Digitales Programm

So 12.5.2024
Tarmo Peltokoski

20:00 Konzerthaus Berlin

Richard Strauss

„Vier letzte Lieder“ für Sopran und Orchester

Dmitri Schostakowitsch

Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93

Besetzung

Tarmo Peltokoski, Dirigent

Camilla Nylund, Sopran

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Das Konzert wird am 14.05.2024 um 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.
19.10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Konzerteinführung von Steffen Georgi

Podcast "Muss es sein?"

Richard Strauss

„Vier letzte Lieder“ für Sopran und Orchester

Werkeinführungen von Steffen Georgi ©

Ich will Freude bereiten – ich brauche sie

Gustav Mahler hatte Richard Strauss einmal „den großen Zeitgemäßen“ genannt. Selbst ein Aufrüttler der Menschheit, verstand Mahler niemals, wie Strauss, um die menschliche Psyche wissend wie er und künstlerisch ebenso ausdrucksfähig, gerade nicht rütteln wollte am törichten, selbstgefälligen Ist der Zeit. Im Gegenteil, Strauss – wahrlich nicht zum Fanatiker geboren – ver(sch)wendete sein Genie zur Versüßung der Bitternisse, nivellierte die sich auftuenden sozialen und gesellschaftlichen Gräben, umhüllte die unübersehbaren Hässlichkeiten mit dem zarten Schmelz seiner Töne. „Wir haben kein Recht, ihm große Vorwürfe zu machen. Aber ich glaube, wir haben doch das Recht, uns von ihm zu distanzieren“, äußerte sich Hermann Hesse 1947 über Richard Strauss.

Unangefochten von Weltschmerz oder Todessehnsucht, bot Strauss zur Zerrissenheit des Fin-de-Siècle den denkbar größten Kontrast. Lebenslang strebte er nach Ausgleich, nach Deeskalation, nach Frieden. Was war falsch daran? Sein Humanismus mutet angesichts zweier von Deutschland angezettelter Weltkriege mit Millionen von Toten schlicht hilflos an. Die Dimension der Katastrophe trat ihm nie wirklich ins Bewusstsein. Insofern war Strauss ein Zeitgemäßer, weil man sich seiner bedienen konnte. Und zugleich hoffnungslos unzeitgemäß, ja antiquiert in seinem gelebten Widerspruch zwischen hohem griechischem Ethos und aktueller brutaler Realität.

Größe aus Gelassenheit

Der Sohn des ersten Hornisten der Hofoper und der Bierbrauerstochter Josephine Pschorr, 1864 in München geboren, von leichter Auffassungsgabe, musikalisch hoch talentiert, wuchs wohlbehütet in der Atmosphäre der alten süddeutschen Kunstmetropole auf. Humanistische Bildung, alltäglicher Luxus und gelassene Weltoffenheit umgaben und prägten ihn. Richard Strauss liebte es zu leben. Zu diesem Zweck arbeitete, komponierte, dirigierte er – nicht umgekehrt. Denn viele Menschen scheinen zu leben, um arbeiten zu können.

Strauss, von Grund auf Skeptiker, misstraute den politischen Verrenkungen, welche Menschen unternehmen, um Machtpositionen zu erreichen. Seine Waffe und zugleich sein Schild war sein fehlender Ehrgeiz, seine Gelassenheit in außermusikalischen Dingen. Umso mehr erhob er die nur-musikalischen Dinge zu seiner absoluten Welt. Kein messianischer Auftrag bedrängte seine musikalische Fantasie. Pure Schönheit, dionysische Stimmungen, extrem verfeinerter Klangzauber genügten ihm völlig, um mit einem Werk zufrieden zu sein. Zum Zyniker fehlte ihm der Hass, zum Weltverbesserer der Patriotismus. So paradox es scheinen mag: Strauss’ eigensinniger Humanismus nährte sich aus der Verweigerung, sich von irgendeiner Partei menschlicher Machtgier wirklich vereinnahmen zu lassen. Ein freier Geist, der noch in den problematischsten Situationen genau nicht das tat, was man von ihm erwartete. Manchmal tat er dann das, was man von ihm nicht erwartet hätte – und ihm bis heute nicht verziehen hat.

