Matthias Pintscher dirigiert das RSB © Peter Meisel

Digitales Programm

So 08.06. Matthias Pintscher

20:00 Konzerthaus

Toru Takemitsu

„Twill by Twilight – im Gedenken an Morton Feldman“ für Orchester

Béla Bartók

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3

Pause

Matthias Pintscher

„neharot“ für Orchester

Maurice Ravel

„La valse“ – Poème chorégraphique für Orchester

Besetzung

Matthias Pintscher - Dirigent
Cédric Tiberghien - Klavier
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Konzertübertragung: Das Konzert wird am 29.06.2025 um 20 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Steffen Georgi

Fragil, fraktal, fragend

Wie verletzlich unsere individuelle Existenz ist, wie sehr sie auch kollektiven Bedrohungen gegenüber hilflos sein kann, das haben nicht nur die Verwerfungen der Corona-Pandemie der Menschheit vor Augen geführt. Gespiegelt in Musik, lassen sich faszinierendste An- und Einsichten daraus gewinnen. Werke aus den Randbereichen der Wahrnehmung, subtile Musik des Übergangs, hat der Komponist und Dirigent Matthias Pintscher für sein drittes Gastspiel am Pult des RSB ausgesucht.
Béla Bartóks drittes Klavierkonzert, komponiert für Ditta Pasztory, die junge Ehefrau des ungarischen Meisters, ist ein lebenssprühendes, diesseitiges Werk. Bartók schrieb es 1945, schwer an Leukämie erkrankt und im Bewusstsein seines nahen Todes.
Matthias Pintschers „Neharot“ (hebräisch für Flüsse, Tränen, Klage) entstand „in der schlimmsten Zeit der vielen täglichen Todesfälle im Frühjahr 2020 und ist ein deutliches Echo der Trostlosigkeit und der Angst, aber auch der Hoffnung auf Licht.“ Extrem tiefe Töne der Bassinstrumente drängen in den Vordergrund des Orchesterklanges.
Völlig andere Seiten des Unbeherrschbaren, des Nichtkontrollierten schlagen Toru Takemitsus „Twill by Twilight“ (Gewebe aus Zwielicht, 1988) und Maurice Ravels „La Valse“ (1906, 1920) auf. Mit sanft schwebenden, impressionistisch pastellartigen Klängen spürt Takemitsu jenem Moment nach, in dem nach dem Sonnenuntergang das Zwielicht zur Dunkelheit wird. Das Werk ist eine Hommage an seinen Freund, den 1987 verstorbenen Komponisten Morton Feldman.
Ravel hingegen, dessen 150. Geburtstag die Musikwelt 2025 feiert, begann 1906 mit einer Paraphrase über den Wiener Walzer. 1920 kehrte er zu dem Fragment zurück. Aber er war nach den Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg nicht mehr derselbe. „La Valse“ wurde ein betörend schönes Sinnbild dafür, wie sehr die allgegenwärtige Hybris des Menschen die gesamte Welt in den Abgrund zu stürzen droht.

Matthias Pintscher ist an diesem Abend Dirigent und Komponist zugleich. Im Rahmen einer kurzen Moderation wird er sein Werk „Neharot“ dem Publikum vorstellen. Dann erklingt das Stück.

"Muss es sein?" - Der Konzertpodcast des RSB

Toru Takemitsu

„Twill by Twilight – im Gedenken an Morton Feldman“ für Orchester

„Don’t push the sound!“

Als der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen seinen amerikanischen Kollegen Morton Feldman (1926-1987) einmal nach dessen Geheimnis befragte, schmunzelte der introvertierte Musiker: „Don’t push the sound!“ Tatsächlich ruhen Feldmans Klänge in sich. Wie ruhige Atemzüge füllen sie den Raum. „Auch wenn die Musik in der Kleinheit der Gesten und der unerschöpflichen Variation an Webern erinnert, ist sie in Zeitlupe und auf einer riesigen Leinwand ausgebreitet. Auf Prunk wurde zugunsten des Rothkoesken spirituellen Mysteriums verzichtet.“ (Morton Feldman) Der hier erwähnte Maler Mark Rothko (1903-1970) gilt als „Erfinder“ riesiger, scheinbar monochromer Farbflächen in der Malerei. Er ruft zur Kontemplation angesichts von Kunst auf: „Es wäre gut, wenn man überall im Land kleine Orte einrichten könnte, wie eine kleine Kapelle, in die der Betrachter für eine Stunde kommen kann, um ein einziges Gemälde zu betrachten, das in einem kleinen Raum und für sich allein hängt.“

Mark Rothko "Ocean Sunset"

Bezogen auf das Hören von Musik, heißt dies: Nicht mehr dem Bemühen um das Verstehen, sondern dem reinen Akt des Sehens, respektive Hörens gilt das Interesse der postavantgardistischen Künstler des späten 20. Jahrhunderts. Betrachter und Zuhörer sollen von großen Farb- bzw. Klangflächen überwältigt werden, ohne dass der Verstand sich bemühen muss, die erlebten Emotionen zu identifizieren oder zu beschreiben. Keinerlei didaktisches Fortschreiten, keine thematischen Entwicklungen finden statt.

