Digitales Programm

Sa 01.03.2025

Vasily Petrenko

20:00 Konzerthaus

Benjamin Britten

„Four Sea Interludes“ aus der Oper „Peter Grimes“ op. 33 a

Maurice Ravel

„Shéhérazade“ – Drei Poeme für Sopran und Orchester
Texte von Tristan Klingsor

Pause

Nikolai Rimski-Korsakow

„Scheherazade“ – Sinfonische Suite op. 35


Besetzung

Vasily Petrenko, Dirigent

Véronique Gens, Mezzosopran

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Steffen Georgi

Wenn die Gestade des Meeres einmal erzählen würden, was sie alles wissen …

Werkeinführungen von Steffen Georgi ©

Podcast "Muss es sein?"

Benjamin Britten

„Four Sea Interludes“ aus der Oper „Peter Grimes“ op. 33 a

Dämmert es?

Peter Grimes ist ein Außenseiter. Er passt nicht in die Kleinstadt an der englischen Ostküste, und er passt sich ihr nicht an. Klatsch und Hass treiben ihn in den Tod. So wie die erhabene Weite des Meeres auf die dumpfe Enge des Fischerstädtchens trifft, so prallt Peters Grimes’ unangepasste Gesinnung auf die bornierte Hysterie der Nachbarn, welche dahindämmern zwischen Fischfang und Fusel, zwischen Kirche und Kneipe.

Die vier „Sea Interludes“ entstammen der Oper „Peter Grimes“, komponiert 1944/1945, zu einer Zeit also, als der Krieg seine entscheidende Wende genommen hatte und neue Hoffnung die Menschen diesseits und jenseits der Meere erfüllte – auch jene noch in Hiroshima und Nagasaki. Die Uraufführung fand am 7. Juni 1945 im Sadler’s Wells Theatre in London mit Peter Pears in der Titelpartie statt, und in kurzer Zeit folgten mehr als 100 Aufführungen in acht Sprachen. Die gewaltigen Naturereignisse und die sozialkritische Sprengkraft der menschlichen Emotionen inspirierten Britten zu äußerst ausdrucksstarker Musik. Dabei überhöhten die instrumentalen Zwischenspiele (Interludien) zwischen den Szenen der Oper die Atmosphäre des folgenden Bildes oder setzten deutliche musikalische Kontraste. Vier der sechs Zwischenspiele fasste Britten zu einer atmosphärisch dichten Orchestersuite zusammen: „Morgendämmerung“, „Sonntagmorgen“, „Mondschein“, „Sturm“. Der Komponist selbst leitete am 13. Juni 1945 die Premiere der vier Seebilder im Rahmen des von ihm begründeten Cheltenham-Festivals.

Glitzern und Krachen

„Dawn“, eine Klangstudie weit entfernter Instrumentengruppen, verdeutlicht „den Wind, der durch die Takelage der Boote am Strand und über die Schornsteine der Häuschen des Städtchens pfeift, den Wellenschlag der See und das Knirschen des Kieses unter der Flut“ (Britten). „Sunday morning“ entrollt ein Stimmungsbild von schier impressionistischer Farbigkeit und Leuchtkraft, aus dem sich behutsam Klangvorstellungen von hohen und tiefen Glocken mit unterschiedlich langen Schwingungsdauern lösen. Der Mittelteil nimmt das Opern-Arioso „Glitzerndes Meer und glitzernder Sonnenschein“ vorweg, bevor der Morgen im Glockenklang verhallt.

Eines seiner unnachahmlichen Nachtbilder gelang Britten mit „Moonlight“. Rhythmisch und melodisch fast unbewegt, dabei von zarter harmonischer Spannung erfüllt, so kann das fahle Mondlicht klingen, wie es sich im leicht bewegten Meer und auf den feuchten Dächern der schlafenden Stadt spiegelt. Nicht größer könnte der dramaturgische Kontrast sein zum nachfolgenden „Storm“.

