Digitales Programm

So 30.06. Elim Chan

20:00 Konzerthaus

Carl Maria von Weber

Ouvertüre zur Oper „Der Freischütz“

Max Bruch

Violinkonzert Nr. 1 g-Moll

Pause

Pjotr Tschaikowsky

Sinfonie Nr. 2 c-Moll op. 17
(“Kleinrussische”)

Besetzung

Elim Chan, Dirigentin
María Dueñas, Violine
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Das Konzert wird am 14.07.2024 um 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen.

Konzerteinführung: 19.10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Konzerteinführung von Steffen Georgi

Podcast „Muss es sein?“

Carl Maria von Weber

„Der Freischütz“ – Ouvertüre zur romantischen Oper

Webers „Freischütz“ wurde einst im neuerbauten Schinkelschen Schauspielhaus auf dem Berliner Gendarmenmarkt aus der Taufe gehoben und „mit dem unglaublichsten Enthusiasmus aufgenommen und ... lärmend applaudirt“

Webers Tagebuch

Freischwimmen am Gendarmenmarkt

Am heutigen Abend, bald 40 Jahre nach dem Wiederaufbau des kriegszerstörten Schauspielhauses und seiner stadtplanerisch klugen Umwidmung zum Konzerthaus, möchte die „Freischütz“-Ouvertüre der „Freischütz“-Weltpremiere am 18. Juli 1821 in diesem Haus einmal mehr die Ehre erweisen. Carl Maria von Webers „Freischütz“ wurde einst im neuerbauten Schinkelschen Schauspielhaus auf dem Berliner Gendarmenmarkt aus der Taufe gehoben und „mit dem unglaublichsten Enthusiasmus aufgenommen und ... lärmend applaudirt“ (Webers Tagebuch). Die Oper ist bis heute die meistgespielte von deutscher Produktion. Doch sie wäre kaum unsterblich geworden, wenn sie nur „Ohrwurm-Qualität“ besäße. Weber distanzierte sich seinerzeit ästhetisch von der pompösen Ausstattungsoper italienischer Herkunft – die „Olympia“ seines schärfsten Konkurrenten Spontini war gerade an der Lindenoper herausgekommen. Der Deutsche dagegen sprach mit Sujet und Text, mit Handlung und Musik aus der Seele des jungen Bürgertums seines Vaterlandes, auch wenn sich dieses aus heutiger Sicht peinliche Blößen der Einfalt gab und sein schier unerträgliches Spießertum in den „Freischütz“ hineinträumte. Der deutsche Michel, das Symbol jenes unheilvollen nationalen Wesens, verselbständigte sich rasch zu politischem Eigenleben, so dass Richard Wagner 1841 in einem „Freischütz“-Aufsatz inbrünstig schwafeln konnte über „jenes stille, träumerisch-traute Gemütsleben, welches das Erbteil des deutschen Blutes ist“.

„Das sonst weiche Männel – ich hätt’s ihm nimmermehr zugetraut“

Bewundernde Worte in rauem Ton. Sie passen zum Klischee dessen, der sie gesprochen haben soll: Ludwig van Beethoven. Und sie galten dem Komponisten des „Freischütz“. Denn die musikalischen Werte der Partitur stehen außer Zweifel. Weber gelang ein kühner Wurf, der nicht nur sein eigenes Schaffen bündelte, sondern folgerichtig bei Cherubini und Mehúl, bei Mozart und bei Beethovens „Fidelio“ anknüpfte. So hatte er sich das rüde Kompliment Beethovens redlich verdient. Die Ouvertüre, bereits 1817 begonnen und 1820 mehrmals halböffentlich aufgeführt, bevor sie ihren Platz am Beginn der Oper einnahm, ist das Lehrbeispiel einer Mini-Vorweg-Oper ohne Text. Alle Charaktere, alle Stimmungen leuchten bereits auf, gute und böse Mächte ringen in einem kurzen Sonatenhauptsatz mehr mit- als gegeneinander. Strahlendes C-Dur des vollen Orchesters macht kurzen Prozess mit dem gordisch verknoteten Konfliktstoff: zerhauen statt lösen. Zum Glück für die Oper bleibt noch manche differenzierte Entwicklung dem ausführlichen Geschehen vorbehalten.

