Di 10.12. David Afkham

20:00 Konzerthaus

Béla Bartók

Konzert für Violine und Orchester Nr. 2

Pause

Franz Schmidt

Sinfonie Nr. 4 C-Dur

Besetzung

David Afkham, Dirigent

Christian Tetzlaff, Violinist

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

19.10 Uhr, Ludwig-van-Beethoven-Saal, Einführung von Steffen Georgi

Konzert mit Deutschlandfunk Kultur, Übertragung am 17. Dezember 2024, 20.03 Uhr.

Podcast "Muss es sein?"

Béla Bartók

Konzert für Violine und Orchester Nr. 2

Violinkonzerte 1939

Die Welt vor 85 Jahren: am Rande des verheerenden Krieges. Komponisten völlig unterschiedlicher Herkunft, William Walton, Samuel Barber, Béla Bartók, schreiben in diesen Jahren Violinkonzerte. Und sie sind wahrlich nicht die einzigen. Die 1930er Jahre brachten einen erstaunlichen Violinkonzertboom hervor, wie er sich seit den 1890er Jahren nicht mehr ereignet hatte. Strawinskys, Brittens, Prokofjews, Hindemiths, Bergs und Hartmanns kamen in spezifischen Konzertreihen des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin während der letzten Jahre bereits zum Klingen. Nun ist die Gelegenheit, dem Ungarn Bartók zuzuhören, wie er die traditionsreiche Gattung erfüllt, aber auch ob und wie er seine Gegenwart, seine unmittelbare geschichtliche und persönliche Situation reflektiert.

Schmerzhafte Erfahrungen

„Man müsste weg von hier, weg aus der Nachbarschaft jenes verpesteten Landes, weit weg...“ Lange sollte es nicht mehr dauern, dann wurde aus dieser Erwägung Béla Bartóks die unausweichliche Notwendigkeit: 1940 emigrierte er mit seiner Frau in die USA. Als eines der letzten Werke in Ungarn entstand 1937/1938 das Violinkonzert, das 1959 mit dem Zusatz Nr. 2 versehen werden musste, weil nach dem Tode des Komponisten ein unveröffentlichtes Violinkonzert aus dem Jahre 1907 aufgetaucht war.

Wie aus keinem anderen Werk Bartóks lässt sich aus dem Violinkonzert ein Kapitel dramatischer Zeitgeschichte und persönlicher Biographie zugleich ablesen. An keiner Komposition arbeitete Bartók länger. Bereits am 1. September 1936 informierte er aus den Schweizer Bergen um Braunwald seinen Verleger über fertige Entwürfe zu einem Variationenwerk für Orchester, bat kurz darauf um Partituren von aktuellen Violinkonzerten, die ihm in Gestalt derer von Weill, Szymanowski und Berg auch zugesandt wurden. Erst danach erreichte ihn der Wunsch des befreundeten Geigers Zoltán Székely, ihm doch bitte ein Violinkonzert zu komponieren. Bartók schlug darauf vor, Variationen für Violine und Orchester zu verfassen. Székely jedoch bestand auf einem „ordentlichen“, klassisch-dreisätzigen Werk. Bartók begann im Mai 1937, unterbrach die Arbeit jedoch mehrfach zugunsten anderer Musik und fühlte sich unter dem Eindruck des heraufziehenden Faschismus zunehmend in seiner Schaffenskraft gelähmt. Erst am 31. Dezember 1938 schloss er die Partitur des Violinkonzertes endlich ab, die nun zu einer lyrisch-verklärten Rückschau auf entspanntere Zeiten, zugleich zum Ausdruck der neuen lähmenden Erfahrungen und Verzweiflungen geworden war.