An diesem Punkt treffen sich Morton Feldman und der japanische Komponist Tōru Takemitsu, dessen „Gewebe aus Zwielicht“ heute Abend das Konzert eröffnet. Takemitsu hat es Feldman postum gewidmet, nachdem er sich kurz vor dessen Tod noch einmal ausführlich über die frappierende Ähnlichkeit ihres musikalischen Selbstverständnisses austauschen konnte. Takemitsus wie Feldmans Klangwelt zeichnet eine nurmehr geringe Veränderung von melodischen, rhythmischen oder dynamischen Werten während einer langen Zeit aus. So erfüllen beide ein quasi schopenhauerisches Nicht-Wollen mit tiefem musikalischem Sinn. Ihre Musik ist getragen von geradezu zärtlicher Zurückhaltung.

„… wenn die Dämmerung in Dunkelheit übergeht“

Feine Linien bilden Takemitsus musikalische Textur. Sie verflechten sich wie Fäden zu einem gewebten Stoff, zu einem Köper. Dieses Gewebe, so der Komponist, sei in Pastelltönen gehalten, die „den Moment kurz nach Sonnenuntergang ausdrücken, wenn die Dämmerung in Dunkelheit übergeht. Das Werk wurde vom Yomiuri Nippon Symphony Orchestra anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums in Auftrag gegeben. Es entstand als liebevolle Erinnerung an einen Mann, der sowohl mein Freund als auch ein einzigartiger Komponist war: Morton Feldman, der 1987 starb.“ (Tōru Takemitsu)

Das Schweben in Stille – bei Feldman bleiben tatsächlich große Klangflächen frei –

„malt sein japanischer Freund gegen einen zarten Hintergrund aus Pedaltönen, verhaltenen, schrittweisen Ostinati oder statischen Harmoniefeldern. Wie in vielen Werken Takemitsus bleiben die Texturschichten fließend; eine Melodielinie entsteigt nahtlos dem Ensembleklang, während eine andere langsam in den Begleitfluss eintaucht. Die Konturen von ‚Twill‘ bestehen … scheinbar ausschließlich aus Spannung, wie das Dehnen und Ziehen, das aus formlosen Fäden Gewebe entstehen lässt.“ (Jeremy Grimshaw)

Rothko Takemitsu, Feldman – sie alle zielen auf die im Wortsinn universelle Wahrnehmung des Menschen: Wie bei einem Blick an den nächtlichen Sternenhimmel, in die Tiefen des Universums, erleben wir zugleich die ruhige, unendliche Größe des Firmaments wie die unzähligen winzigen, sachte flackernden Punkte der Sterne. Oder im Falle von „Twill by Twilight jenen Moment, in dem ein lieber Freund langsam im Zwielicht der untergegangenen Sonne entschwindet, im Übergang zwischen diesem und einem nächsten Leben.

Gern weisen wir noch auf diese Komplementärveranstaltung hin: Unter dem Motto „Stille, Ton, Musik – Tōru Takemitsu zwischen japanischer Tradition und europäischer Moderne“ veranstaltet das Staatliche Institut für Musikforschung am 19. Juni 2025 im Curt-Sachs-Saal ein Konzert mit Lesung und Vortrag. Weitere Informationen finden Sie auf den Internetseiten des Institutes.

Béla Bartók

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3

Musikalisches Vermächtnis

Am 22. September 1945 starb Béla Bartók im New Yorker West Side Hospital an Leukämie. Noch am Tag zuvor, am 21. September, hatte der Todkranke an der Orchestrierung seines letzten Werkes gearbeitet, am Klavierkonzert Nr. 3. Bis auf 17 Takte gelang es ihm, das Konzert zu Ende zu komponieren. Sein Schüler Tibor Serly trug die letzten Takte der Partitur nach.