Konzertstücke und Konzerte für Klavier, Viola, Violoncello, Flöte, Klarinette, Fagott und Horn mit begleitendem Orchester markieren den Weg des jungen Carl Maria von Weber vom begabten Pianisten und Komponisten hin zum „Erfinder“ der romantischen deutschen Oper. Dabei nehmen die Werke für Klarinette eine Sonderstellung ein. Jene Stelle, an der dieses Instrument die süße Anmut Agathes in der „Freischütz“-Ouvertüre charakterisiert, riss Hector Berlioz in seiner Instrumentationslehre zu bewunderndem Stöhnen hin: „Oh Weber!“

Max Bruch

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 g-Moll op. 26

Wenn er [Hanslick] über mein 1. Violin-Concert, ein Werk, welches seit 18 Jahren Gemeingut aller Geiger der Welt ist, und über der Kritik steht, noch Anno Domini 1884 die unsägliche Dummheit schreibt: „für die temperamentlose Gescheidtheit des Bruch'schen Violinconcertes können wir uns nicht erwärmen“, so kann er mir gestohlen werden. Ich habe diesen verd - - ten Unsinn selbst gelesen! Das Finale des 1. Concertes soll kein Temperament haben - nun, da hört denn doch alles auf!“

Max Bruch, 13. Juni 1885 an Fritz Simrock

Schande dem Scheußlichen!

Als Max Bruch im Jahre 1913 seinen 75. Geburtstag feierte, war Gustav Mahlers sinfonisches Gesamtwerk bereits Geschichte, Igor Strawinsky erhitzte die Gemüter mit „Le Sacre du printemps“, Arnold Schönberg verstörte Wien, Claude Debussy unterwanderte Paris. Max Reger, Hans Pfitzner, Richard Strauss gaben den Ton in der deutschen Musik an – und wurden zu Max Bruchs bestgehassten musikalischen Widersachern. Wenn Giuseppe Verdi einmal über Hector Berlioz sagte, er wäre „ein armer, kranker Mensch“ gewesen, „der gegen alle wütete, heftig und bösartig war. Er konnte sich nicht mäßigen; es fehlte ihm die Ruhe und die Ausgewogenheit, aus der sich erst die vollendeten Kunstwerke ergeben“, so schien er seinen jüngeren deutschen Kollegen Max Bruch noch nicht zu kennen. Der nämlich teilte hemmungslos und pausenlos aus, sein Leben lang, und zwar im Rundumschlag. Er nannte alle seine Zeitgenossen „Kunstverderber“, „Radikale“, „Sudler“ und „Schmierfinken“, die von ihnen komponierten Werke „unerträgliche Produkte“ und die darin vorkommenden Dissonanzen „scheußlich“. Er selbst blieb dem Romantik-Ideal des 19. Jahrhunderts uneingeschränkt treu, nicht ohne noch die harmloseste Begleitfigur etwa der zweiten Violine in seinen Partituren so zu verkomplizieren, als ob er auch den Musikern ihre vermeintliche Bequemlichkeit austreiben und die Hörer zu permanent gespitzten Ohren antreiben wollte. Bruch katapultierte sich auf diese Weise in eine weltferne Isolation: „‘Frithjof’ hat sich nun wirklich 50 Jahre erhalten und wirkt heute noch wie damals. Wo mögen aber die Produkte der Herren Rich. Strauss, Reger & Consorten in 50 Jahren sein?!!“ (Max Bruch, 30. Juni 1914) 

Der Professor von gestern

Die Lebenszeit von Max Bruch wurde begleitet von gewaltigen sozialen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Nur fünf Jahre jünger als Johannes Brahms, starb Bruch 82-jährig im Jahre 1920, zwei Jahre nach dem Niedergang des deutschen Kaiserreiches. Die 1848er-Revolution hatte er noch als Kind erlebt, die Bismarcksche Reichseinigung „durch Blut und Eisen“ 1871 als junger Mann. Nichts von alledem focht seinen Beharrungsinstinkt an. Es finden sich keinerlei Spuren vom ästhetischen Aufbruch um die Jahrhundertwende in seinen Kompositionen, überall herrscht betörender Plüschklang, gefälliges Ebenmaß, konfliktlose Eleganz – ein Hort des Konservierens, leider auch des Konservatismus.