Heimliche Variationen

Die spezielle Kunst Székelys, des ehemaligen Ersten Geigers des Ungarischen Quartetts, der nicht nur über eine hervorragende Spieltechnik, sondern vor allem über einen ungewöhnlich zarten, reinen Ton verfügte, kam den Intentionen Bartóks besonders entgegen. So enthält die Solopartie natürlich bravouröse Passagen, aber auch wunderbar ausgesponnene, lyrische Stellen. Dem nicht übermäßig starken Ton Székelys trug der Komponist sehr sensibel Rechnung, indem er den Orchesterapparat nur in maximal mittlerer Lautstärke und fast nie als Tutti einsetzte. Die Auseinandersetzung mit Székely um Variationenfolge oder klassische Form entschied Bartók mit seinem typischen, verschmitzten Ernst so: Nach der Uraufführung erklärte er Székely, er habe zwar allem Anschein nach ein richtiges Konzert geschrieben, habe sich aber die Freiheit erlaubt, es als Variationenwerk zu gestalten, wie es ihm ursprünglich vorschwebte. Eigentlich nahm sich Bartók nur die „Freiheit“, hergebrachte Strukturen in seine eigene Musiksprache zu verwandeln.

Insofern war er etwa dem Neoklassizisten Strawinsky durchaus vergleichbar. Der damals radikalsten Aufhebung aller bisherigen europäischen Musik, nämlich Schönbergs Zwölftontechnik, begegnete Bartók weniger enthusiastisch. In der zweiten Themengruppe des Kopfsatzes spielen die hohen Streicher zwar eine Melodie, die aus sämtlichen Halbtönen der Tonleiter besteht, und danach eine zweite, anders gestaltete, während die Basslinie chromatisch eine ganze Oktave absteigt. Indes unternahm Bartók keine Anstrengungen, dieser Passage einen strikt seriellen Satz nachzuschicken; im Gegenteil scheint der darauffolgende „Lärm“ die zwölftönige Passage rundweg abzuweisen (fünf Jahre später verhielt er sich im Konzert für Orchester ähnlich, als er die vermeintliche Banalität von Schostakowitschs „Leningrader Sinfonie“karikierte).

Im Rhythmus des Verbunkó

Das Violinkonzert ist gewiss nicht antitonal, denn es enthält deutliche Dreiklänge und tonale Grundmuster – H-Dur in den Ecksätzen, G-Dur im Mittelsatz. Von Beginn an beseelt schiere Lust am Singen das Werk, es schimmert in kaleidoskopischem Farbenreichtum. Unendlich weiche Harfenarpeggien und ge­zupfte Geigentöne führen hin zur mal schreitenden, dann wiegenden und singenden Melodie der Solovioline im Rhythmus des „Verbunkó“, jenes ungarischen Volkstanzes, der der Vorläufer des „Csárdás“ war. In der ausführlichen (zunächst vom Orchester begleiteten) Kadenz macht Bartók einen seiner wenigen Exkurse in die Welt der Vierteltöne, die um die leere D-Saite kreisen.

Der zweite Satz ist das Juwel des Violin­konzertes. Nicht eigentlich langsamer als die beiden anderen, ist er meisterhaft instrumentiert und der bedeutendste Variationensatz im gesamten Bartókschen Œuvre. Zugleich bildet er das Gefäß für die Zerrissenheit der Psyche des Komponisten während der erwähnten Jahre 1936 bis 1938. Bezeichnenderweise verzichtet Bartók hier ganz auf schweres Blech, dafür sind Pauken und Schlagzeug mit wichtigen Rollen bedacht. Die sechs Variationen, die dem sanft fließenden Thema folgen, sind abwechselnd zunehmend schneller und langsamer, so dass Variation Nr. 5 und Variation Nr. 6 in Bezug auf Tempo und Charakter sich am stärksten unterscheiden; die Coda lässt das Thema in neuem, durchgeistigtem Licht erscheinen.

Die aus dem ersten Satz bekannte Melodie des „Verbunkó“ kehrt an der Schwel­le zum dritten Satz wieder, diesmal im Dreivierteltakt, tänzerisch, stolz. In beiden Varianten ist die Vierzeilenstruktur des Volksliedes genau zu erken­nen. Aber nicht nur die beiden Hauptthemen bilden wechselseitig aufeinander bezogene Variationen. Das gesamte Finale ist eine Charaktervaria­tion des ersten Satzes bei gleichem Aufbau und Formverlauf, bei gleichen Melodien mitsamt dem dodekaphonischen Seitenthema, dem Thema der Überleitung und dem Triolenthema der Durchführung. Diesmal allerdings ist alles nicht als Lied interpretiert, sondern als Tanz.