Es war nicht nur die unheilbare Krankheit, die Bartóks letzte Lebensjahre verdunkelte. Dass er – nicht nur einer der angesehensten Komponisten seiner Heimat, sondern einer der führenden Köpfe Ungarns überhaupt – angesichts des gefährlichen Opportunismus des profaschistischen Horthy-Regimes außer Landes sich getrieben fühlte, wiegt im Falle Bartóks doppelt schwer, denn der feinnervige Künstler hätte seine vertraute Umgebung und Kultur wie die Luft zum Atmen gebraucht. Monatelanger zermürbender Kampf gegen bürokratische Fesseln, spärliche materielle Einkünfte aus Vorlesungen und Konzertauftritten und eine hektische, kulturfeindliche Atmosphäre im fernen, fremden Amerika, das Bartók 1940 zum Exil gewählt hatte, lähmten für Jahre seine Schaffenskraft. Bartóks geschwächtes Immunsystem begünstigte den wiederholten Ausbruch der Leukämie. Immerhin übernahm die ASCAP, die Amerikanische Gesellschaft der Komponisten, Autoren und Verleger großzügig die Krankenhauskosten, obwohl Bartók nicht Mitglied der Organisation war.

Isoliert und ignoriert, drohte seinem Leben ein allmähliches Verlöschen in Anonymität. Die Fürsprache der Künstlerfreunde Fritz Reiner und József Szigeti bei dem einflussreichen Dirigenten des Bostoner Sinfonieorchesters, dem Verlagsinhaber, Präsidenten einer eigenen Stiftung und Exil-Russen Sergei Kussewitzky, bewirkte einen der letzten gewaltigen Schübe bei Bartók, in dessen Ergebnis das Konzert für Orchester entstand. Dem folgten in zwei – für die Krankheit typischen – beschwerdefreien Phasen die Sonate für Violine solo(für Yehudi Menuhin) und Mitte 1945 noch das Klavierkonzert Nr. 3.

Mit Plänen dazu trug sich der Komponist bereits seit einigen Jahren. Unter anderem hatte ihn der Verleger Ralph Hawkes bereits 1940 um ein Klavierkonzert gebeten, Bartók selbst sollte es spielen. Da der Komponist seine pianistische Laufbahn aber bereits 1939 beendet hatte, lehnte er ab. Auch Skizzen zu einem Konzert für zwei Klaviere und Orchester gediehen nicht weiter. Schließlich entschloss er sich doch zu einem Klavierkonzert und widmete das unendlich abgeklärte Werk seiner Frau, der Pianistin Ditta Pásztori. Vielleicht war es gerade der weltentrückte, fast schwerelos heitere Gestus des Konzertes (man vergleiche mit Schostakowitschs viel später entstandener Sinfonie Nr. 15!), zu dem der Todgeweihte im Sommer 1945 fand, der Frau Pásztori lange Zeit außerstande setzte, das Konzert auch aufzuführen.

Sonnenlicht, komm hervor

Im Laufe seines Lebens hatte Bartók über 16.000 Volkslieder gesammelt, ungarische, slowakische, rumänische, algerische und russische. Ein ungarisches Kinderlied, „Sonnenlicht, komm hervor, sieh, wie unser kleines Lämmchen fast erfror“, bildet die Keimzelle des ersten Satzes des Klavierkonzertes. Die mixolydische Melodie erfährt eine rhythmische Anreicherung und klangliche Intensivierung, bevor ein zweites, lichtes Thema hinzukommt. Entspannte, konsonante Harmonien prägen auch die Durchführung des ersten Satzes, ein Wahrzeichen klassischen Ebenmaßes. Der kühne Tonartenplan transponiert geradezu übermütig von As-Dur in Ganztonschritten über B-, C-, D-, E- nach Fis-Dur. Ganz schlicht endet der Satz mit einer anmutigen Flötenphrase.

Den zweiten Satz überschrieb der Atheist Bartók mit „Adagio religioso“. Wir haben es mit einem pantheistisch-keuschen „Gebet“ an die Natur zu tun. Auf morgendlichen Spaziergängen in den Wäldern rund um das das Sanatorium in Ashville (North Carolina), notierte Bartók sich Vogelstimmen – unter anderen die der Rötelgrundammer. Geschickt versteht er es, die Melodie des Vogels in zwei pentatonische Skalen – charakteristisch für die Volksmusik unter anderem in Osteuropa und auf dem Balkan – einzuschmelzen. Ernst und streng begrenzen Choralimitationen das Adagio, zunächst getragen vom Soloklavier, am Schluss den Holzbläsern anvertraut, nun trocken figuriert vom Klavier. Dazwischen huschen die Vogelmotive hin und her, weit entfernt vom romantischen Waldweben Webers oder Wagners, und dennoch eine unnachahmliche, sonnendurchglänzte Atmosphäre heraufbeschwörend.