Obwohl der Sohn eines hohen Beamten der Kölner Polizei und einer begabten Sängerin und Musikerin aus dem Bergischen Land bereits vierzehnjährig auf eine Sinfonie und ein Streichquartett verweisen konnte, kam es bei Bruch nie zu einem richtigen Durchbruch. Studiert hatte er bei Ferdinand Hiller und Carl Reinecke, seine ersten musikalischen Sporen verdiente er sich als Dirigent in Liverpool und Breslau. Seit 1891 lebte Max Bruch in Berlin und unterrichtete als Professor für Komposition und Leiter einer Meisterklasse an der Akademie der Künste.

Ich kann dies Concert nicht mehr hören!

Einmal nur gelang ihm ein Geniestreich: 1866 mit dem Violinkonzert Nr. 1. Als die Musikwelt immer wieder darauf zurückkam, von seinen anderen Werken aber kaum Notiz nahm, wütete Bruch auch hier: „Nichts gleicht der Trägheit, Dummheit, Dumpfheit vieler deutscher Geiger. Alle 14 Tage kommt Einer und will mir das 1. Concert vorspielen; ich bin schon grob geworden, und habe ihnen gesagt: Ich kann dies Concert nicht mehr hören, habe ich vielleicht bloß dies eine Concert geschrieben? Gehen Sie hin und spielen Sie endlich einmal die andern Concerte, die ebenso gut, wenn nicht besser sind!“ (Max Bruch an Fritz Simrock, 26. November 1887).

Dessen ungeachtet liebt alle Welt das g-Moll-Konzert, bis heute. Insofern ist es gleichermaßen erhaben über Feinsinniges und Schwachsinniges und was sonst noch darüber geschrieben wurde. Doch widerspiegelt auch die Entstehungsgeschichte des berühmten Konzertes die Problematik des Menschen Bruch, zeigt ihn grob, unsicher, ungerecht, verletzend und verletzt, aber auch sympathisch und aufrichtig.

Als ein mit sich und der Welt von Grund auf unzufriedener Mensch, ersehnte und ersuchte sich Max Bruch von seinen Zeitgenossen beständig Bestätigung, Ermunterung und Zuspruch. Er kämpfte trotzig um einen Status als primus inter pares und biederte sich dabei allzu oft bei den vermeintlich größeren Meistern an. Freilich wehrte er sich zugleich heftig gegen jegliche Bevormundung, ritt stattdessen unverhältnismäßige Attacken gegen wohlmeinende, oft sogar erbetene Ratschläge und schlug damit noch seine ehrlichsten Bewunderer aus dem Felde.

Joachim sei Dank

Eigentlich entstand die Idee, ein Violinkonzert zu komponieren, eher zufällig. Ein Geiger, Johann Naret-Koning, Konzertmeister in Mannheim, sprach ihn 1864 darauf an. Ein Jahr später vertraute Bruch einem damaligen Musikgewaltigen, seinem ehemaligen Lehrer Ferdinand Hiller (1811-1885), in Köln an: „Mein Violin-Concert avanciert langsam: ich fühle mich auf dem Terrain nicht sicher. Finden Sie nicht, daß es eigentlich sehr verwegen ist, ein Violin-Concert zu schreiben?“ Hiller vermittelte ihm eine Dirigentenstelle in Koblenz, kraft derer Bruch am 24. April 1866 erstmals sein Violinkonzert (Solist: Otto von Königslöw) aufführen konnte. Das Ergebnis erzeugte bei dem zwar im Umgang mit Oratorienchören und Orchestereffekten, nicht aber mit einer Solo-Violine erfahrenen Komponisten Max Bruch nichts als Frust.