Maurice Ravel

„Shéhérazade“ – Drei Poeme für Sopran und Orchester
Texte von Tristan Klingsor

Traurige Träume einer Märchenprinzessin

„Von edlem Antlitz“ sei sie, jedenfalls bedeutet das der persische Name Scheherazade. Wollen wir hoffen, dass ihre edle Erscheinung und ihr schier unerschöpflicher Geschichtenschatz Scheherazade schlussendlich das Leben gerettet haben. Das Schicksal der legendären Erzählerin, die es vermochte, eintausend und eine Nacht hindurch den Sultan durch Geschichtenerzählen bei Laune zu halten, war und ist eine attraktive Projektionsfläche nicht zuletzt für die Phantasie vieler Komponisten.

An- und aufgeregt durch sie haben sich nicht zuletzt Nikolai Rimski-Korsakow und Maurice Ravel gefühlt. Ihrer beider Scheherazade-Werke stehen heute Abend in unserem Konzertprogramm einander gegenüber.

Wobei Maurice Ravel nicht nur einmal mit der exotischen Frauengestalt geliebäugelt hat. Zunächst arbeitete er Anfang der 1890er-Jahre an einer Oper namens „Olympia“, die er dann zugunsten einer neuen Idee mit dem Titel „Shéhérazade“ wieder fallen ließ. Doch auch von der Oper „Shéhérazade“ wurde lediglich die Ouvertüre bekannt, deren Uraufführung der Komponist persönlich am 27. Mai 1899 in Paris leitete. Vielleicht war es die unentschiedene Reaktion des Publikums, welche Ravel mit Beifall und Pfiffen gleichermaßen überschüttete, die ihn auch dieses Projekt beiseitelegen ließ. Schließlich kam Ravel 1903 auf die orientalische Märchenprinzessin zurück – ohne Zusammenhang mit dem vorangegangenen Opernprojekt und dessen Ouvertüre –, um einen dreiteiligen Orchesterliedzyklus „Shéhérazade“ zu komponieren.

Auslöser diesmal waren Gedichte von Tristan Klingsor. Ravel war seit der Jahrhundertwende mit dem Dichter befreundet, der eigentlich Arthur Justin Léon Leclère (1874-1966) hieß, sich aber einen Künstlernamen zugelegt hatte, der den Helden einer Wagneroper mit dem Bösewicht einer anderen verknüpfte. Die beiden kannten sich aus dem „Apachen-Club“, einem Treffpunkt von Pariser Künstlern. An Klingsors Sammlung „Shéhérazade“ um die vielfältigen Verlockungen des Orients gefiel Ravel vor allem die Bildhaftigkeit der Sprache. Er vertonte den Text Silbe für Silbe und wusste sich mit dem Poeten einig, dass der Rhythmus ein wichtiges Kriterium sowohl der Dichtung als auch der Musik sei. Nach dieser Methode entstand eine oft rezitativisch wirkende Vertonung, wobei die Melodik sich aus der rhythmisierten Prosa Klingsors herausschält. Zugleich erhält das Wort durch die Musik eine Überhöhung, wozu nicht zuletzt Ravels üppige, doch subtile Harmonik und die raffinierte, bisweilen überwältigende Instrumentierung ihren Beitrag leisten. Hatte man die Ouvertüre noch als „unbeholfenes Plagiat der russischen Schule“ beurteilt, so bescheinigte man ihm jetzt Eindringlichkeit, Feinfühligkeit, ja Magie. Wir, das RSB, schließen uns an und verneigen uns vor dem Großmeister Maurice Ravel - knapp eine Woche vor seinem 150. Geburtstag am 7. März.

Nichtsdestotrotz herrschen in den drei Vertonungen die für Ravel typische kühle Distanz - die erst recht unmittelbare Betroffenheit auslösen kann - und eine unaufdringliche ästhetische Geschliffenheit. „Asie“, das erste und längste der Gedichte, beschwört ein rauschhaftes Bild der orientalischen Welt, durchaus im Gegensatz zum Text, der immerhin 14 Mal die Formel „Je voudrais“ wiederholt. Vor dem inneren Ohr entsteht eine Vision Asiens aus der Phantasiewelt von Bilderbüchern und Märchen, voller Geheimnisse, Gewalt, Schönheit, Erotik, mit einer Vielzahl von zauberhaften Szenen aus Syrien, Persien, Indien und China, gleichsam von einem fliegenden Teppich aus gesehen.