Ähnlich wie im Konzert für Orchestererfüllt das Finale die traditionelle „Kehraus“-Funktion, ja es bedient geradezu das entsprechende Klischee. Freilich entzieht sich Bartóks spröde Tonsprache stets allzu vordergründiger Effekt-Klingelei. Meisterhafte polyphone Strukturen, jagende Fugati, dichte dissonante Klangflächen mit vertrackten rhythmischen Finessen entfesseln einen Dialogwirbel zwischen Soloklavier und Orchester, dem zu folgen auch das Publikum durchaus gefordert ist.

Matthias Pintscher

„neharot“ für Orchester

Matthias Pintscher dirigiert das RSB © Peter Meisel

Matthias Pintscher ist an diesem Abend Dirigent und Komponist zugleich. Im Rahmen einer kurzen Moderation wird er sein Werk „Neharot“ dem Publikum vorstellen. Dann erklingt das Stück.

Sieben Millionen

In den fünf Jahren seit November 2019 bis Ende 2024 forderte das Corona-Virus weltweit nachgewiesen mehr als sieben Millionen Todesopfer. Was für viele inzwischen fast wie eine „normale“ Erkältungskrankheit anmutet, hat die Welt für mehrere Jahre buchstäblich in Atem gehalten. Mikroskopisch klein sind bisweilen die Bedrohungen, die der gesamten Menschheit ihre Hilflosigkeit vor Augen führen. Aufatmen also anno 2025? Am Ende wird kein Virus der Welt solch einen immensen Schaden anrichten, dass die Natur ihn nicht früher oder später reparieren könnte – es sei denn der anthropozentrische Größenwahn des „vernunftbegabten Wesens“ selbst, seine beispiellose kollektive Hybris, die wohl stärker als jeder theoretisch anzunehmende Feind die eigene und jede andere Existenz zu untergraben imstande ist.

„Neharot“ für Orchester wurde, so beschreibt der Komponist Matthias Pintscher die Entstehung, „während der schlimmsten Zeit der vielen täglichen Todesfälle im Frühjahr 2020 geschrieben und ist ein deutliches Echo der Verwüstung und Angst, aber auch der Hoffnung auf Licht, die diese Zeit unseres Lebens so emotional geprägt hat“. Der hebräische Titel „Neharot“ bezeichnet Flüsse, aber auch Tränen. „Er beschreibt auch die Tränen des Wehklagens.“ (Matthias Pintscher) Über die extremen Tiefen des Kontrafagotts, der Bassklarinette, der Tuba, der Kontrabässe, drängen sich in „Neharot“ die schwarzen Klänge in den Vordergrund. Aber Matthias Pintscher verweist noch auf ein weiteres außermusikalisches Gleichnis: „Da die Musik den Fluss als klangliches Phänomen evoziert, ist sie auch von den Geheimnissen der Kathedrale von Chartres inspiriert, wo sich mehrere Flüsse genau unter dem Ort kreuzen, an dem Chartres erbaut wurde (und wieder aufgebaut wurde, nachdem sie niedergebrannt war, vom Schicksal total zerstört wurde und wieder auferstand).“ So wie „Neharot“ für „Tombeau“ steht, für „Requiem“, für „Kaddish“ – „für all die Menschen, die wir in dieser beispiellosen Zeit verloren haben“ (Pintscher), steht es auch für Hoffnung, Wiedergeburt und Auferstehung.

Der Komponist

Matthias Pintscher wurde 1971 in Marl in Nordrhein-Westfalen geboren und studierte Komposition bei Giselher Klebe und Manfred Trojahn. Richtungsweisende Einflüsse erfuhr er von Hans Werner Henze, der ihn 1991 und 1992 nach Montepulciano einlud, sowie von Helmut Lachenmann, Pierre Boulez und Peter Eötvös. Bereits als Student erhielt der angehende Komponist eine Vielzahl von Preisen, die ihm den Weg zu großen internationalen Projekten ebneten. Die Oper „Thomas Chatterton“ kam 1998 an der Semperoper in Dresden heraus, „L‘espace dernier“ folgte 2004 an der Opéra National de Paris.

2002 war er Composer in Residence beim Cleveland Orchestra, danach im Konzerthaus Dortmund, beim Lucerne Festival, beim Radio-Symphonie-Orchestra Saarbrücken, in der Philharmonie Köln und beim RSO Stuttgart. Matthias Pintscher hat sich längst auch als Dirigent von führenden Orchestern und Ensembles in Europa und den USA etabliert.