Im Sommer 1866 sandte er dennoch das Manuskript mit der Bitte um Begutachtung an seinen späteren Wegbereiter in Berlin, den bedeutenden Geiger Joseph Joachim (1831-1907). Joachim nahm die Sache ernst und antworte ausführlich, mit praktischen Änderungsvorschlägen, deren Begründungen und Notenbeispielen. Dankbar akzeptierte Bruch und arbeitete das Konzert tiefgreifend um. Der Öffentlichkeit jedoch wollte er glauben machen, dass der berühmte Joachim sich zwar detailliert mit dem Konzert beschäftigt, er aber – Bruch – keine Veranlassung gehabt habe, seinem Rat zu folgen. Deshalb war er ängstlich darauf bedacht, dass sein Dankesbrief an Joachim, wo er ihm alle Änderungen des Violinkonzertes mitteilte, nicht ans Licht käme. Er verbot dessen beabsichtigte Publikation und schrieb später an Johannes Joachim, den Sohn des Geigers: „Jeder würde bei dem Lesen dieses Briefes sagen: ‘Ei, wie schwer und mühsam ist doch dieses Werk zu Stande gekommen. M.B. wußte doch eigentlich gar nicht, was er wollte, jetzt sieht man erst, wie wenig Initiative und selbständige Kraft dieser Mensch hatte, wahrscheinlich hat er in seinem Leben allein nichts zu Stande gebracht’ (während gerade das Gegentheil der Fall ist!). Diese Auffassung würde allgemein sein, und man würde sie mit grinsender Befriedigung colportiren, um mir zu schaden.“ (17. März 1912)

Noch immer keine Ahnung von der Geige?

Ewig misstrauisch seinem eigenen wie auch fremdem Können gegenüber, bat Bruch einen weiteren namhaften Geiger, den Leipziger Konzertmeister und Mendelssohn-Vertrauten Ferdinand David (1810-1873), um dessen Meinung. Zugleich teilte er dem Dirigenten Hermann Levi (1839-1900) mit: „Mir wird die ganze Sache bald langweilig; ich bin Koning nicht zu Dank verbunden, daß er mich zu einer Arbeit getrieben hat, der ich nicht gewachsen bin. Ich werde übrigens Davids Kritik nur mit großer Vorsicht benutzen. Echt Davidsche Violin-Passagen möchten verflucht schlecht in das Concert hineinpassen.“ Zu allem Überfluss klopfte ihm nun auch noch Levi auf die Schulter: „Schreibe immerhin noch einige Violinkonzerte oder Sonaten; man kann sich nicht genug mit den eigenen Schwächen beschäftigen. ... Was Dir fehlt, zeigt sich in allen Stellen Deiner Gesangswerke, bei denen die musikalische Erfindung nicht unmittelbar aus dem Worte hervorgehen konnte, inallen Vorspielen, Nachspielen, Zwischenspielen, kurz ich möchte sagen, bei allem Unwesentlichen. Von einer schönen Phantasie zu einem schönen Kunstwerk ist noch ein weiter Schritt. Seine Phantasie zügeln, sie in die künstlerische Form bannen – das ist, was den Meister macht. Bedaure nicht, das Violinkonzert geschrieben zu haben; über sein Mißlingen solltest Du Dich nicht durch den Glauben hinwegsetzen, Dich auf fremdem, Deiner ‘Natur’ widerstrebendem Boden bewegt zu haben; cultiviere den Boden, und er wird Dir und uns schöne Früchte bringen.“

Kurzum, das Violinkonzert Nr. 1, von Joseph Joachim am 5. Januar 1868 in Bremen, anschließend in Hannover, Aachen, Brüssel, Kopenhagen und Köln mit großem Erfolg aufgeführt, verhalf Max Bruch zu internationalem Ruhm. Zahlreiche bedeutende Geiger nahmen das nicht übermäßig komplizierte und umso dankbarere Werk in ihr Repertoire auf. Und Johannes Brahms hatte wohl um die Umstände von Bruchs Violinkonzert gewusst, als er sich zwölf Jahre nach Max Bruch an Joseph Joachim wandte, ihm bei der geigerischen Ausarbeitung seines Violinkonzertes behilflich zu sein.