Zwei Versionen existieren für den Schluss des Konzertes: einer für Orchester ohne Mitwirkung der Solovioline mit Glissandi der Blechbläser und auf Székelys Wunsch eine Alternativfassung, in der das Soloinstrument bis zum Ende brilliert.

Franz Schmidt

Sinfonie Nr. 4

Katharsis durch Kohärenz

Im Jahre 1874, mithin vor 150 Jahren, wurden gleich mehrere Komponisten geboren, deren Werke uns bis heute in starkem Maße interessieren. So lassen sich in den 2024er Konzertprogrammen der Sinfonieorchester zahlreiche Kompositionen von Arnold Schönberg, aber auch von Charles Ives entdecken. Weniger häufig kommt der Name Josef Suk vor, der gleichwohl mehrere bedeutende Orchesterwerke hinterlassen hat, allen voran die große Sinfonie c-Moll „Asrael“ – eine kathartische Bewältigung des Themas Tod. Josef Suk waren 1904 gleich zwei zentrale Bezugspersonen verstorben: sein verehrter Lehrer und Schwiegervater Antonín Dvořák, und seine 28-jährige Ehefrau, Dvořáks Tochter Otylka.

Auch der österreichisch-ungarische Komponist Franz Schmidt hatte den Tod eines geliebten Familienmitgliedes zu verarbeiten. Dem ebenfalls 1874 geborenen Musiker war 1932 die Tochter gestorben. Franz Schmidts Sinfonie Nr. 4 kündet von diesem Verlust, vor allem aber – ganz wie das Werk von Suk – von der Hoffnung auf die Unvergänglichkeit des Lebens an sich.

Wer ist Franz Schmidt?

Franz Schmidt wurde am 22. Dezember 1874 geboren in Bratislava, heute Hautstadt der Slowakei, damals als Preßburg bzw. Pozsony Teil der K.u.K. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn – nur 65 km von Wien entfernt. Franz Schmidt fühlte sich der ungarischen Nationalität zugehörig: „Mein Vater war mütterlicherseits Ungar und meine Mutter war reinrassige [sic!] Magyarin“. Ähnlich wie andere berühmte Musiker des 19. Jahrhunderts, von Franz Liszt über Joseph Joachim bis hin zu Ernst von Dohnányi, pflegte Schmidt stets das ungarische Idiom in der Musik, auch wenn er seit seinem vierzehnten Jahr und bis zu seinem Lebensende in Perchtoldsdorf bei Wien ansässig war. Am Wiener Konservatorium ließ er sich zu einem hervorragenden Pianisten und nicht minder ausgezeichneten Cellisten ausbilden. Als Mitglied der Wiener Philharmoniker und Cellist im Hofopernorchester erlebte Franz Schmidt die gesamte Wiener Ära des Dirigenten Gustav Mahler. 1914 quittierte er den Dienst als Orchestermusiker und widmete sich fortan der Lehrtätigkeit am Konservatorium. Er unterrichtete Klavier, Harmonielehre, Kontrapunkt und Komposition und wurde 1925 zum Direktor des Institutes berufen, das sich ab 1927 Musikhochschule nannte. 1936 zog er sich vollständig aus dem Lehrbetrieb zurück und starb am 11. Februar 1939 in seinem Haus in Perchtoldsdorf.

Franz Schmidt verlor früh das Elternhaus, sein Vater wurde wegen Betruges angeklagt, der Sohn musste für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen. Seine erste Ehefrau wurde 1919 in eine Anstalt für psychisch Kranke eingeliefert, wo sie 1942 ein Opfer des „Euthanasie“-Wahnes der Nationalsozialisten wurde. Die zweite Ehe mit einer ehemaligen Klavierschülerin bescherte Franz Schmidt ab 1923 eine gewisse familiäre Stabilität. Doch der Tod seiner 1902 geborenen Tochter Emma im Jahr 1932 infolge der Geburt ihres Kindes traf ihn bis ins Mark. Die letzten Jahre Schmidts waren von Krankheit und Tristesse geprägt, auch und gerade wegen der Vereinnahmung durch die deutschen Nationalsozialisten, die 1938 versuchten, den bereits Todkranken mit einem Kompositionsauftrag noch auf ihre Seite zu ziehen. Die Kantate „Deutsche Auferstehung“ blieb unvollendet.