Das zweite Lied, „La Flûte enchantée“ (Die verzauberte Flöte), beginnt mit den Klängen dieses Instruments. Die Sängerin lauscht ihm aus dem Inneren eines Hauses. Hier muss sie dem schlafenden Gebieter dienen, während draußen ihr Geliebter auf der Flöte spielt. Bemerkenswert ist die kontinuierliche Abnahme der Intensität der Musik, vom Rausch in „Asie“ bis zum Absinken in „La Flûte enchantée“. Im letzten Lied, „L‘Indifférent“ (Der Gleichgültige), flaniert ein junger Mann mit ambivalentem Charme auf der Straße. Wiederum aus einem Haus heraus beobachtet ihn die Sängerin. Schließlich erliegt sie der Verlockung und möchte ihn hereinbitten. Doch der Mann verneint mit einer anmutigen Geste und geht vorüber.

Die heute übliche (und gedruckte) Reihenfolge entspricht wohl nicht jener, die Ravel bei der Uraufführung im Mai 1904 in Paris singen ließ: „La Flûte enchantée“, „L‘Indifférent“, „Asie“. Die Solistin der Uraufführung und Widmungsträgerin von „Asie“, Jane Bathori, berichtete später: „Ich war sozusagen bestimmt, Ravels Lieder uraufzuführen, sei es, weil er mich dafür auserwählte, sei es, weil im letzten Moment die Umstände ihn genötigt hatten, mich zu holen. Ich meine die Uraufführung von ‚Shéhérazade‘, die ich um 3 Uhr aus dem Manuskript ablas, um sie um 5 Uhr in einem … Konzert zu singen.“

Gesangstexte französisch

Maurice Ravel
„Shéhérazade“ – Trois Poèmes
Text von Tristan Klingsor

Asie

Asie, Asie. Asie
Vieux pays merveilleux des contes de nourrice
Où dort la fantaisie comme une impératrice
En sa forêt emplie de mystère.

Asie,
Je voudrais m’en aller avec la goëlette
Qui se berce ce soir dans le port,
Mystérieuse et solitaire,
Et qui déploie enfin ses voiles violettes
Comme un immense oiseau de nuit dans le ciel d’or.

Je voudrais m’en aller vers des îles de fleurs
En écoutant chanter la mer perverse
Sur un vieux rythme ensorceleur.
Je voudrais voir Damas et les villes de Perse
Avec les minarets légers dans l’air.

Je voudrais voir de beaux turbans de soie
Sur des visages noirs aux dents claires;
Je voudrais voir des yeux sombres d’amour
Et des prunelles brillantes de joie
Et des paux jaunes comme des oranges;
Je voudrais voir des vêtements de velours
Et des habits à longues franges.

Je voudrais voir des calumets entre des bouches
Tout entourées de barbe blanche;
Je voudrais voir d’âpres marchands
aux regards louches,
Et des cadis, et des vizirs
Qui du seul mouvement de leur doigt qui se penche
Accordent vie ou mort au gré de leur désir.

Je voudrais voir la Perse, et l’Inde, et puis la Chine,
Les mandarins ventrus sous les ombrelles,
Et les princesses aux mains fines,
Et les lettrés qui se querrellent
Sur la poésie et sur la beauté;

Je voudrais m’attarder au palais enchanté
Et comme un voyageur étranger
Contemple à loisir des paysages peints
Sur des étoffes en des cadres de sapin
Avec un personnage au milieu d’un verger;
Je voudrais voir des assassins souriants
Du bourreau qui coupe un cou d’innocent
Avec son grand sabre courbé d’Orient.