Im Schatten des eigenen Ruhmes

Maria Duenas © Tam Lan Truong Maria Duenas © Pablo Rodriguez OSG

Heute steht das g-Moll-Violinkonzert fast ausschließlich als Markenzeichen für den Namen Max Bruch. Weitere drei Violinkonzerte, die Schottische Fantasie und das Konzertstück op. 84 huldigen ebenfalls dem höchsten Streichinstrument, ohne dass diese Werke jemals die Popularität des ersten Violinkonzertes erreicht hätten.

Das gilt auch für die zahlreichen Oratorien des einstigen Oratorienmeisters („Moses“; „Odysseus“; „Arminius“; „Gustav Adolf“; „Das Feuerkreuz“; „Heldenfeier“ u.a.), die Kantaten („Frithjof“; „Normannenzug“; „Römische Leichenfeier“; „Das Lied vom deutschen Kaiser“), die Opern („Scherz, List und Rache“ op. 1; „Loreley“; „Hermione“), die Chöre, die Sinfonien und weitere Solokonzerte.

Zur Tragik Bruchs haben auch Vorgänge um den Verbleib der Originalhandschrift des Konzertes beigetragen: Verarmt, isoliert und verbittert ersucht er 1920, sechs Monate vor seinem Tod, die Schwestern Ottilie und Rose Sutro, das Manuskript in den USA zu verkaufen und ihm das dringend benötigte Geld zu schicken. Stattdessen werden nach seinem Tod die Erben von Max Bruch mit wertloser deutscher Inflationswährung abgefunden und über den Verbleib der Partitur im Unklaren gelassen. Erst 1968 taucht sie wieder auf und befindet sich heute in der Pierpont Library in New York.

Pjotr Tschaikowsky

Sinfonie Nr. 2

Flieg, mein Kranich, flieg

Wenn unter dem grandiosen Eindruck, den das b-Moll-Klavierkonzert oder das Streichquartett op. 11 bis heute bei den Zuhörern hervorrufen, die späteren Klavierkonzerte und Streichquartette von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky ziemlich blass dastehen, so gilt bei den Sinfonien der umgekehrte Fall. Neben den Sinfonien Nr. 6, 5 und 4 scheint man mitunter zu vergessen, dass auch Tschaikowsky zunächst Nr. 1, 2 und 3 schreiben musste, bevor er an die ungleich berühmteren „Nummern“ gelangte. Dabei lässt sich noch weiter differenzieren: Während die dritte Sinfonie D-Dur op. 29 (1875) kaum den Fachleuten bekannt ist, kann man die zweite in c-Moll op. 17 (die sogenannte „Kleinrussische“, 1872) gelegentlich im Konzert hören. Die erste in g-Moll op. 13 (1866) wird inzwischen wieder recht häufig aufgeführt.

Die ersten drei Sinfonien waren Schmerzenskinder Tschaikowskys, auch wenn etwa die sechste wesentlich eher danach klingt. Dies versteht man besser, wenn man einige biographische Hintergründe des jungen Komponisten kennt. Geboren in Russland, einem Land, das im 19. Jahrhundert so riesig an Ausdehnung wie arm an einer eigenen Musikkultur war, blieben einem Musiker nur zwei Möglichkeiten: Entweder er wanderte ab ins Ausland, um sich ausbilden zu lassen, oder er widmete sich der in Herrschaftskreisen geringgeschätzten Folklore. In jedem Fall war er gut beraten, neben der Musik einen „ordentlichen“ Beruf auszuüben, wenn er nicht verhungern wollte. So traf auch auf Tschaikowsky zu, was für seine vermeintlichen Antipoden galt, die fünf Komponisten des „Mächtigen Häufleins“: Sie waren Beamte, Naturwissenschaftler oder Militärs und komponierten in ihrer Freizeit.

Landluft inspiriert

Pjotr Tschaikowsky, ein ausgebildeter Jurist, litt stark unter diesem Zwang. Er entschloss sich 1863 zu einem Musikstudium in Moskau bei Anton und Nikolai Rubinstein. Das brachte ihm neben einer regulären Ausbildung und einer persönlichen Bindung an die berühmten Brüder Rubinstein bereits drei Jahre später eine Berufung zum Professor für Komposition an das eben gegründete erste russische Konservatorium ein. Seit 1866 war Tschaikowsky also Akademiker – so jedenfalls suchten ihn die dilettierenden Kollegen zu verunglimpfen und zu isolieren.