Vitaler „Schädling“

Strauss, als Dirigent gleichermaßen Autodidakt wie Genie, ließ sich in Meiningen, München, Weimar, Berlin oder Dresden für Aufführungen von Werken Wagners, Mozarts und zeitgenössischer Komponisten feiern. Der Bildungsbürger Strauss verachtete Duckmäuserei, blinden Gehorsam und geheucheltes Christentum. Der Musikfunktionär Strauss verweigerte sich aufgeblasenem Rummel. Der Komponist Strauss ignorierte sämtliche ästhetischen Richtungswechsel des anbrechenden 20. Jahrhunderts. Der Geschäftsmann Strauss wusste aus den von ihm komponierten „Schäden für die deutsche Musik“ ein ansehnliches Vermögen zu ziehen. Der Humanist Strauss strebte den klassischen Idealen der griechischen Antike zu. Strauss, der Präsident der Reichsmusikkammer, suchte die Zusammenarbeit mit dem jüdischen Dichter Stefan Zweig. Der Egoist Strauss setzte die Verankerung der materiellen und ideellen Rechte aller Komponisten in Deutschland per Gesetz durch und kämpfte für die soziale Besserstellung der ihm anvertrauten Orchester. Der Privatmann Strauss nahm sich Zeit für seine Familie, für sein Haus und seine Freunde.

Gott ist eine Frau

Richard Strauss und die Frauen. Das ist bis heute ein unzusammenhängendes Puzzle; ein lohnendes Forschungsprojekt wäre es allemal. Ausschweifend, nein, so lebte Strauss nicht. Keine stillen Anbetungen, keine wechselnden Beziehungen, keine käufliche Liebe, keine Skandale. Enttäuschend fast seine Geradlinigkeit, seine Treue, seine immerwährende Liebe zu Pauline de Ahna, zu seiner Frau, mit der er fast 55 Jahre verheiratet war.

Hatte ihn die temperamentvolle, starke Frau tatsächlich zeitlebens mit dem „Stacheldraht ihrer Liebe“ eingezäunt, wie Strauss einmal derb scherzte? Gegenüber Dora Wihan, einer Angeschwärmten aus der frühen Jugend, hatte der 25-jährige Strauss beteuert – Richard Wagner zitierend –: „Die Frauen sind noch unser Trost; denn jede Frau kommt als Mensch auf die Welt, während jeder Mann als Philister geboren wird und lange braucht, bis er sich, wenn überhaupt, zum Menschen durcharbeitet“.

Liebe Triebe

Strauss’ Werke umfassen in der Hauptsache Opern, Tondichtungen und Lieder. Die Opern kreisen fast ausnahmslos um weibliche Zentralfiguren, während die Tondichtungen männliche Protagonisten haben. Strauss hat sich nie dazu geäußert, warum dies so ist, wie er überhaupt auf derartige Fragen keine Antwort wusste oder zu geben pflegte außer der: „Das muss eben so sein.“ In der ersten Tondichtung des 25-Jährigen, „Don Juan“ (1889), wurden von Psychoanalyse und Musikwissenschaft deutliche phallische Symbole geortet. Auch Zarathustra (1896) und der Held vom „Heldenleben“ (1899), selbst Till Eulenspiegel (1895) und Don Quichote (1898) verkörpern männliche Kraft, Potenz im weitesten Sinne. Die erste Oper hingegen, „Feuersnot“ (1901), straft ein ganzes Dorf mit Dunkelheit und Kälte, weil eine eigensinnige Schöne ihre Freier verprellt, worauf der Ältestenrat beschließt, sie habe ihre Jungfräulichkeit der Wiederherstellung des Feuers zu opfern. Die zweite Oper, „Salome“ (1905), geht in ihrer erotischen Dimension weit über die Historie aus dem Alten Testament hinaus. Was fasziniert Strauss an der blutschänderischen Ehe des Herodes Antipas mit der Frau seines Bruders und anschließend – ihrer schon wieder überdrüssig – mit deren Tochter? Warum reizt ihn die „Frucht dieser Unzucht“, die geheimnisvolle Kindfrau Salome mit ihren bestialischen Gelüsten, zu musikalischer Durchdringung? Was bewegt ihn, in der nächsten Oper, „Elektra“ (1908), die Abgründe von ungezügelter Lust, Vatermord, Rache und Inzest musikalisch zu durchleuchten? Das Fragezeichen muss bleiben, aber es soll anwesend sein, soll sich hier im Raum krümmen, wenn wir heute Abend den „anderen“, den „braven“ Strauss hören.

