes zu hören. Heute Abend dient Shchetynskyi als Kronzeuge für den Werdegang seines älteren Kollegen, des ukrainischen Komponisten Leonid Hrabovsky. Alexander Shchetynskyi hat 2018 ein sehr informatives Buch über den 1935 in Kiew geborenen Kollegen geschrieben: „Linien. Kreuzung. Akzente – der Komponist Leonid Hrabovsky“ (Charkiw, Acta, 2018). Wunderbarerweise kann Leonid Hrabovsky heute Abend als hochbetagter Mann der deutschen Erstaufführung seiner 1961 komponierten Sinfonischen Fresken in Berlin beiwohnen.

„Leonid Hrabovsky trat Ende der 1950er-Jahre in unsere Kultur ein und ist dort immer noch aktiv und präsent. Er ist eine der wenigen Schlüsselfiguren der ukrainischen Musik. Allerdings fangen wir gerade erst an, ihn als Musiker zu studieren und zu verstehen. Es kann nicht gesagt werden, dass nichts über ihn geschrieben worden wäre. Es gibt viele Interviews. Hrabovsky wird nach etwas gefragt, er antwortet, er wird missverstanden. Verwirrung macht sich breit, ein Konglomerat aus Ungenauigkeiten und Verzerrungen sammelt sich an. Und die Fragen, die sie ihm stellen, sind so oberflächlich wie die Zeitungsartikel, die aus den Interviews entstehen. Tiefgründigere Dinge werden von niemandem berührt, aber es ist möglich, mit Hrabovsky über tiefgründige Dinge zu sprechen.

Er ist ein Mann der Kultur, und es ist notwendig, ihn in einem breiten kulturellen und humanitären Kontext zu zeigen.

Viele seiner wichtigen Kompositionen wurden in unserem Land immer noch nicht oder schon seit langem und nicht immer mit Erfolg aufgeführt. Es stellt sich heraus, dass fast alles über den Komponisten Hrabovsky gesagt wurde, seine Musik jedoch kaum bekannt ist. Ich wollte, dass er ausführlicher über seine Hauptkompositionen spricht und sie vorstellt. Ich hoffe, dass seine Geschichte seinen weiteren Auftritten helfen wird. …

Ich hatte Glück: Hrabovsky versteht es, nicht nur über sich selbst, sondern auch über andere Menschen zu sprechen, und er hat unglaublich viele interessante Persönlichkeiten kennengelernt. Zu seinem Kommunikations- und Interessenkreis gehörten neben Musikern auch unsere Sechziger – Theaterbesucher, Schriftsteller, Künstler, Dissidenten. Er wählte für sich einen breiten kulturellen Kontext und das ist ein Unterschied zu seinen Kollegen. Keiner der Musiker war so tief in unsere Kultur in ihren verschiedenen Erscheinungsformen eingetaucht wie Hrabovsky.“ (Alexander Shchetynskyi)

Ein Auszug aus dem Buch

O. Sh.: Existierte die Gruppe „Kyiv Vanguard“ bis etwa Ende der 1960er-Jahre?

L.H: Mehr oder weniger. Dann begannen alle getrennte Wege zu gehen. Die Erinnerung an unsere Studienjahre, die Tatsache, dass wir gemeinsam lernten, sammelten und Eindrücke teilten, hielt uns fest. Es gab eine bestimmte Zeit, in der Sylvestrov und ich systematisch Haydns vierhändige Sinfonien, Beethovens Ouvertüren und noch anderes spielten.

O. Sh.: Und war der Druck der Beamtenschaft und der Behörden zu spüren?

L.H.: Was sonst! Als ich „Sinfonische Fresken“ (nach Zeichnungen von Boris Prorokov) schrieb, brach ein Skandal aus. Blaschkow nahm es in das Programm des Philharmonischen Konzerts des Staatsorchesters der Ukraine auf. Auf dem Programm standen Beethovens Siebente Sinfonie, Tschaikowskys Erstes Konzert (ich glaube, Ashkenazi sollte der Solist sein) und meine „Sinfonischen Fresken“. Gleich nach der ersten Probe meldeten Informanten den zuständigen Behörden, dass eine ideologische Sabotage stattfinde würde. Die Kommission kam zur zweiten Probe. Danach veranstalteten sie eine Diskussion und einen großen Streit, alle möglichen Parteiredner griffen uns an. Taranov, Lyatoshynskyi, Rachlin (damals noch Chefdirigent des Staatsorchesters), Filipenko, G. Maiboroda waren anwesend. Taranov sagte in seiner Rede: „Diese Arbeit wird sicher ins Repertoire aufgenommen“, worauf Ljatoschynski sofort hinzufügte: „Wir sind alle begeistert.“ Lyatoshynsky verteidigte mich sehr energisch, aber es half nichts und die Aufführung der „Fresken“ wurde verboten. Blaschkow akzeptierte dies nicht und richtete die Uraufführung in Leningrad aus.