Ein Seher der Apokalypse

Gustav Mahler hatte den Kollegen, der unter seiner Leitung Cello im Orchester spielte, einst als den „musikalischsten Mann in Wien“ bezeichnet. Der solcherart Geehrte unterließ es jedoch, aus seinen instrumentalen Fertigkeiten Kapital zu schlagen. An der Karriere eines reisenden Virtuosen war er ebensowenig interessiert wie am Beruf des Opernkapellmeisters, obwohl er sich umfassend im Repertoire auskannte und nahezu jedes beliebige Werk sofort auf dem Klavier spielen und analysieren konnte.

Einzig für seine eigenen Kompositionen entwickelte Franz Schmidt erkennbaren Ehrgeiz. Zwei Opern – „Notre Dame“ (nach dem Roman von Victor Hugo) und „Fredigundis“ (nach einem Roman von Felix Dahn über eine fränkische Königin aus dem sechsten Jahrhundert) – sowie das gewaltige, apokalyptische Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ nach der Offenbarung des Johannes (1937) haben Franz Schmidts bleibenden Ruhm begründet. Neben Kammermusikstücken, Instrumentalkonzerten (u.a. für den Pianisten Paul Wittgenstein, der als Soldat im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hatte) und virtuosen Orgelwerken komponierte Franz Schmidt insgesamt vier Sinfonien, mit denen er sein Lebenswerk krönen konnte. Die Sinfonien umfassen fast die gesamte Zeitspanne seines Musikerdaseins und spiegeln die Entwicklungsphasen seines Stils, von manchen mit den vier Jahreszeiten verglichen. Unter diesem Aspekt fiele der Sinfonie Nr. 4 die Abbildung des Winters zu. Paul Stefan schrieb 1934 anlässlich der Uraufführung der vierten Sinfonie von Franz Schmidt: „Was dieses Werk vor allem auszeichnet, ist nebst der Neuheit und Kühnheit der Form die Bekenner-Ehrlichkeit einer Tonsprache, die keine Voraussetzungen gelten lässt und für jedermann verständlich ist – darum nichts weniger als banal. Sie ist nicht leicht wiederzugeben, wenn sie auch dem Hörer kaum Schwierigkeiten bereitet. Man hat seine besondere Freude an dem langen Atem dieser Rede, die dabei niemals ‚langatmig’, nie breitspurig wirkt. Überall ist ein edler, natürlicher Anstand beachtet.“

Panta Rei – wohin geht die Reise?

Es ist eine Kunst in der Musik, die nur wenige so elegant wie bezwingend beherrschen wie etwa Jean Sibelius oder Franz Schmidt: Aus einer einzigen Idee wird eine ganze Welt geboren, indem alles aus diesem einen Gedanken hervorgeht, darauf aufbaut, sich seiner versichert, zu ihm zurückkehrt. Für solche fließenden, geschmeidigen Verbindungen hat das Bergbau- und Hüttenwesen ein neues Wort erfunden: Amalgamieren, im Sinne von Verschmelzen.