Letzte Lieder

Auf die Frage einer jungen Journalistin, was seine Pläne für die Zukunft seien, schmunzelte der 83-jährige Strauss 1947 in London: „Na, sterben halt!“ Ein Jahr später, im Herbst 1948, mehr als 40 Jahre, nachdem Strauss die Gattung des Sololiedes zugunsten der Oper fast völlig verlassen hatte, entstanden noch einmal vier Lieder.

Die Vier letzten Lieder des 84-jährigen Richard Strauss gehören zu jenen zehn Prozent der Werke, bei denen sich ihre Autoren tatsächlich der Letztgültigkeit gewusst sind. Im Grad der Verdichtung von Erfahrungen eines Menschenlebens sind die Vier letzten Lieder von Strauss vielleicht den Vier ernsten Gesängen von Johannes Brahms oder den Michelangelo-Gesängen von Dmitri Schostakowitsch vergleichbar. Und natürlich sind sie unmittelbar verwandt mit dem „Abschied“, dem letzten Lied aus Gustav Mahlers „Lied von der Erde“.

Der greise Strauss lebte damals mit seiner Frau in der Schweiz, durch Freunde abgeschirmt von hartnäckigen Versuchen, ihn einem Entnazifizierungsverfahren zu unterziehen. Zuerst widmete er sich dem Gedicht „Im Abendrot“ von Joseph von Eichendorff, um kurz darauf drei Gedichte von Hermann Hesse zu vertonen. Im Juni 1948 erklärte ihn die Spruchkammer in Garmisch als „vom Gesetz nicht betroffen“, so dass Strauss nach einer Blasensteinoperation im Dezember 1948 noch einmal in sein geliebtes Haus nach Garmisch zurückkehren konnte. Im Mai 1949 dort angekommen, überhäufte man ihn zum 85. Geburtstag am 11. Juni mit zahlreichen Ehren. Ein letztes Mal dirigierte er im Juli die „Mondscheinmusik“ aus „Capriccio“ in München, musste den August bereits krank im Bett verbringen und starb am 8. September 1949. Die Vier letzten Lieder hat er nie gehört. Sie wurden in der heute üblichen Reihenfolge in London gedruckt und am 22. Mai 1950, neun Tage nach dem Tod von Strauss’ Witwe Pauline de Ahna, zum ersten Mal in London von Kirsten Flagstad gesungen. Wilhelm Furtwängler leitete das Philharmonia Orchestra.

Abschiedsfest

Entrücktes, mildes Licht ist das Bindeglied aller vier Lieder. Sämtlich in gemächlichem Tempo, beschwören sie die Jahres- und Tageszeiten wie Epochen eines Menschenlebens herauf. Ein letztes Mal badet Strauss in seinem geliebten Orchesterklang. Er lässt es rauschen und flirren, orgeln und schmeicheln. An die 100 Musiker werden aufgeboten, um diese Reise ins Licht zu begleiten, schwingen sich wieder und wieder in höchste Höhen auf. Sofern die Instrumente nicht glasklar und differenziert solistisch zu spielen haben, ist der gemeinsame Klang samtig getönt, fast ausschließlich im Pianissimo gehalten.

Obwohl „Im Abendrot“ mit acht Minuten eines der längsten Strauss-Lieder überhaupt ist, nehmen sich die Vier letzten Lieder wie bescheidene Miniaturen aus. Das Schlussmotiv aus „Tod und Verklärung“ grüßt sanft herüber. Hier wie dort: keine Spur von Todesstachel, wider den es zu löcken gälte. Der Meister zelebriert noch einmal seine unwiderstehliche Kunst der sinnlichen Verführung. Jeder Harmoniewechsel gerät zum Fest. Zeit verliert ihren Begriff. Die musikalischen Figuren leuchten wie vergoldet.

Für Strauss ist und bleibt die Seele weiblich. Bar jeder Erdenschwere schwebt die Sängerin auf einem Wolkenteppich dahin. Horn oder Solovioline dürfen ihr gelegentlich den Schleier tragen. Zwei letzte Flöten fliegen ihr in Lerchengestalt voraus – der sinkenden Sonne entgegen …

Liedtexte

Richard Strauss Vier letzte Lieder

Caspar David Friedrich (1774-1840)

"Frau vor der untergehenden Sonne", 1818

Frühling

Hermann Hesse

In dämmrigen Grüften
träumte ich lang
von deinen Bäumen und blauen Lüften,
von deinem Duft und Vogelgesang.