Je voudrais voir des pauvres et des reines;
Je voudrais voir des roses et du sang;
Je voudrais voir mourir d’amour ou bien de haine.
Et puis m’en revenir plus tard
Narrer mon aventure aux curieux de rêves
En élevant comme Sinbad ma vieille tasse arabe
De temps en temps jusqu’à mes lèvres
Pour interrompre le conte avec art...

La Flûte enchantée

L’ombre est douce et mon ma maître dort,
Coiffé d’un bonnet conique de soie
Et son long nez jaune en sa barbe blanche.
Mais moi, je suis éveillée encor
Et j’écoute au dehors
Une chanson de flûte où s’épanche
Tour à tour la tristesse ou la joie.
Un air tour à tour langoureux ou frivole
Que mon amoureux chéri joue,
Et quand je m’approche de la croisée
Il me semble que chaque note s’envole
De la flûte vers ma joue
Comme un mystérieux baiser.

L’Indifférent

Tes yeux sont doux comme ceux d’une fille,
Jeune étranger,
Et la courbe fine
De ton beau visage de duvet ombragé
Est plus séduisante encor de ligne.
Ta lèvre chante sur le pas de ma porte
Une langue inconnue et charmante
Comme une musique fausse .. .
Entre!
Et que mon vin te réconforte ...
Mais non, tu passes
Et de mon seuil je te vois t’éloigner
Me faisant un dernier geste avec grâce
Et la hanche légèrement ployée
Par ta démarche féminine et lasse...

MAURICE RAVEL
Scheherazade
Drei Gedichte von Tristan Klingsor

Asien

Wunschtraum Asien – altes wunderbares Land der Märchen -
Dort schlummert die Phantasie in Wäldern voll Mysterien.
Ich möchte mit der Barke heute abend fortfahren, die im Hafen
schaukelt – geheimnisvoll und einsam -,
die dann ihre violetten Segel entfaltet wie ein großer Nachtvogel,
der in den goldenen Himmel fliegt.

Ich möchte zu den Blumeninseln ziehen und das wilde Meer rauschen hören,
das in altem behexendem Rhythmus singt.
Ich möchte Damaskus und die Perserstädte wiedersehen,
deren Minarette zart emporragen.

Ich möchte die schönen seidenen Turbane sehen
über schwarzen Gesichtern, in denen die Zähne hell leuchten.
Ich möchte ferner liebesdunkle Augen sehen
und vor Freude blitzende Augäpfel in Gesichtern gelb wie Orangen.

Ich möchte Kleider aus Samt sehen und Anzüge mit Fransen.
Ich möchte die langen Pfeifen sehen zwischen Lippen von weißem Bart umgeben,
Ich möchte die gierigen Händler sehen, mit ihren scheelen Blicken,
auch Kadis und Großwesire, die mit einem Fingerneigen
bestimmen über Leben und Tod, nach ihrer Willkür.

Ich möchte Persien, Indien und China sehen
und ihre dickbäuchigen Mandarine unter Sonnenschirmen sitzend,
und die Prinzen mit schlanken Händen, und die Gelehrten,
die sich über Dichtung und Schönheit streiten.

Ich möchte in dem bezaubernden Palast weilen
und – wie ein fremder Reisender – in Muße
die Landschaften betrachten – auf Stoffe gemalt und in Edelholz gerahmt –
manchmal einen Gärtner in einem Obstgarten darstellend.

Ich möchte Mörder sehen, die über den Henker lächeln,
der den Hals eines Unschuldigen abschneidet
mit seinem großen krummen orientalischen Säbel.
Ich möchte Bettler sehen und Königinnen.

Ich möchte Rosen sehen und Blut.
Ich möchte Leute aus Liebe oder aus Haß sterben sehen.
Und dann möchte ich später wiederkommen
und meine Abenteuer den auf Träume Neugierigen erzählen.
Indem ich wie Sindbad meine alte arabische Tasse
von Zeit zu Zeit an meine Lippen hebe,
um die Erzählung kunstvoll zu unterbrechen.