Hrabovsky erzählt

Kurze Zeit später beschäftigte sich Hrabovsky mit der Zwölftontechnik, übersetzte ein Buch über Dodekaphonie ins Ukrainische, um sich und seinen Kommilitonen einen Zugang zu dieser modernen Ästhetik zu verschaffen. Sofort kursierten Gerüchte, Hrabovsky organisiere eine Freimaurerloge von Dodekaphonisten. „Denn Dodekaphonie wurde damals mit Kakophonie gleichgesetzt. In Moskau fand eine Avantgarde-Ausstellung statt, die Chruschtschow besuchte. Er war natürlich auf solche Kunst nicht vorbereitet und war furchtbar empört. Dann gab es ein Treffen Chruschtschows mit Vertretern der Literatur und Kunst, bei dem er Jewtuschenko und andere anschrie. Nach Moskau wurden sofort ähnliche Treffen in Kiew organisiert – bereits ohne Chruschtschow, aber auf der Ebene des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine. 1962 schloss ich mein Studium ab und begann am Kiewer Konservatorium zu unterrichten, doch 1963 wurde ich wegen Verbrechen gegen den sozialistischen Realismus und provokativer Aktivitäten aus dem Konservatorium entlassen. Um ein Einkommen zu erzielen, musste ich mich der Filmmusik zuwenden.“ (Leonid Hrabovsky)

Über den Komponisten

Leonid Hrabovsky wurde 1935 in Kiew in einer Familie geboren, die unter stalinistischen Repressionen litt. Er studierte bei Revutskyi und Lyatoshynskyi, war einer der Vertreter der Komponistengruppe „Kiewer Avantgarde“. Hrabovsky schrieb Musik für das Kino, insbesondere für die Filme von Juri Iljenko, war ein brillanter Übersetzer auf dem Gebiet der Musikliteratur – doch die sowjetischen Behörden bürdeten ihm eine „ideologische Schuld“ auf für seinen Wunsch nach Neuem und der Suche nach der eigenen Musikrichtung.

„Ich verdanke meine ruinierte Kindheit zwei Parteigängern – Hitler und Stalin. Anstatt eine normale Kindheit als Junge zu haben, der in einer musikalischen Familie geboren wurde, eine Musikschule für Kinder besuchte und sich normal entwickelte, begann mein Leben mit einer Katastrophe. 1937 wurden mein Vater, mein Bruder und meine Schwester verhaftet und erschossen. Die Mutter wurde für acht Monate ins Gefängnis geworfen und dann nach Borysoglebsk in der Region Woronesch ins Exil geschickt. Von meinem zweiten bis vierten Lebensjahr war ich auf meine Tante, die Schwester meiner Mutter, angewiesen. Als ich fast fünf war, wurde ich auch nach Borysoglebsk gebracht, und dort meldete mich meine Mutter in einer örtlichen Musikschule für Geige an. Ich habe den ganzen Winter geübt, 1941 kam der Krieg, die Schule wurde geschlossen, alle gingen an die Front – so endete meine musikalische Karriere als Kind.

Als wir nach Kiew zurückkehrten, sahen wir, dass das Haus, in dem wir zuvor gelebt hatten, völlig zerstört war. Ich war bereits in der vierten Klasse, zu alt für die Aufnahme in eine Musikschule, und so konnte ich erst nach meinem Schulabschluss und meinem Eintritt in die Universität mit meinem mageren Stipendium einen Klavierlehrer anstellen. Und erst dann, im Alter von sechzehn Jahren, begann ich, ein wenig mehr Musik zu machen.“

1987 reiste Leonid Hrabovsky unter großen Schwierigkeiten und unter ständiger Beargwöhnung durch die „KaGeBe-niks“ zum ersten Mal in die USA. Noch der englischen Sprache nicht mächtig, beschloss er dennoch, zukünftig seinen Wohnsitz und sein Auskommen in diesem Land zu suchen. Seit 1990 lebt der ukrainische Komponist in den USA, kann inzwischen auch die Ukraine und natürlich die ganze Welt bereisen – sofern es seine Gesundheit und seine finanziellen Möglichkeiten erlauben.

Sinfonische Fresken

Der siebenteilige Orchesterzyklus „Sinfonische Fresken“ bezieht sich auf Tuschezeichnungen des russischen Malers und Karikaturisten Boris Prorokov (1911-1972).

Der Künstler hatte in der früheren Sowjetunion eine hohe Popularität wegen seiner oft drastischen Zeichnungen, die als Titelbilder verschiedener Zeitschriften bald Kultcharakter erlangten. Stets von starker politischer Polemik angetrieben, offenbaren sie doch einen Künstler der damaligen UdSSR, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Seine Serie von Zeichnung mit dem Titel „Das darf nie wieder passieren!“ diente Leonid Hrabovsky als Vorlage. Die Zeichnungen haben den deutschen Überfall und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges aus sowjetischer Sicht zum Thema, einige widmen sich den beiden Atombombenabwürfen durch die Amerikaner auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Die apokalyptischen Zeichnungen, in ihrer Bildkraft etwa jenen von Käthe Kollwitz zu vergleichen, animierten den 26-jährigen Komponisten Leonid Hrabovsky zu musikalischer Auseinandersetzung.