Nun liegst du erschlossen
in Gleiß und Zier,
von Licht übergossen
wie ein Wunder vor mir.

Du kennest mich wieder,
du lockest mich zart,
es zittert durch all meine Glieder
deine selige Gegenwart!

September

Hermann Hesse

Der Garten trauert,
kühl sinkt in die Blumen der Regen.
Der Sommer schauert
still seinem Ende entgegen.

Golden tropft Blatt um Blatt
nieder vom hohen Akazienbaum.
Sommer lächelt erstaunt und matt
in den sterbenden Gartentraum.

Lange noch bei den Rosen
bleibt er stehen, sehnt sich nach Ruh.
Langsam tut er die (großen)
müdgewordnen Augen zu.

Beim Schlafengehen

Hermann Hesse

Nun, der Tag mich müd gemacht,
soll mein sehnliches Verlangen
freundlich die gestirnte Nacht
wie ein müdes Kind empfangen.

Hände, laßt von allem Tun,
Stirn, vergiß du alles Denken,
alle meine Sinne nun
wollen sich in Schlummer senken.

Und die Seele unbewacht
will in freien Flügen schweben,
um im Zauberkreis der Nacht
tief und tausendfach zu leben.

Im Abendrot

Joseph von Eichendorff

Wir sind durch Not und Freude
gegangen Hand in Hand,
vom Wandern ruhen wir (beide)
nun überm stillen Land.

Rings sich die Täler neigen,
es dunkelt schon die Luft,
zwei Lerchen nur noch steigen
nachträumend in den Duft.

Tritt her, und laß sie schwirren,
bald ist es Schlafenszeit,
daß wir uns nicht verirren in dieser Einsamkeit.
O weiter, stiller Friede!

So tief im Abendrot,
wie sind wir wandermüde ­–
ist dies etwa der Tod?

Dmitri Schostakowitsch

Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93

Mit Blut geschrieben

Die Sinfonie Nr. 10 von Dmitri Schostakowitsch ist ein Werk der Superlative. Ihr erster Satz dauert fast so lange wie die ganze Sinfonie Nr. 9. Zugleich besitzt das Riesenwerk das kürzeste, gleichwohl heftigste Sinfonie-Scherzo, das Schostakowitsch geschrieben hat. Vor allem aber ist ihr die längste sinfonische Pause vorausgegangen, die es bei Schostakowitsch je gegeben hat.

Waren die Siebente und die Achte vom Kriegsgeschehen geprägt, so hatte sich die Neunte 1945 dem allseits erwarteten Siegesjubel verweigert und geriet 1948 in den Strudel der hysterisch geführten Formalismusdebatte in der Sowjetunion. Hatte der Staat in den 1930er-Jahren die beiden Opern von Schostakowitsch politisch abgewürgt, so traf es 1948 auch die Sinfonik. Die Neunte galt den Musikbürokraten als frivole Provokation, als volksfremd. Die Geisthelle der von ironischem Leuchten durchfunkelten, lakonisch knappen Sinfonie hatte die sowjetischen Musikinquisiteure schlicht geblendet.

Dem Komponisten blieb als Rückzugsort nur noch die Kammermusik. Werke wie das 4. und 5. Streichquartett, der Liederzyklus „Aus jüdischer Volkspoesie“, aber auch das Violinkonzert Nr. 1 wanderten in die Schublade mit den unaufgeführten Werken.

„‘Stalin ist tot – ich habe es eben gehört – unten vor dem Haus, die Männer beim Schneeräumen haben es gesagt – und Unterricht haben wir auch nicht heute‘, sprudelte die Tochter heraus, noch immer atemlos vom Laufen in das vierte Stockwerk, und schüttelte den Schnee von ihrer Mütze. Schostakowitsch blickte seine Tochter schweigend an.

Lange Zeit braucht er, um diese Nachricht in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen…

Stimmlos fragt er jetzt, während er sich eine Zigarette ansteckt und nicht verhindern kann, dass seine Finger zittern, als habe er nicht richtig verstanden: ‚Stalin ist tot, sagst du?‘ ‚Ja!‘ Fast schreit Galina die Antwort heraus. Sie ist neben den Vater getreten, hat ihren Arm um ihn gelegt. Sie ahnt, was diese Todesnachricht ihm bedeuten muss, sie weiß, wie sehr auch ihr Vater Stalin gefürchtet hat. Die Mutter hatte ihr erzählt, wie der Vater täglich erwartete, verhaftet zu werden, damals, 1937. ‚Wird nun alles anders?‘ fragt Galina mit kindlicher Neugier. Wortlos nickt Schostakowitsch. Kaum hörbar fügt er hinzu: ‚Hoffentlich!‘“ (Lothar Seehaus, in: „Schostakowitsch. Leben und Werk“, 1992)

Hoffentlich

Mit Stalins Tod am 5. März 1953 atmete die sowjetische Kunst- und Kulturszene vorsichtig auf. Für Erleichterung war es noch zu früh. Aber es hatte sich eine Menge Verbitterung angestaut bei den Dichtern und Komponisten, Malern und Architekten.