Die verzauberte Flöte

Die Schatten sind weich, und mein Gebieter schläft,
eine kegelförmige seidene Mütze auf dem Kopfe,
und seine lange gelbe Nase ragt in seinen weißen Bart.
Aber ich – ich bin noch wach und höre draußen
ein Flötenlied erklingen, in dem sich Traurigkeit und Freude,
Schwermut und Leichtfertigkeit abwechseln.
Mein Geliebter spielt es, und wenn ich mich dem Fenster nähere,
scheint es mir, als ob jeder Ton, der aus seiner Flöte kommt,
an meine Wange fliegt wie ein geheimnisvoller Kuß.

Der Gleichgültige

Deine Augen sind wie die eines Mädchens, junger Fremder,
Die feine Rundung Deines schönen Gesichts ist beschattet von Flaum,
und dieses ist noch verführerischer als die Linie.
Deine Lippen singen eine unbekannte und charmante Sprache
auf der Schwelle meiner Tür – gleich wie eine ungewohnte Musik ...
Tritt ein! Möge mein Wein Dich stärken!
Aber nein! Du gehst an meiner Schwelle vorbei.
Ich sehe, daß Du Dich entfernst,
indem Du mir noch einmal mit Grazie zuwinkst
und die Hüfte leicht beugst
durch Deinen lässigen und weiblichen Gang.

Nikolai Rimski-Korsakow

„Scheherazade“ – Sinfonische Suite op. 35

Musik wie im Märchen

Um es vorweg zu sagen: Die Doppelmoral der Rahmenhandlung thematisiert Nikolai Rimski-Korsakow nicht: Ein Sultan wird in seiner frauenverschlingenden Mordlust ausgebremst durch die (ihr eigenes Leben rettende) Raffinesse einer betörenden orientalischen Prinzessin. Für die Verschonung Scheherazades, für eine nicht begangene Tat also, lässt sich der weise und großmütige Sultan gründlich feiern. Derselbe Sultan hatte zuvor Frauen dutzendweise in seinem Harem eingesperrt und es für selbstverständlich genommen, allnächtlich eine andere zu „beglücken“. Vielleicht hatten einige der gefangenen Frauen wegen Überlastung des Sultans oder aus anderen Gründen gelegentlich Trost in fremden Armen gesucht. Also ließ der Sultan sie rein vorbeugend, um der hypothetischen, künftigen Untreue seiner Liebessklavinnen zuvorzukommen, der Reihe nach ermorden. Scheherazade entging diesem Schicksal, indem sie den Pascha länger als eine Nacht zu fesseln vermochte – durch ihre Kunst, spannend zu erzählen. Märchen können Leben retten, so wahr sie auch sein mögen.

Segeln mit Sindbad

Den zwei Generationen nach Beethoven geborenen Russen Nikolai Rimski Korsakow bedrängte das Problem der Programmmusik wie alle Komponisten des 19. Jahrhunderts. Inzwischen hatten Berlioz und die „Neudeutschen“ um Liszt die Gattung der Sinfonischen Dichtung kreiert, hingegen Schumann und vor allem Brahms an der Reinhaltung der Sinfonie als Gattung gearbeitet. Der Kampf um den Vorrang entweder der absoluten oder der abbildenden Musik tobte in Europa. Rimski-Korsakow, glücklicherweise nicht nur territorial ziemlich weit entfernt von diesem fruchtlosen theoretischen Streit, legte mit dem Titel „Scheherazade“ für seine Sinfonische Suite op. 35 das Sujet fest, verzichtete aber auf die ursprünglich jedem einzelnen Satz zugeordneten Überschriften. Dennoch bekannte er sich weiterhin dazu, „einzelne, nicht untereinander verbundene Episoden und Bilder aus ‘Tausend und einer Nacht’“ im Sinn gehabt zu haben, „das Meer und Sindbads Schiff, die phantastische Erzählung des Prinzen Kalender, den Prinzen und die Prinzessin, das Fest in Bagdad, das an den Felsen mit dem ehernen Reiter zerschellende Schiff“. Unbeirrt arbeitete er im Sommer 1888 am Tscheremenez-See bei Luga die Ouvertüre „Russische Ostern“ und die „Scheherazade“-Suite aus. Der Komponist unterließ es, reine Tonmalerei zu betreiben, vielmehr entwarf er ein Werk allgemeinerer Aussage: die Läuterung eines hartherzigen Herrschers durch menschliche Zuwendung (auch wenn dies eine aus der Not geborene, zum Schutz des eigenen Lebens erzwungene Zuwendung war).