Mit Beginn der Saison 2024/2025 wurde Matthias Pintscher zum Musikdirektor des Kansas City Symphony Orchestra (KCS) ernannt. Er startete seine Amtszeit mit einer Europatournee ins Concertgebouw in Amsterdam, die Berliner Philharmonie und die Hamburger Elbphilharmonie.

Zuvor beendete er die zehnjährige Amtszeit als Musikdirektor des Ensemble Intercontemporain, des legendären Pariser Ensembles für zeitgenössische Musik, das von Pierre Boulez gegründet wurde. Während Pintschers Ära initiierte er Dutzende von Uraufführungen für diese innovative Institution, er nahm Musik von führenden Komponisten aus aller Welt auf und reiste mit dem Ensemble auf Tourneen zu allen großen Festivals und Konzertsälen rund um den Globus – nach Asien, Nordamerika und ganz Europa.

2024/2025 war Pintscher bereits zum fünften Mal Creative Partner beim Cincinnati Symphony Orchestra. Als Gastdirigent kehrte er zum New York Philharmonic, Houston Symphony, San Diego Symphony, Los Angeles Chamber Orchestra, Royal Concertgebouw Orchestra, Gürzenich-Orchester Köln, Oslo Philharmonic, BBC Scottish Symphony, Barcelona Symphony, Orquesta Nacional de España, Orchestre National de Radio France und dem Boulez Ensemble zurück. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin dirigiert er gegenwärtig zum dritten Mal. 2018 stand er u.a. mit seinem Werk „Chute d’Étoiles“ am Pult des RSB, 2024 kehrte er zurück, um ein Konzert seines verehrten Lehrers Peter Eötvös zu übernehmen, welches der aus gesundheitlichen Gründen hatte absagen müssen.

Matthias Pintscher hat mehrere Opernproduktionen dirigiert, unter anderem an der Berliner Staatsoper (Wagners „Lohengrin“ und „Der fliegende Holländer“ sowie Beat Furrers „Violetter Schnee“) und an der Wiener Staatsoper (Olga Neuwirths „Orlando“).
Als Komponist arbeitet Matthias Pintscher weltweit mit renommierten Künstlern zusammen, die seine Werke zur Aufführung bringen. 2017 wurde das Cellokonzert „Un Despertar” von Alisa Weilerstein und dem Boston Symphony Orchestra uraufgeführt. Im gleichen Jahr dirigierte Christoph Eschenbach die Premiere von „Shirim“ für Bariton und Orchester mit Bo Skovhus und der NDR Elbphilharmonie. 2021 richtete die Tokioter Suntory Hall im Rahmen ihres Sommerfestivals eine einwöchige Feier mit seinen Werken aus. Eine Weltpremiere 2021 war „Neharot“, ein gemeinsamer Auftrag der Suntory Hall, des Orchestre Philharmonique de Radio France, des Orchestre de la Suisse Romande, des Los Angeles Philharmonic und der Staatskapelle Dresden, wo er zum Capell-Compositeur ernannt worden war. Zuvor wirkte Matthias Pintscher 2016/2017 als erster Composer-in-Residence der Elbphilharmonie Hamburg und von 2014 bis 2017 als Artist-in-Residence beim Danish National Symphony Orchestra sowie als Composer in Residence bei den Salzburger Festspielen und dem Lucerne Festival.

Eine neunjährige Zusammenarbeit verband ihn als Artist-in-Association mit dem BBC Scottish Symphony Orchestra. 2020 war er Musikdirektor beim Ojai Festival, 2018/2019 fungierte er als Season Creative Chair des Tonhalle-Orchesters Zürich und als Artist-in-Residence beim Los Angeles Chamber Orchestra. Als enthusiastischer Förderer und Mentor von Studierenden und jungen Musikern leitete Matthias Pintscher als Chefdirigent das Lucerne Festival Academy Orchestra und von 2005 bis 2018 das Heidelberger Atelier, eine Akademie für junge Musiker und Komponisten. Nicht zuletzt hat er wiederholt mit der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, der Music Academy of the West, dem National Orchestral Institute und der Jungen Deutschen Philharmonie zusammengearbeitet. Er tritt regelmäßig mit der New World Symphony in Miami auf, einem Ausbildungsorchester für junge Musiker:innen zwischen Studium und Beruf. Seit 2014 ist er als Professor für Komposition Mitglied der Kompositionsfakultät der Juilliard School.