Im Juli 1953 begann Schostakowitsch in der Abgeschiedenheit der Familiendatscha in Komarowo im Wald bei Leningrad mit der Komposition einer neuen Sinfonie, der ersten seit acht Jahren.

Am Ende wird er lakonisch sagen: „In diesem Werk wollte ich menschliche Empfindungen und Leidenschaften wiedergeben.“ Doch was heißt das schon für einen hochempfindlichen Seismographen, der das sowjetische System aus Angst und Hoffnung, Heuchelei und Gewalt nicht nur kannte, sondern ihm lebenslang ausgesetzt war und sich damit auseinanderzusetzen hatte. Der vorauseilende Gehorsam, die Speichelleckerei, die Verlogenheit des gesamten Alltags, sollten sie mit Stalin ins Grab gesunken sein? Hoffentlich.

Die Biographische

Die Sinfonie Nr. 10 zieht eine Zwischenbilanz, sie ist Abrechnung im Guten wie im Bösen. Nicht zufällig findet jeder analysierende Fachmann entweder neue Vernetzungen mit Schostakowitschs früheren Werken, beziehungsreiche Keime für die späteren, oder Querverbindungen zu Marksteinen der Musikgeschichte. Das in der Sinfonie massiv (und später noch vielfach) eingesetzte Tonsymbol D.(E)S.C.H – Dmitri Schostakowitsch hat es von Johann Sebastian Bach gelernt. Es funktioniert so auch nur in der deutschen Sprache. 1950, nach der Rückkehr von einer Reise zum Leipziger Bachfest (anlässlich von Bachs 200. Todestag) nahm sich Schostakowitsch einen Zyklus von 24 Präludien und Fugen für Klavier vor, den er bereits ein Jahr später vorlegen konnte. 1953 erwies er dann dem Meister aller Musiker die Ehre in einer großen Sinfonie. Zuvor, 1952, weilte Schostakowitsch erneut in Deutschland, um an den Feierlichkeiten zum 125. Todestag von Beethoven teilzunehmen. Auch dessen Erbe hat er voller Hingabe in sich aufgenommen. Drei der vier Sätze der Sinfonie Nr. 10 folgen der Sonatenhauptsatzform.

Der Grundgestus des Werkes kommt einem Faustischen Ringen nach Wahrheit nahe. Die Kräfte des Bösen können Mephistopheles oder Stalin heißen, sie können die Gewalt an sich darstellen oder die dunklen Seiten eines jeden Menschen. Ob Schostakowitsch tatsächlich motivische Anleihen bei Liszts „Faust“-Sinfonie nimmt (wie von einigen Analytikern behauptet), oder ob er (wie andere sagen) ein eigenes Lied auf einen Text von Puschkin zitiert, das vom Tod eines jüdischen Kindes handelt, sei dahingestellt. Sicher ist, dass sich darüber hinaus stilistische Spuren von Gustav Mahler durch die ganze Sinfonie ziehen wie durch Schostakowitschs gesamtes Werk.

Moderato

Drei Themen, sämtlich düster und lastend, machen die „russischen“ Dimensionen des ersten Satzes (Moderato) aus.

Jeder Gedanke, jedes Instrumentationsdetail, jede dynamische Stufe wird zuerst weiträumig befestigt, bevor der nächste Schritt erfolgt. Das verleiht dem Satz eine ungeheure Steigerung, auf deren Höhepunkt das Schlüsselthema aus der Sinfonie Nr. 8 erklingt.