Geburt eines Ohrwurmes

Man meint, die beschwörende Erzählkunst der orientalischen Prinzessin Scheherazade habe den Komponisten selbst zum Erzählen beflügelt, seine orchestrale Klangphantasie geweckt. Dies mag das Geheimnis sein, warum Rimski-Korsakows „Scheherazade“ noch heute die Augen der Konzertfreunde regelmäßig zum Leuchten bringt.

Beide Porträt-Themen, Scheherazades kapriziöse Violinarabeske und das männlich-wuchtige Unisono-Motiv des Sultans wollen einem den ganzen Abend nicht mehr aus dem Kopf. Rimski-Korsakow wehrte sich gegen ihre Qualifizierung als Leitmotive im Wagnerschen Sinne, weil sie im Erzählfluss der Komposition immer neue Verwandlungen erfahren und unterschiedliche Charaktere annehmen. „Auf der Grundlage einer völlig freien Behandlung des musikalischen Materials wollte ich eine viersätzige Orchestersuite schaffen, die einerseits durch Themen und Motive innerlich geschlossen ist, andererseits gewissermaßen eine kaleidoskopische Folge von Märchenbildern orientalischen Charakters bietet ... Das Programm, dem ich dabei folgte, bestand aus einzelnen unzusammenhängenden Motiven und Bildern aus Tausendundeiner Nacht, die in allen vier Sätzen meiner Suite zu finden sind ... Den verbindenden Faden bilden kurze Vorspiele zum ersten, zweiten und vierten Satz sowie das Intermezzo im dritten Satz, die für Solovioline geschrieben sind und Scheherazade selbst darstellen, wie sie dem strengen Sultan ihre wunderbaren Geschichten erzählt.“

Ursprünglich hatte Rimski-Korsakow den vier Sätzen programmatische Titel vorangestellt: 1. „Das Meer und Sindbads Schiff“, 2. „Die Geschichte des Prinzen Kalender“, 3. „Der junge Prinz und die junge Prinzessin“, 4. „Das Fest in Bagdad – Das Meer – Das Schiff zerschellt am Magnetberg – Finale“. Er entschied jedoch, die Satztitel aus der Druckfassung der Partitur wieder zu entfernen. „Meine Abneigung gegen alles, was nach einem Programm aussehen könnte, führte mich bei der Neuausgabe dazu, alle Andeutungen auszumerzen, die in den Überschriften gelegen hätten. Bei der Komposition hatte ich solche Andeutungen eher im Auge, um die Fantasie des Hörers auf den Weg zu lenken, den meine eigene Fantasie gegangen war, und um detailliertere Ideen der individuellen Stimmung zu überlassen.“ Wenige Jahre später bildete gerade das exotische Kolorit und das Fantastisch-Freie in der Musik von Rimski-Korsakow die Brücke für das ungeheuere Interesse der Fin-de-Siècle-Metropole Paris an allem Russischen und sogar – wegen „Scheherazade“ – am Orient. Wenn doch das Motiv einer heutigen Beschäftigung mit Bagdad und dem Irak ein ähnlich freudiges sein könnte!

Steffen Georgi

Kurzbiographien

Vasily Petrenko

Seit der Saison 2021/22 ist Vasily Petrenko Musikdirektor des Royal Philharmonic Orchestra. Nach seiner vielbeachteten fünfzehnjährigen Amtszeit als Chefdirigent des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra (2006-2021) wurde er zum Ehrendirigenten des Orchesters ernannt und ist weiterhin, seit 2015, Chefdirigent des European Union Youth Orchestra. Von 2013 bis 2020 war er Chefdirigent des Oslo Philharmonic Orchestra, von 2009 bis 2013 Chefdirigent des National Youth Orchestra of Great Britain und Erster Gastdirigent des Mikhailovsky Theaters in St. Petersburg von 1994 bis 1997, wo er seine Karriere als Resident Conductor begann.