Dabei unterschieden sich gerade die frühen Werke Tschaikowskys stilistisch kaum von denen Borodins oder Rimski-Korsakows.

Erst die späteren, heute weltberühmten Sinfonien orientierten sich stärker am westeuropäischen Geschmack. Die Sinfonie Nr. 2 c-Moll op. 17 komponierte Tschaikowsky im Sommer und Herbst des Jahres 1872. Er verbrachte häufig die Sommer als Gast auf dem Gut seiner geliebten Schwester Alexandra in Kamenka (ukrainisch Kamjanka) in der Nähe von Kiew. Hier atmete er auf, lebte in der Natur und genoss die Anregungen, die ihm die reiche ukrainische Folklore bot. So verwundert es nicht, dass gleich mehrere Volkslieder Eingang in die Sinfonie fanden, die nach ihrer Uraufführung am 26. Januar 1873 als „nationale Errungenschaft“ gefeiert wurde. Gerade weil die Sinfonie sowohl von der Öffentlichkeit als auch von Tschaikowsky selbst für gültig befunden worden war, unterzog sie der Komponist 1879 einer umfangreichen Revision. Er nahm Veränderungen im 1. Satz und im Scherzo vor; außerdem kürzte er das Finale. In dieser – heute zumeist gespielten – zweiten Fassung erklang die Sinfonie Nr. 2 zum ersten Mal am 31. Januar 1881 in Sankt Petersburg.

Kleinrussisch oder ukrainisch?

Ihre tiefe Verwurzelung im Volksliedgut brachte ihr die Bezeichnungen „Der Kranich“ oder „Die Kleinrussische“ ein. Während der erste Name – von Tschaikowsky scherzhaft selbst verwendet – verschweigt, dass noch mehrere andere, durchaus prominentere Lieder angestimmt werden, berührt der zweite unfreiwillig ein heutzutage hochpolitisches Thema.

Der Begriff Kleinrussland oder Kleine Rus (russisch Малороссия, Малая Русь; ukrainisch Мала Русь) bezeichnete ursprünglich den nördlichen Teil der heutigen Ukraine. Der historische Name geht auf die mittelalterliche byzantinische Terminologie zurück (Μικρὰ Ῥωσία), welche zwischen kleiner Rus und großer Rus unterschied. Diese Unterteilung hatte zu Beginn keinen negativen Beigeschmack. Kleinrussland umfasste im 17. Jahrhundert die ostslawischen Gebiete des Königreiches Polen-Litauen und diente im Russischen Zarenreich als Bezeichnung für die ukrainische Provinz. Im späten 19. Jahrhundert setzte sich die ukrainische Nationalbewegung im Russischen Reich für den Begriff Ukraine als Landesnamen ein, der zuvor zwar verwendet wurde, aber noch keinen ethnischen Bezug hatte. Die endgültige Abschaffung des Begriffes Kleinrussland zugunsten der Bezeichnung Ukraine geht auf die Bolschewiki zurück, die das vermeintlich chauvinistische Wort per Dekret abschafften. Der Russe Tschaikowsky widmete sich voller Hochachtung der ukrainischen Folklore. Heute würde seine Sinfonie vermutlich „Die Ukrainische“ heißen.

Slawisches Feuerwerk

Der erste Satz wird nach einem Orchesterblitz eröffnet von einem getragenen Lied, gesungen vom Solohorn, übernommen vom Fagott und durch die Holzbläser gereicht, bis es wieder beim Horn angekommen ist.

Dabei handelt es sich um das bekannte ukrainische Volkslied „Внизъ пo матушкѣ пo Волгѣ“ (Drunten bei der Mutter Wolga). Ein eifriges Fugato bereitet den Allegro-vivo-Teil des Satzes vor. Dort umspielen sich ein rhythmisch-energisches und ein gesanglich-schwärmerisches Thema. Dann verbinden sich beide mit dem Wolgalied, um es auf dem Höhepunkt in pathetischer Verbreiterung auf den Schild zu heben. Noch einmal erklingt das Hornsolo des Anfangs.