Die Sinfonie Nr. 4 von Franz Schmidt besteht aus vier Sätzen. Alle vier Sätze bilden gemeinsam einen großen Strom. Die Satzübergänge erfolgen unmerklich, so dass der Eindruck eines einsätzigen Werkes entsteht, das freilich gegliedert ist wie eine klassisch-romantische Sinfonie. Die faszinierende Kohärenz von Schmidts Musik beruht auf der Sensibilität, mit der er sich den gleitenden Übergängen widmet, wo andere Komponisten einfach eine Sache beendet und die nächste begonnen hätten. Hinzu kommt eine an Johannes Brahms erinnernde Sorgfalt, jederzeit alle Stimmen aktiv am musikalischen Geschehen zu beteiligen. Und wo es keine Füllelemente gibt, da klingt jede Linie auch für sich genommen anmutig und elegant. „Etwas mit ‚Eleganz‘ oder ‚elegant‘ zu tun, bedeutet, etwas reibungslos zu tun, in einer völlig zusammenhängenden Art und Weise, ohne Unterbrechungen oder harte Kanten – genauso erleben wir es, wenn wir Schmidts Musik hören, und darin liegt meiner Meinung nach sein wahres Genie. Es gibt keinen einzigen Moment in seinen Sinfonien, in dem die musikalische Linie, der musikalische Schwung oder der rote Faden abbricht (auch nicht zwischen den Sätzen)“, weiß der Dirigent Jonathan Berman, der zwischen 2020 und 2022 eine Gesamtaufnahme der vier Sinfonien von Franz Schmidt für BBC Radio 3 vorgelegt hat.

„… das wahrste und innerlichste auf jeden Fall“

Ein Trompetensolo ist der Dreh- und Angelpunkt des Werkes. Sogleich hebt der erste Satz, „Allegro molto moderato“, damit an. Doch keiner schmetternden Fanfare und auch keinem Trauermarsch wie etwa in Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 5 wird damit Bahn gebrochen, sondern es wird ein lyrisches, nachdenkliches Fließen eröffnet. Ganze 22 Takte lang bleibt die Trompete völlig allein, dann klinken sich die Streicher ein, nahezu unmerklich lösen sie die Trompete ab, sodass wir kaum wahrnehmen, ab wann sie nicht mehr dabei ist. Die Celli sorgen für den Puls im Metrum des Dreiertaktes, ein langsamer Walzer als rhythmisches Grundmuster zeichnet sich ab. In einem großen Bogen, zu dem sich immer mehr Instrumente mit immer neuen Details und dennoch nie kontrastierend, nie aufbegehrend hinzugesellen, schließt sich der Kreis in einem erhabenen Tuttiklang in C-Dur. Wieviel Zeit ist vergangen? Keine Ahnung.

Was hier exemplarisch für den allerersten Anfang der Sinfonie beschrieben ist, soll ihr Wesen, ihre Substanz ausmachen für die nächsten fast 50 Minuten. Ein zweiter Anlauf gibt sich deutlich bewegter, mehr klanglich aufgefächert, mündet in eine Passionato-Passage. Die ersten Violinen und die Harfe führen die Reise an, welche in lyrischem Ton und mit latenter Melancholie vom Englischhorn aufgegriffen und fortgeführt wird. Stets tonal verankert und dennoch unterwegs in nahezu allen Tonarten – in der Partitur eindrucksvoll zu sehen an den permanent wechselnden Vorzeichen – fließt die Musik dahin, aufrauschend, verweht, verdichtet, innehaltend und scheinbar immerwährend bedürftig nach Harmonie und Schönheit. Der melodische Kunstgriff, den Franz Schmidt für diese zauberhafte, mit dem analytischen Verstand kaum zu erfassende Nahtlosigkeit seiner Musik anwendet, besteht darin, die Entwicklungen, Übergänge und instrumentalen Ablösungen nahezu immer mit dem gleichen Ton zu beginnen, mit dem die vorherige Phrase aufhört. Und wenn dieser Wechsel auch noch wie eine filmische Überblendung geschieht, ist die Illusion des Unmerklichen perfekt.