Auf ein „Vorwort des Autors“, eine sinfonische Einleitung folgen sechs Sätze, die jeweils den Charakter eines Bildes in Musik übersetzen: „Alarm“, „Der Überfall“, „In den Ruinen“, „Mutter“, „Hiroshima“. Alle diese zutiefst erschütternden Zeichnungen von Prorokov sind im Internet zugänglich. Einzig „Fluch den Henkern“ konnte ich nicht finden. Möglicherweise handelt es sich um einen zusammenfassenden Epilog, mit dem Hrabovsky das Thema noch einmal überhöhen wollte. Seine musikalischen Satzuntertitel in italienischer Sprache sprechen für sich: „Sehr schnell, unruhig und verwirrt. Grausam und heftig. Ganz langsam, unheimlich. Ruhig und nachdenklich.

Traurig und schmerzhaft.

Kurzbiographien

Jonathan Powell

25. Heidelberger Frühling Standpunkte / The Sorabji Project Pass (I-V) Aula der Alten Universität Heidelberg Probe & Einführung (vor der Aufführung) - 01.04.2022 Einführung: Igor Levit & Musikwissenschaftler Prof. Dr. Christoph Flamm Jonathan Powell - Klavier Kaikhosru Sorabji “Sequentia Cyclica super Dies irae ex Missa pro Defunctis” ©2022 Martin Walz

Jonathan Powell debütierte im Alter von 20 Jahren im Purcell Room in London, widmete sich aber im folgenden Jahrzehnt vor allem der Komposition (seine Werke wurden vom Arditti Quartet, der London Sinfonietta und Nicolas Hodges aufgeführt) und der Musikwissenschaft (sein Doktortitel beschäftigt sich mit dem Einfluss Skrjabins). Anschließend absolvierte er ein intensives Klavierstudium bei Sulamita Aronovsky (zuvor war er in seinen späten Teenagerjahren von Denis Matthews angeleitet worden), was zu einer Verlagerung des Schwerpunkts hin zur Darbietung führte. Er ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Musik der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, insbesondere aus Russland und Osteuropa, ist aber auch ein Befürworter der zeitgenössischen Musik und hat Werke von Dufourt, Ambrosini und anderen uraufgeführt. Sein Repertoire umfasst auch viel Standardmaterial (Beethoven, Schubert, Chopin, Schumann).

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Wolters, Rainer
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Bondas, Marina
Beckert, Philipp
Morgunowa, Anna
Drechsel, Franziska
Feltz, Anne
Polle, Richard
Yamada, Misa
Oleseiuk, Oleksandr
Scilla, Giulia

Violine 2

Contini, Nadine
Petzold, Sylvia
Seidel, Anne-Kathrin
Hetzel de Fonseka, Neela
Bauza, Rodrigo
Bara, Ania
Palascino, Enrico
Guillier, Antoine
Kanayama, Ellie,
Wenzel, Isabel

Viola

Rinecker, Lydia
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Drop, Jana
Montes, Carolina
Zolotova, Elizaveta
Yoo, Hyelim
Balan-Dorfman, Misha

Violoncello

Riemke, Ringela
Weiche, Volkmar
Breuninger, Jörg
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Kipp, Andreas

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim

Flöte

Döbler, Rudolf
Schreiter, Markus
Fayed, Reha
Grudin, Leonid

Oboe

Surkov, Leonid
Grube, Florian
Vogler, Gudrun

Klarinette

Kern Michael
Pfeifer, Peter
Pfanzelt, Barbara
Inesta Perez, Miguel

Altsaxophon

Krullmann, Maike

Fagott

Kofler, Miriam
Voigt, Alexander
Königstedt, Clemens

Horn

Kühner, Martin
Sivritep, Efe
Klinkhammer, Ingo
Mentzen, Anne
Stephan, Frank
Diz, Luis Miguel

Trompete

Ranch, Lars
Jansky, Lorenz
Hofer, Patrik
Takeda, Mai

Posaune

Hölzl, Hannes
Hauer, Dominik
Lehmann, Jörg

Tuba

Wagemann, Sebastian

Harfe

Edenwald, Maud
Ravot, Marion

Schlagzeug

Thiersch, Konstantin
Azers, Juris
Grahl, Christoph
Reddemann, Ingo
Tummes, Daniel

Pauke

Wahlich, Arndt
Celesta/Cembalo
Syperek, Markus

Kooperation

Das Konzert wird am 21.12.2023 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.

Der Flügel des Konzerts wird gesponsert von C. Bechstein Concert

Bild-/ Videorechte

Portraits Johannes Kalitzke © Till Budde
Portrait Jonathan Powell © Martin Walz