Schon die Überschrift des zweiten, eigentlich langsamen, Satzes erscheint reichlich unernst: Andante marziale, quasi moderato. Etwas Martialisches wohnt dem gutmütig schlendernden Marsch wirklich nicht inne, für den Tschaikowsky den Hochzeitszug aus seiner Oper „Undine“ in die Sinfonie gerettet hat, nachdem die Oper seiner Selbstkritik zum Opfer gefallen war. Wie auf Zehenspitzen lässt der Ballettmeister Tschaikowsky die Protagonisten marschieren, um im Mittelteil ein weiteres anmutiges Lied zu zitieren: „Spinn, meine Spinnerin“. Behutsam, „dolce“, umgarnen sich Flöte und Oboe über dezenten Streicherpizzikati. Der marschierende Zug entfernt sich allmählich, verschwindet hinterm Horizont.

Mit deftigem Galopp hebt das Scherzo an, der dritte Satz. Der trochäische Hexenritt, immer wieder angetrieben von jäh aufschießenden Flötenraketen, lässt sich von listigen synkopischen Stolperfallen nicht aufhalten.

Das dagegen aufreizend schnurgerade Trio tändelt mit einem ukrainischen Scherzlied im 2/8-Takt. Danach treten wir, inzwischen majestätisch gewandet, wie durch Mussorgkis „Großes Tor von Kiew“ ins Finale ein. Das aber entpuppt sich als fröhlich schnurrendes Perpetuum mobile. Tschaikowsky schafft im Allegro vivo auf der Basis des populären ukrainischen Volksliedes „Der Kranich“ eine Verbindung zwischen dem Typus eines fulminanten Haydn-Sinfoniefinales und einer spritzigen Mendelssohn-Paraphrase, die über seine eigene Kunst eine souveräne Brücke baut bis hin zu Prokofjews späterem, elegantem Neoklassizismus. Gelegentlichen brutalen Bremsmanövern neidischer Gegenkräfte wird lustvoll ausgewichen, heiter winken die Themen der vorangegangenen Sätze dem furios dahinstürmenden slawischen Tanzreigen, bevor es mit lachenden Gesichtern in die strahlende C-Dur-Zielgerade geht.

Kurzbiographien/ Abendbesetzung

Elim Chan

„Kopf, Herz und Körper müssen beim Dirigieren zur Einheit finden“, ist Elim Chan überzeugt. „Es kommt darauf an, Musik mit den Händen auszudrücken und dabei eine starke eigene Sprache zu entwickeln.“ Die präzise Gestik der jungen Künstlerin in Kombination mit der natürlichen Plastizität ihrer Gestaltung findet sowohl in Nordamerika als auch in Europa große Anerkennung. Keine andere Dirigentin ihrer Generation ist derart gefragt bei den Top-Orchestern beider Kontinente und trifft dabei durchweg auf vergleichbar hochkarätige Solistinnen und Solisten. Dabei verfügt die 1986 in Hong Kong geborene Künstlerin über ein denkbar breit gefächertes Repertoire der sinfonischen Literatur von der Klassik bis zur Gegenwart. Keine andere Dirigentin ihrer Generation ist derart gefragt bei den Top-Orchestern beider Kontinente und trifft dabei durchweg auf vergleichbar hochkarätige Solistinnen und Solisten. Dabei verfügt die 1986 in Hong Kong geborene Künstlerin über ein denkbar breit gefächertes Repertoire der sinfonischen Literatur von der Klassik bis zur Gegenwart.
Elim Chan ist seit 2019 Chefdirigentin des Antwerp Symphony Orchestra und seit 2018 feste Gastdirigentin des Royal Scottish National Orchestra.