Dieser vehemente Ausbruch des vollen Orchesters ist also lange und gründlich vorbereitet, gerade deswegen entfaltet er bei seinem Auftreten eine atemberaubende Erschütterung. Dabei hält Schostakowitsch das Orchestertutti über weite Strecken bewusst brüchig, lässt die Farben hart aneinander reiben, spaltet den Klang anstatt ihn zu verschmelzen, ganz wie Mahler. Das Tam-Tam rammt mehrfach vernichtende Schicksalsschläge hinein. Leidenschaftliches Aufbegehren fällt ins Bodenlose. Schostakowitsch erweist sich als ein erschütternder Chronist der Hoffnungslosigkeit. Er beherrscht die Facetten der auskomponierten Leere im Lauten wie im Leisen: verwehte Töne, verstümmelte Motivfetzen, aber auch greller Lärm, hurtiger Aktionismus.

Einem darauffolgenden, dumpfen Choral der tiefen Bläser (Fagotte, Posaunen, Tuba) antwortet ein Solo der beiden Klarinetten in abgrundtiefer Einsamkeit. Der Satz endet in Auflösung. Die Pikkoloflöte haucht förmlich aus, dazu bloßes, trockenes Geräusch: Pianissimo-Paukenwirbel und Streicher-Pizzikato.

Allegro

Das rasende Scherzo, eine Orgie der Gewalt, ja es mag den Diktator porträtieren. Kein schmeichelhaftes Bild, sondern eine Fratze. Aber der Satz ist mehr als das. Er schafft durch Anklänge an den Prolog aus Modest Mussorgskis Oper „Boris Godunow“ die Parallele zum armen, ausgeplünderten Volk im Russland der Zarenzeit. Und der Satz zeichnet den „Wohltäter der Menschheit“, wie Stalin überschwänglich gepriesen worden ist, mit dem rohen Gewaltmotiv, das schon dem Vergewaltiger in Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ oder dem martialischen Marsch in der Leningrader Sinfonie eingebrannt gewesen ist. Wenn schließlich das Hetzmotiv aus dem dritten Takt quälend langgezogen erklingt, erinnert es an die Totensequenz „Dies irae“.

Allegretto

Ungleich läppischer gibt sich die gleiche rhythmische Figur zu Beginn des dritten Satzes, Allegretto. Motivisch aus den Tönen C-D-(Es)-H gebildet, klingt das Thema mit dem nachklappernden Hetzmotiv wie eine selbstironische Karikatur. Schostakowitsch macht sich über sein zweites Ich lustig, das ängstlich vor dem Donnern der Partei kuschte, heroische Resolutionen unterschrieb und fremde Reden vorlas. Mit ihm tanzen eine Reihe anderer Marionetten einen grotesken Konformisten-Reigen. DSCH führt sich selber vor wie ein aufgeputztes Zirkuspferd. Doch das Lachen bleibt einem im Halse stecken, weil der ganze Spaß unversehens ins Schmerzhafte überdreht.

Einhalt gebietet ein markantes Hornsignal, das sofort an Gustav Mahler denken lässt, an den Rufer in der Wüste etwa im Finale der Sinfonie Nr. 2. In der Tat eröffnet ein ganz ähnliches Hornsignal Mahlers „Lied von der Erde“ – Mahler beginnt so das „Trinklied vom Jammer der Erde“. Es heißt dort: „Dunkel ist das Leben, ist der Tod“ und „Seht dort hinab! Im Mondschein auf den Gräbern hockt eine wild-gespenstische Gestalt. Ein Aff ist’s! Hört ihr, wie sein Heulen hinausgellt in den süßen Duft des Lebens.“ Ausgerechnet diese Passage erläutert Schostakowitsch am 17. September 1953, mitten während der Arbeit an der Sinfonie, in einem Brief an die russische Musikerin Elmira Nasirowa, seine ehemalige Schülerin. Wenige Tage zuvor, am 29. August, hat er ihr mitgeteilt, er habe ihren Namen in ein Tonsymbol verwandelt. Das Hornsignal in der Sinfonie Nr. 10 besteht exakt aus den (wechselnd deutsch und italienisch bezeichneten) Tönen E-La-Mi-Re-A!