Maurice Ravel

„La Valse“ – Poème chorégraphique für Orchester

Zuckende Verzückung

Die Idee, eine Walzerkette zu Ehren von Johann Strauß unter dem Titel „Wien“ zu komponieren, beschäftigt Maurice Ravel zuerst 1906. 1911 verfasst er den Tanzzyklus „Valses nobles et sentimentales“, der durch Franz Schuberts „Valses nobles“ und „Valses sentimentales“ inspiriert worden ist, bevor er sich 1919 auf Anregung des Impresarios der Ballets Russes, Sergei Diaghilew, den Skizzen zu „Wien“ erneut zuwendet. Beide Werke, von denen jeweils zuerst Klavier- und anschließend Orchesterfassungen entstehen, tragen Spuren verschiedener Lebensphasen ihres Autors in sich, zwischen denen sich der verheerende Weltkrieg in seine persönliche Wahrnehmung eingebrannt hat.

Ravel ist acht Jahre nach den „Valses nobles et sentimentales“ nicht mehr derselbe. Eine bloße charmante Huldigung an Wien, die Weltstadt des Tanzes, will ihm nicht mehr gelingen. Entbehrungsreiche Jahre als Frontsoldat, vielfache Begegnungen mit dem Tod, auch im engsten privaten Kreis, lähmen seine Schaffenskraft und stürzen ihn in tiefe Depressionen. So kommt dem künstlerischen Wiederauftauchen Ravels mit „La Valse“ besondere Bedeutung zu. Er denkt voller Hoffnung an die von Sergei Diaghilew in Aussicht gestellte Zusammenarbeit mit den Ballet Russes. Um so niederschmetternder muss es auf Ravel wirken, dass der Impresario das Werk ablehnt. Bei einer Voraufführung in illustrem Kreis (u.a. Igor Strawinsky, Francis Poulenc, Marcelle Meyer) äußert Diaghilew, sichtlich irritiert von den herben und schicksalhaft anspruchsvollen Klängen, „La Valse“ sei „ein Meisterwerk... aber es ist kein Ballett. Es ist das Portrait eines Balletts... das Gemälde eines Balletts.”

La Valse by Camille Claudel

In der Tat hat Ravel ein fast sinfonisches Programm im Sinn, wenn er eingangs der Partitur von einer „Apotheose des Walzers“ spricht. „Ich habe dieses Werk als eine Art Apotheose des Wiener Walzers aufgefasst, mit dem sich in meinem Geiste die Vorstellung eines phantastischen und unentrinnbaren Wirbels verbindet... Wirbelnde Wolkenschwärme lassen beim Durchblicken Walzerpaare flüchtig erkennen. Allmählich zerstreuen sich die Wolken: Man gewahrt einen ungeheuren, von einer sich drehenden Menge bevölkerten Saal.“ Und er fügt hinzu: „Ein kaiserlicher Hof, gegen 1855“. Um diese Zeit schraubte ein reaktionärer Apparat in Wien die letzten liberalen Reformen Josephs II. zurück. Polizeistaat, Kriegslust, Überdruss, Reizsucht schaukelten sich mit einer „leichtsinnigen Musik“ in den Walzertaumel des „Fin de siècle“ österreichischer Prägung. Im Jahre 1918 zerbricht die einstige Großmacht Österreich-Ungarn. Die Donaumonarchie, deren Gesellschaftsleben die ganze Walzerkultur getragen hatte, besteht nicht mehr.

Mitten ins Herz

Ravels rauschhafte Raserei, jener vielzitierte „Tanz auf dem Vulkan“, hat einen bitteren Beigeschmack. Im spannungsvollen Antagonismus aus oberflächlichem Glanz und dramatischer Substanz wurzelt die Qualität von „La Valse“. Zugleich erschweren diese Eigenschaften jeden Versuch einer choreographischen Umsetzung. „La Valse“ fand nach der Ablehnung durch Diaghilew seinen Weg zuerst in den Konzertsaal, uraufgeführt am 23. Oktober 1920 durch Maurice Ravel und Alfredo Casella im Wiener Konzerthaus (Fassung für zwei Klaviere) bzw. am 12. Dezember 1920 unter Leitung von Camille Chevillard in den Pariser Concerts Lamoureux (Orchesterfassung). Die szenische Premiere brachte erst Ida Rubinstein mit ihrer Truppe am 23. Mai 1929 in der Pariser Oper heraus.