Adagio der unendlichen Eleganz

Was nicht heißt, dass nicht markante Ereignisse eintreten, die etwas Neues nach sich ziehen. Ein solches Ereignis ist ein Cellosolo (Franz Schmidts ureigenes Instrument!), welches als Scharnier zum attacca, also sofort und ohne Unterbrechung, sich anschließenden zweiten Satz fungiert. Dieser mit „Adagio“ überschriebene Satz kommt – die Partitur vor Augen – in überraschend ähnlichem Gestus und Tempo daher. Ohne den Blick in die Partitur, mithin beim alleinigen Hören, bleibt das Moment des Überraschenden vollkommen aus – so unmerklich vollzieht der Komponist den Übergang. Erst irgendwann mag man sich bewusst werden, dass inzwischen ein Vierertakt das Grundmetrum bildet. Singen und Blühen, Träumen und Trauern: Franz Schmidt befindet sich hörbar im Einklang und auf Augenhöhe mit Gustav Mahler und Jean Sibelius. Und mit diesen gemeinsam wandelt er auf den Spuren von Richard Wagner, indem er dessen sogenannte „unendliche Melodie“ (zum Beispiel verkörpert im „Parsifal“) konsequent weiterdenkt.

Kleine Gruppen von schnellen Notenwerten (64-tel) und raunende Schläge des riesigen Tamtams bilden unruhige Elemente in dem ewigen Fluss. Über einem durchgehenden Paukenpuls entfaltet noch einmal das Solocello seinen Gesang und leitet – unmerklich, wie sonst? – in den dritten Satz über.

Der Weg ist das Ziel

„Molto vivace“ genannt, gehorcht er einem schnellen 6/8-Takt. Diese Taktart hat die Besonderheit, dass sie sich mindestens dreifach interpretieren lässt: zusammengefasst in zwei Dreiergruppen (1/2/3-4/5/6), unterteilt in drei Zweiergruppen (1/2-/3/4-5/6) oder durchlaufend als sechs Achtel (1/2/3/4/5/6). Franz Schmidt beginnt mit durchlaufenden Achteln. Flott und elegant spielen sich die Instrumentengruppen die Bälle zu. Irgendwer legt immer beruhigende Akkorde darunter. Lockere Fugati ergeben sich aus leicht versetzten Einsätzen, führen die Imitation als neues Strukturelement ein. Plötzlich hören wir Dreiergruppen, bisweilen sanft ausgebremst durch einzelne vorsätzliche Zweiergruppen. Die Fugeneinsätze erweisen sich beim Hinsehen als Umkehrungen und Spiegelungen eines einzigen Motivs – Arnold Schönberg lässt grüßen. Und die Sonatenhauptsatzform! Denn das tänzerische Spiel mit dem Kontrapunkt qualifiziert den dritten Satz so recht für die Rolle der Durchführung der ganzen Sinfonie. Allerdings befriedet die unnachahmliche Klangfarbe der Harfe sämtliche möglicherweise drohenden Verwerfungen – die Inkarnation des verschmelzenden Versilberns.

Finale Einkehr – „ein Sterben in Schönheit“

Durchlaufende Sechsachtelketten bilden die Brücke zum Finale: „Tempo primo un poco sostenuto“. Und in der Tat scheinen wir nach einer langen Reise wieder am Anfang angekommen zu sein. Der vierte Satz entpuppt sich als Reprise, als zusammenfassende und doch abweichende Wiederholung der Grundgedanken der ganzen Sinfonie. Zunächst steuert Franz Schmidt auf einen gewaltigen Zusammenbruch à la Gustav Mahler zu. Zum ersten Mal setzt eine Generalpause eine deutliche Zäsur. Sodann greift das Solohorn das Trompetenthema vom allersten Anfang auf, freilich diesmal unterlegt von einem Paukentremolo. Girlanden der Holzbläser und der hohen Streicher winden sich langsam nach oben über einer in kleinen Dreierschritten (chromatisch) ebenso allmählich aufsteigenden Linie der tiefen Instrumente. Noch einmal unterbricht eine Passionato-Passage den Gang, maßgeblich getragen vom elegisch verhangenen Klang des Englischhorns, fein fortgesponnen von der Klarinette, unmerklich abgelöst vom Fagott. Immer ist es der diskrete Einsatz des nachfolgenden Instrumentes genau mit dem letzten Ton des vorangegangenen, der die Unendlichkeit der Linie suggeriert.