María Dueñas

Maria Duenas © Tam Lan Truong

Die spanische Geigerin María Dueñas verzaubert ihr Publikum mit der atemberaubenden Vielfalt an Farben, die sie ihrem Instrument entlockt. Ihr technisches Können, ihre künstlerische Reife und ihre kühnen Interpretationen bilden die Inspiration für begeisterte Kritiken, ziehen Wettbewerbsjurys in ihren Bann und bringen ihr Einladungen zu Auftritten mit vielen der weltbesten Orchester und Dirigenten der Welt ein. María Dueñas‘ Liebe zur klassischen Musik wurde durch die Aufnahmen, die ihre Eltern regelmäßig zu Hause hörten, sowie Konzertbesuche in ihrer Heimatstadt geweckt. Geboren 2002 in Granada, begann sie als Sechsjährige mit dem Geigenspiel, bereits ein Jahr später wurde sie am Konservatorium in Granada aufgenommen. 2014 gewann sie ein von Juventudes Musicales de Madrid gestiftetes Auslandsstipendium sowie das Wardwell-Stipendium der Humboldt-Stiftung und zog zunächst nach Dresden, um an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber zu studieren. Dort wurde sie schon bald vom Dirigenten Marek Janowski entdeckt, auf dessen Einladung hin sie später ihr Debüt als Solistin beim San Francisco Symphony Orchestra gab. Seit 2016 studiert sie bei dem renommierten Geigenpädagogen Boris Kuschnir an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Zu Höhepunkten der Saison 2023/2024 zählen darüber hinaus eine Tournee mit der Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi, Konzerte mit der Dresdner Philharmonie unter Kent Nagano und ihre Debuts beim Swedish Radio Symphony Orchestra unter Daniel Harding, den Münchner Philharmonikern (erneut mit Manfred Honeck), der Accademia di Santa Cecilia in Rom, dem Orchestre philharmonique de Radio France unter Mikko Franck sowie den Bamberger Symphonikern unter Christoph Eschenbach. Sie spielt die Stradivari Camposelice von 1710, eine großzügige Leihgabe der Nippon Music Foundation.

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Wolters, Rainer
Ofer, Erez
Nebel, David
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Bondas, Marina
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Kynast, Karin
Pflüger, Maria
Yamada, Misa
Oleseiuk, Oleksandr
Scilla, Giulia
Cazac, Christina
Sieradzki, Kinneret

Violine 2

Kurochkin, Oleh
Simon, Maximilian
Seidel, Anne-Kathrin
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Manyak, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Kanayama, Ellie
Shalyha, Bohdan
Khatchatryan, Davit
Rönnebeck, Luisa
Wehmschulte, Felicitas
Marquard, David

Viola

Rinecker, Lydia
Adrion, Gernot
Zolotova, Elizaveta
Markowski, Emilia
Drop, Jana
Inoue, Yugo
Yoo, Hyelim
Kantas, Dilhan
Roske, Martha
Labitzke, Kristina
Zappa, Francesca
Loginov, Anton

Violoncello

Eschenburg, Hans Jakob
Riemke, Ringela
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Fijiwara, Hideaki
Deligiannaki, Anastasía

Kontrabass

Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Moon, Junha
Lee, Okhee

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Flöte

Bogner, Magdalena
Schreiter, Markus
Dallmann, Franziska

Oboe

Grube, Florian
Danan, Emmanuel

Klarinette

Link, Oliver
Korn, Christoph

Fagott

Kofler, Miriam
Königstedt, Clemens

Horn

Kühner, Martin
Holjewilken, Uwe
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Dörpholz, Florian
Gruppe, Simone

Posaune

Manyak, Edgar
Vörös, József
Veres, Vladimir

Tuba

Neckermann, Fabian

Schlagzeug

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin

Pauke

Wahlich, Arndt

Kooperation

Bildrechte

Portrait Elim Chan ©Simon Pauly
Bild Orchester © Peter Meisel
Portrait María Dueñas © Tam Lan Truong
Bild Konzerthaus © Stefan Maria Rother
Bilder Orchesterprobe © Josina Herrmann
Bild Maria Duenas © Tam Lan Truong
Bild Maria Duenas © Pablo Rodriguez OSG
https://www.youtube.com/watch?v=qhypHbuK8bU