Aus einem rhythmischen Orchesternebel tauchen Fetzen, Fragmente, Anspielungen auf die gesamte Walzertradition auf, verstricken sich zu einem Knäuel, reißen wieder auseinander. Beim ersten Fortissimo (« La lumière des lustres éclate ») fühlt man sich an die auf Wien marschierenden Soldaten „ach dahin, dahin, muss er ziehn“) aus Johann Strauß’ „Zigeunerbaron“ erinnert. Trügt der Eindruck, wenn darauf ein klagendes Oboenmotiv aus den „Valses nobles et sentimentales“ herüberzuklingen scheint? Allmählich ergreift der obsessive Walzertaumel alle Bereiche der Musik. Immer gehetzter, greller werden Rhythmik, Dynamik, Klangfarben. Im Gegensatz zum "Boléro" oder zum Schluss des Klavierkonzertes in D, wo der Grundschlag das Geschehen eisern umklammert, steigert sich „La Valse“ durch die ständige Veränderung der Tempi und Tonarten in „eine tanzende, drehende, beinahe halluzinierende Ekstase, einen immer leidenschaftlicheren und erschöpfenderen Wirbel von Tänzerinnen, die sich überbordend hinreißen lassen, einzig vom Walzer.“ (Ravel, 1922)

Texte © Steffen Georgi

Kurzbiographien

Matthias Pintscher

Matthias Pintscher dirigiert das RSB © Peter Meisel

Matthias Pintscher ist ab der Saison 2024/25 der neu ernannte Musikdirektor des Kansas City Symphony. Er hat gerade ein erfolgreiches Jahrzehnt als Musikdirektor des Ensemble Intercontemporain hinter sich, dem von Pierre Boulez gegründeten Pariser Kult-Ensemble für zeitgenössische Musik, das 2022 mit dem Polarpreis der Königlich Schwedischen Akademie ausgezeichnet wurde. Während seiner Amtszeit leitete Pintscher diese höchst abenteuerliche Institution bei der Schaffung von Dutzenden von Uraufführungen, nahm CDs mit Musik von Spitzenkomponisten aus der ganzen Welt auf und führte das Ensemble auf Tourneen rund um den Globus – nach Asien und Nordamerika sowie in ganz Europa zu allen wichtigen Festivals und Konzertsälen.

Pintscher ist auch als Komponist bekannt, und seine Werke stehen häufig auf den Programmen der großen Symphonieorchester in aller Welt. Im August 2021 stand er im Mittelpunkt des Suntory Hall Summer Festival, einer einwöchigen Feier seiner Werke mit dem Tokyo Symphony Orchestra und einer Residency des EIC mit Aufführungen von Sinfonie- und Kammermusik. Sein drittes Violinkonzert, Assonanza, das er für Leila Josefowicz schrieb, wurde im Januar 2022 mit dem Cincinnati Symphony Orchestra uraufgeführt. Eine weitere Uraufführung 2021-22 war neharot, ein gemeinsamer Auftrag von Suntory Hall, Orchestre Philharmonique de Radio France, Orchestre de la Suisse Romande, Los Angeles Philharmonic und Staatskapelle Dresden, wo er zum Capell-Compositeur ernannt wurde. In der Saison 2016/17 war er der erste Composer-in-Residence der Elbphilharmonie Hamburg, und von 2014 bis 2017 war er Artist-in-Residence beim Danish National Symphony Orchestra sowie Composer-in-Residence bei den Salzburger Festspielen und dem Lucerne Festival.

Pintscher hatte bereits verschiedene Positionen inne, zuletzt war er neun Spielzeiten lang Artist-in-Association des BBC Scottish Symphony Orchestra. Im Jahr 2020 war er Musikdirektor beim Ojai Festival, und 2018/19 war er Creative Chair des Tonhalle-Orchesters Zürich und Artist-in-Residence beim Los Angeles Chamber Orchestra. Als begeisterter Förderer und Mentor von Studenten und jungen Musikern war Pintscher Chefdirigent des Lucerne Festival Academy Orchestra, leitete von 2005 bis 2018 das Heidelberger Atelier, eine Akademie für junge Musiker und Komponisten, und arbeitete mit der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, der Music Academy of the West, dem National Orchestral Institute und der Jungen Deutschen Philharmonie zusammen. Er tritt fast jede Saison mit dem New World Symphony in Miami auf, einem Ausbildungsorchester für postkonservatorische, nicht-professionelle Musiker. Seit 2014 ist Pintscher Mitglied des Lehrkörpers für Komposition an der Juilliard School.

Matthias Pintscher begann seine musikalische Ausbildung im Bereich des Dirigierens und studierte in seinen frühen Zwanzigern bei Pierre Boulez und Peter Eötvös, als das Komponieren bald eine wichtigere Rolle in seinem Leben einnahm. In beiden Bereichen erlangte er schnell die Anerkennung der Kritik und komponiert auch weiterhin neben seiner Dirigententätigkeit. Als produktiver Komponist wird Pintschers Musik von einigen der besten Interpreten, Orchestern und Dirigenten unserer Zeit geschätzt. Seine Werke wurden von Orchestern wie dem Boston Symphony, dem Chicago Symphony, dem Cleveland Orchestra, dem New York Philharmonic, dem Philadelphia Orchestra, den Berliner Philharmonikern, dem London Symphony Orchestra, dem Royal Concertgebouw Orchestra und dem Orchestre de Paris aufgeführt, um nur einige zu nennen. Er wird exklusiv von Bärenreiter verlegt, und Aufnahmen seiner Werke sind bei Kairos, EMI, Teldec, Wergo und Winter & Winter zu finden.