Die beiden Anagramme scheinen verschiedenen Welten zu entstammen, sie finden nicht zusammen. Das Geschehen zerbröckelt. Motivreste, Themenköpfe, einzelne Signale verebben in Flötentönen, denen die Luft just auf jenem Akkord ausgeht, der seinerzeit das letzte Lied, „Abschied“, von Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ beschlossen hat. Wenige Tage vor dem Ende seines Lebens erbat sich Schostakowitsch für die letzte halbe Stunde, die ihm zu leben vergönnt sei, noch einmal Mahlers „Abschied“ zu hören …

Andante – Allegro

Ein rätselhaft langsamer, von düsteren Stimmungen getragener, gar nicht tröstlicher Abschnitt leitet das Finale ein. Doch mit einer verzweifelten Geste wischt der Komponist alles Lähmende vom Tisch. Demonstrative Heiterkeit macht sich breit in Form eines russischen Volkstanzes, eines Gopak. Es ist jene typische Heiterkeit von Schostakowitsch, die albern beginnt, stürmisch wird, übermütig gar – und dann festfährt, bevor sie umkippt in blankes Grauen. Dafür sorgt ein Widerauftauchen der Motive aus dem zweiten Satz, dem „Stalin“-Scherzo. Panisch trampeln die martialisch herausgebrüllten DSCH-Schläge den Albtraum nieder. Die „apotheotische Selbstvergewisserung“ (Michael Koball) Schostakowitschs ist durchaus der Unbedingtheit des Anspruchs vergleichbar, mit der Beethoven die Welt im Finale der Sinfonie Nr. 9 zum Bruderkuss zusammenzwingen will. Doch die Welt ist nicht reif dafür, damals so wenig wie heute.

Hoffnung?

Sofort nach der Uraufführung entbrannte in der Sowjetunion eine scharfe Diskussion um die Sinfonie. Anders als bisher kamen Für und Wider gleichermaßen zu Wort. Der gesamte Wortlaut der mehrtägigen Debatte im Komponistenverband wurde in der Zeitschrift „Sowjetskaja Musyka“ abgedruckt. Schostakowitsch selbst beschränkte sich auf einige lapidare handwerkliche Hinweise, ging aber gestärkt wie nie zuvor aus den Auseinandersetzungen hervor. Sein Ruf als bedeutendster Sinfoniker nach Mahler stand nicht mehr in Frage, drang mit Macht nach Europa und Amerika. 1958 revidierte das ZK der KPdSU wesentliche Teile des berüchtigten Beschlusses von 1948 und räumte dabei gravierende Fehleinschätzungen ein. Schostakowitsch und viele andere hatten unterdessen viele Jahre ihres Lebens an den Irrsinn einer rechthaberischen Ideologie verloren.

Kurzbiographien

Tarmo Peltokoski

Der finnische Dirigent Tarmo Peltokoski wurde im Januar 2022 von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen zum „Principal Guest Conductor“ gekürt und ist damit der erste Dirigent, der diese Position in der 42-jährigen Geschichte des Orchesters innehat. Im Mai 2022 wurde er zum musikalischen und künstlerischen Leiter des Lettischen Nationalen Sinfonieorchesters ernannt. Seit der Konzertsaison 23/24 ist er Erster Gastdirigent des Rotterdam Philharmonic Orchestra. Im August 2022, im Alter von 22 Jahren, dirigierte er seinen ersten kompletten Wagner-Ring-Zyklus beim Eurajoki Bel Canto Festival. Er ist designierter MusiK Direktor des Orchestre National du Capitole de Toulouse.
Tarmo Peltokoski begann sein Studium im Alter von 14 Jahren bei dem emeritierten Professor Jorma Panula und studierte bei Sakari Oramo an der Sibelius-Akademie. Er erhielt außerdem Unterricht von Hannu Lintu, Jukka-Pekka Saraste und Esa-Pekka Salonen. Als gefeierter Pianist studierte er Klavier an der Sibelius-Akademie bei Antti Hotti. Sein Klavierspiel wurde bei zahlreichen Wettbewerben ausgezeichnet, und er trat als Solist mit allen großen finnischen Orchestern auf. Im Oktober 2023 unterschrieb Tarmo Peltokoski einen Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon. Das Debütalbum wird im Mai 2024 erscheinen. Im Jahr 2022 erhielt er den Lotto-Preis beim Rheingau Musik Festival und 2023 den OPUS Klassik für seine Aufnahme mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Darüber hinaus hat Tarmo Peltokoski auch Komposition und Arrangement studiert und hat eine besondere Vorliebe für Musikkomödie und Improvisation.

Camilla Nylund

Camilla Nylund, in Vaasa (Finnland) geboren, studierte zunächst bei Eva Illes, später in der Opern- und Liedklasse im Mozarteum in Salzburg. Für ihre ausgezeichneten Leistungen wurde ihr im Dezember 1995 von der Internationalen Stiftung Mozarteum die Lilli Lehmann-Medaille verliehen.