Vasily Petrenko begann seine musikalische Ausbildung an der St. Petersburger Capella Boys Music School – der ältesten Musikschule Russlands. Anschließend studierte er am St. Petersburger Konservatorium, wo er Meisterkurse bei Koryphäen wie Ilya Musin, Mariss Jansons und Yuri Temirkanov absolvierte.

Er arbeitet mit weltweit renommierten Orchestern zusammen, darunter die Berliner Philharmoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Gewandhausorchester Leipzig, das London Symphony Orchestra, das London Philharmonic Orchestra, das Philharmonia Orchestra, die Accademia Nazionale di Santa Cecilia Rom, die St. Petersburger Philharmoniker, das Orchestre National de France, die Tschechische Philharmonie, das NHK Symphony und das Sydney Symphony Orchestra. In Nordamerika hat er das Philadelphia Orchestra, das Los Angeles Philharmonic Orchestra, das Cleveland Orchestra und die Symphonieorchester aus San Francisco, Boston, Chicago, und Montréal geleitet. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin dirigierte er erstmals 2011 und heute zum achten Mal. Er ist beim Edinburgh Festival, Grafenegg Festival und bei den BBC Proms aufgetreten. Mit über dreißig Opern im Repertoire hat Vasily Petrenko auf vielen Opernbühnen dirigiert, u.a. beim Glyndebourne Festival Opera, an der Opéra de Paris, am Opernhaus Zürich, an der Bayerischen Staatsoper und der Metropolitan Opera in New York.

Vasily Petrenko hat sich als Aufnahmekünstler einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Neben einer umfangreichen Diskographie haben seine Sinfoniezyklen von Schostakowitsch, Rachmaninow und Elgar mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra weltweite Anerkennung gefunden. Mit dem Oslo Philharmonic Orchestra hat er Zyklen von Skrjabins Sinfonien und Strauss Tondichtungen sowie ausgewählte Sinfonien von Prokofjew und Mjaskowskij veröffentlicht.

Im September 2017 wurde Vasily Petrenko bei den Gramophone Awards als „Künstler des Jahres“ geehrt, ein Jahrzehnt nach der Auszeichnung als „Young Artist of the Year“ im Oktober 2007. Im Jahr 2010 gewann er den „Male Artist of the Year“ bei den Classical BRIT Awards. Er wurde als zweite Person überhaupt sowohl von der University of Liverpool als auch von der Liverpool Hope University mit der Ehrendoktorwürde (2009) und einem „Honorary Fellowship“ der Liverpool John Moores University (2012) ausgezeichnet. Titel, die seinen immensen Einfluss auf das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra und die Kulturszene der Stadt würdigen.

Véronique Gens

Véronique Gens ist eine der beliebtesten Sopranistinnen Frankreichs und kann auf eine beachtliche Karriere in der Oper, im Konzert, bei Liederabenden und bei Aufnahmen zurückblicken: Sie gilt als eine der besten Interpretinnen von Mozart und des französischen Repertoires.

Zu Véronqiue’s jüngsten und kommenden Opernauftritten gehören: Madame Lidoine Dialogues des Carmélites an der Bayerischen Staatsoper und am Théâtre des Champs-Elysées, die Titelrolle von La Fille de Madame Angot an der Opéra Comique, Giulietta Les Contes d’Hoffmann am La Fenice, Clitemestre Iphigénie en Aulide beim Festival d’Aix-en-Provence und für die griechische Nationaloper, die Titelrolle von Charpentiers Médée mit Les Arts Florissants am Teatro Real in Madrid.