Cédric Tiberghien

Cédric Tiberghien ist ein französischer Pianist, der eine wahrhaft internationale Karriere gemacht hat. Er wird vor allem für seine Vielseitigkeit gelobt, die sich in seinem breit gefächerten Repertoire, seiner interessanten Programmgestaltung, seiner Offenheit für innovative Konzertformate und seinen dynamischen Kammermusikpartnerschaften zeigt.

In der Saison 2024/25 wird Cédric Tiberghien mit dem Netherlands Radio Philharmonic, dem Detroit Symphony, dem Houston Symphony, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem Hallé und dem Orchestre National de France auftreten und dabei unter anderem mit Simone Young, Matthias Pintscher und Karina Canellakis zusammenarbeiten. Außerdem schließt er seinen dreijährigen Beethoven-Zyklus in der Wigmore Hall mit den Diabelli-Variationen ab, kehrt mit seinem John-Cage-Klangskulptur“-Projekt nach Australien zurück und gibt zusammen mit der Geigerin Alina Ibragimova Rezital-Tourneen durch die USA, das Vereinigte Königreich und Japan.

Cédric hat in jüngster Zeit Liederabende und Kammermusikkonzerte im Pierre Boulez Saal in Berlin, im BOZAR in Brüssel, im Sala São Paulo, in der Philharmonie de Paris, im Auditorio Nacional de Música in Madrid, im Rudolfinum in Prag und am Place des Arts in Montreal gegeben und dabei mit dem Bratschisten Antoine Tamestit, dem Bariton Stéphane Degout und dem Chiaroscuro Quartett zusammengearbeitet. Zu seiner Diskografie gehören Ravels Klavierkonzerte mit François-Xavier Roth und Les Siècles auf historischen Instrumenten, das für den Gramophone Award 2023 nominiert wurde.

Das RSB im Konzerthaus Berlin_hochformat, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Kynast, Karin
Morgunowa, Anna
Pflüger, Maria
Ries, Ferdinand
Stangorra, Christa-Maria
Tast, Steffen
Yamada, Misa
Behrens, Susanne
Bernsdorf, Romina
Heinz, Magdalena

Violine 2

Kurochkin, Oleh
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Buczkowski, Maciej
Eßmann, Martin
Färber-Rambo, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Manyak, Juliane
Palascino, Enrico
Seidel, Anne-Kathrin
Hagiwara, Arisa
Sak, Muge
Fan, Yu-Chen

Viola

Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Doubovikov, Alexey
Drop, Jana
Montes, Carolina
Inoue, Yugo
Sullivan, Nancy
Roske, Martha
Chomarat, Abigail
Maschkowski, Anastasia

Violoncello

Hornig, Arthur
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Bard, Christian
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Kalvelage, Anna
Lee, Danbee
Schweizer, Hilmar

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Figueiredo, Pedro
Buschmann, Axel
Gazale, Nhassim
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Moon, Junha
Yeung, Yuen Kiu Marco

icon

Flöte

Zust, Brina
Döbler, Rudolf
Dallmann, Franziska
von Brück, Franziska

Oboe

Bastian, Gabriele
Vogler, Gudrun
Herzog, Thomas

Klarinette

Link, Oliver
Pfeifer, Peter
Simpfendörfer, Florentine
Engelbach, Julius

Fagott

You, Sung Kwon
Voigt, Alexander
Königstedt, Clemens

Horn

Ember, Daniel
Holjewilken, Uwe
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Dörpholz, Florian
Kupriianov, Roman (Picc)
Ranch, Lars
Gruppe, Simone

Posaune

Pollock, Louise
Hauer, Dominik
Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud

Percussion

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Azers, Juris
Zeuner, Lukas
Van Cong, Bao-Tin
Ko, Minhye
Mirzoian, Tigran
Ellwanger, Johannes

Pauke

Wahlich, Arndt

Celesta

Inagawa, Yuki

Klavier

Gneiting, Heike

Kooperation

Bild- und Videorechte

Fotos Matthias Pintscher und Konzert © Peter Meisel
Fotos Orchesterprobe © Junye Shen

Cédric Tiberghien © Yamaha