Nach Festengagements in Hannover und an der Semperoper Dresden gehört Camilla Nylund mittlerweile zu den international begehrtesten Sängerinnen ihres Fachs und ist an allen bedeutenden Opernhäusern regelmäßiger Gast – an der Wiener Staatsoper, der Bayerischen Staatsoper München, der Metropolitan Opera New York, der Mailänder Scala, an der Pariser Bastille, der Berliner und der Hamburgischen Staatsoper, der Deutschen Oper Berlin, bei den Bayreuther und den Salzburger Festspielen, in Barcelona, Valencia, Zürich, Helsinki, Köln, Frankfurt, Amsterdam, Tokio, San Francisco.
Camilla Nylund arbeitet sowohl im Opern- als auch im Konzertbereich mit allen bedeutenden Maestri unserer Zeit – so mit Zubin Mehta, Sir Simon Rattle, Christian Thielemann, Andris Nelsons, Daniel Barenboim, Esa-Pekka Salonen, Vladimir Jurowski, Gianandrea Noseda, Riccardo Muti, Marek Janowski, Carina Kanellakis, Simone Young. Als Anerkennung für ihre künstlerische Leistung erhielt Camilla Nylund zahlreiche Auszeichnungen. Seit November 2022 ist sie Trägerin des Lotte-Lehmann-Gedächtnisrings – eine der weltweit bedeutendsten Auszeichnungen für Opernsängerinnen. Im September 2022 wurde sie neben anderen hochkarätigen Preisträgern in der Züricher Tonhalle mit dem Europäischen Kulturpreis geehrt. Aufgrund ihrer jahrelangen künstlerischen Verbundenheit verlieh ihr die Wiener Staatsoper im Jahr 2019 den Titel der Österreichischen Kammersängerin. Auch die Semperoper Dresden hat Camilla Nylund zur Sächsischen Kammersängerin ernannt. Bereits im Jahr 2000 erhielt sie dort den Christel-Goltz-Preis der Semperoper. In ihrer Heimat wurde sie mit dem Finnischen Staatspreis der Musik (2019), dem Großen Kulturpreis des Schwedischen Kulturfonds in Finnland sowie der Pro-Finlandia-Medaille, verliehen durch den finnischen Staatspräsidenten (2013), ausgezeichnet.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Bondas, Marina
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Kynast, Karin
Tast, Steffen
Pflüger, Maria
Morgunowa, Anna
Feltz, Anne
Polle, Richard
Scilla, Giulia
Sak, Mug
Cazac, Cristina

Violine 2

Kurochkin, Oleh
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Manyak, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Bara-Rast, Ania
Seidel, Anne-Kathrin
Kanayama, Elli
Kang, Jiho
Hagiwara, Arisa

Viola

Rinecker, Lydia
Adrion, Gernot
Zolotova, Elizaveta
Markowski, Emilia
Drop, Jana
Doubovikov, Alexey
Montes, Carolina
Inoue, Yugo
Yoo, Hyelim
Kantas, Dilhan
Moon, Inha
Balan-Dorfman, Misha

Violoncello

von Gutzeit, Konstanze
Riemke, Ringela
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Kipp, Andreas
Paetsch, Raphaela
Monné, Nina
Kleimberg, Elise

Kontrabass

Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Schlootz, Julia
Parkkala, Akseli

icon

Flöte

Bogner, Magdalena
Wassermeyer, Henrike
Fayed, Reham
Schreiter, Markus

Oboe

Grube, Florian
Vogler, Gudrun
Herzog, Thomas

Klarinette

Link, Oliver
Pfanzelt, Barbara
Kehrle, Alexandra

Fagott

Kofler, Miriam
Shih, You-Tung
Königstedt, Clemens

Horn

Ember, Daniel
Holjewilken, Uwe
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Coker, Alper
Ranch, Lars
Gruppe, Simone

Posaune

Manyak, Edgar
Vörös, József
Hauer, Dominik

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud

Schlagzeug

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Mödig, Marc
Azers, Juris

Pauke

Eschenburg, Jakob

Celesta

Inagawa, Yuki

Kooperation

Das Konzert wird am 14.05.2024 um 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.

Bild-/ Videoquellen

Portrait Tarmo Peltokoski ©Peter Rigaud
Portrait Camilla Nylund © Anna S.
Bilder Orchester/ Probe © Peter Meisel

https://www.youtube.com/watch?v=ZR-V2bZU4uk