Eine der wichtigsten Rollen ihrer Karriere, die Donna Elvira in der Inszenierung des Don Giovanni von Peter Brook unter der Leitung von Claudio Abbado beim Festival d’Aix-en-Provence, brachte ihr weltweite Anerkennung. Ihr Repertoire umfasst die führenden Mozart-Rollen (Contessa Almaviva, Vitellia, Fiordiligi) und die großen Rollen der lyrischen Tragödie (u. a. Iphigénie en Tauride, Iphigénie en Aulide und Alceste), aber auch Heldinnen einer späteren Epoche, darunter: Alice Ford Falstaff; Eva Die Meistersinger von Nürnberg; Madame Lidoine Dialogues des Carmélites und Hanna Glawari Die Lustige Witwe. Véronique Gens gibt außerdem zahlreiche Konzerte und Liederabende mit einem breit gefächerten Repertoire in der ganzen Welt, insbesondere in Paris, Dresden, Berlin, Peking, Wien, Prag, London, Tanglewood, Stockholm, Moskau, Genf und Edinburgh.

Sie trat auf den bedeutendsten Opernbühnen der Welt auf, darunter die Opéra National de Paris, das Royal Opera House Covent Garden, die Wiener Staatsoper, die Bayerische Staatsoper, La Monnaie in Brüssel, das Liceu in Barcelona, das Teatro Real in Madrid, die Niederländische Nationaloper in Amsterdam sowie die Festivals von Aix-en-Provence, Salzburg und Glyndebourne.

Véronique Gens wurde in den Rang eines Chevalier des französischen Ordens La Légion d’Honneur sowie zum Commandeur des Arts et des Lettres und Officier de l’Ordre national du Mérite befördert.

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Nebel, David
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Drechsel, Franziska
Feltz, Anne
Morgunowa, Anna
Polle, Richard
Ries, Ferdinand
Stangorra, Christa-Maria
Behrens, Susanne
Stoyanovich, Sophia
Bernsdorf, Romina
Leung, Jonathan

Violine 2

Contini, Nadine
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Hetzel de Fonseka, Neela
Manyak, Juliane
Palascino, Enrico
Seidel, Anne-Kathrin
Shalyha, Bohgdan
Cazac, Cristina
Hagiwara, Arisa
Fan, Yu-Chen

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Doubovikov, Alexey
Drop, Jana
Kantas, Dilhan
Markowski, Emilia *
Montes, Carolina
Roske, Martha
Sullivan, Nancy
Labitzke, Kristina

* Zum letzten Mal versieht heute Abend Emilia Markowski ihren Dienst im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Nach 42 Berufsjahren ist es für sie an der Zeit, das Leben danach zu beginnen. Wir danken Emilia für ihre jahrzehntelange Zuverlässigkeit als Mitglied in der Bratschengruppe. Sie hat zum inneren Wachstum ihres Orchesters viel beigetragen, nicht zuletzt durch ihr stets ausgleichendes und freundliches Wesen.

Violoncello

Hornig, Arthur
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Weigle, Andreas
Meiser, Oliwia
Montoux-Mie, Romane
Raudszus, Christian

Kontrabass

Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Ahrens, Iris
Buschmann, Axel
Gazale, Nhassim
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Yeung, Yuen Kiu Marco

icon

Flöte

Bogner, Magdalena
Döbler, Rudolf
Schreiter, Markus

Oboe

Bastian, Gabriele
Grube, Florian
Herzog, Thomas

Klarinette

Link, Oliver
Pfeifer, Peter

Fagott

Seidel, David
Königstedt, Clemens
Shih, Yisol

Horn

Ember, Daniel
Klinkhammer, Ingo
Mentzen, Anne
Stephan, Frank

Trompete

Kupriianov, Roman
Gruppe, Simone
Hofer, Patrik

Posaune

Hölzl, Hannes
Vörös, József
Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud

Schlagzeug

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Biesterfeldt, Jan
Lindner,  Christoph
Schweda,  Tobias

Pauke

Wahlich, Arndt

Celesta

von Radowitz, Florian

Bild- und Videorechte

Portrait Vasily Petrenko © Mark McNulty
Portrait Vasily Petrenko © Peter Meisel
Portrait Véronique Gens © Franck Juery