Schließlich fällt es der Trompete zu, das letzte Wort der Sinfonie zu sprechen. Nun eingebettet in einen Streicherchor, fasst sie zusammen, was sie ganz zu Beginn bereits gesagt hatte. Ohne Aufbegehren, ohne jegliche Aggression endet die Sinfonie mit einem letzten Ton „c“ von der Trompete allein. „Es ist sozusagen die letzte Musik, die man ins Jenseits hinübernimmt, nachdem man unter ihren Auspizien geboren und das Leben gelebt hat. Perchtoldsdorf, den 16. November 1933.“ (Franz Schmidt)

Texte © Steffen Georgi

Kurzbiographien

David Afkham

David Afkham ist bekannt für seine hervorragende Technik und sein überzeugendes künstlerisches Können. Er genießt weltweite Anerkennung und ist einer der gefragtesten Dirigenten seiner Generation. Afkham ist seit September 2019 Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Orquesta y Coro Nacionales de España. Zuvor war Afkham seit 2014 mit großem Erfolg Chefdirigent des Orchesters.

Afkhams beeindruckende Karriere zeichnet sich durch eine Reihe von der Kritik gefeierter Auftritte und die Zusammenarbeit mit einigen der weltweit führenden Orchester aus. Er trat mit dem Royal Concertgebouw Orchestra, dem London Symphony Orchestra, dem Philharmonia Orchestra, der Staatskapelle Berlin, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, den Münchner Philharmonikern, dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt, dem SWR Sinfonieorchester, den Wiener Symphonikern, dem Orchestre National de France, dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, dem Swedish Radio Symphony Orchestra, dem Oslo Philharmonic Orchestra, der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, dem NHK Symphony Orchestra und dem Seoul Philharmonic Orchestra auf. Tourneen führten ihn mit dem Chamber Orchestra of Europe, der Staatskapelle Dresden, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und dem Mahler Chamber Orchestra zusammen.

Afkham wurde in Freiburg geboren und erhielt schon früh Klavier- und Violinunterricht. Anschließend studierte er Klavier, Musiktheorie und Dirigieren an der Musikhochschule Freiburg, bevor er sein Studium an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar fortsetzte. Afkham war der erste Stipendiat des Bernard Haitink Fund for Young Talent und assistierte Maestro Haitink bei mehreren großen Projekten, darunter komplette Sinfoniezyklen mit dem Chicago Symphony Orchestra, dem Concertgebouw Orchestra und dem London Symphony Orchestra. Von 2009 bis 2012 war er Assistenzdirigent des Gustav Mahler Jugendorchesters.

Christian Tetzlaff

Christian Tetzlaff ist einer der gefragtesten Geiger und spannendsten Musiker der Klassikwelt. Konzerte mit ihm werden oft zu einer existenziellen Erfahrung für Interpret und Publikum gleichermaßen, altvertraute Stücke erscheinen plötzlich in völlig neuem Licht. Daneben lenkt er den Blick immer wieder auf vergessene Meisterwerke wie das Violinkonzert von Joseph Joachim oder das Violinkonzert Nr. 22 von Giovanni Battista Viotti, einem Zeitgenossen Mozarts und Beethovens. Zudem engagiert sich Christian Tetzlaff für gehaltvolle neue Werke, wie das 2013 von ihm uraufgeführte Violinkonzert von Jörg Widmann. Mit Hingabe pflegt er ein ungewöhnlich breites Repertoire und gibt rund 100 Konzerte pro Jahr. Seit 2023 ist er Künstlerischer Leiter des Spannungen Festivals in Heimbach.

In der Saison 2024/25 gastiert Christian Tetzlaff bei Orchestern wie u.a. dem Chicago Symphony Orchestra (Afkham), St. Louis Symphony Orchestra (Storgårds), Tonhalle-Orchester Zürich (Paavo Järvi), Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (Afkham), hr-Sinfonieorchester (Gardner), Seoul Philharmonic Orchestra (Lintu), Bergen Philharmonic Orchestra (Emelyanychev), Finnish Radio Symphony Orchestra (Collon) sowie dem Orchestre de la Suisse Romande (Gatti). Als gefragter Tourneesolist ist er mit dem London Philharmonic Orchestra in Belgien und den Niederlanden unterwegs, spielt mit der Kammerakademie Potsdam in sechs deutschen Städten und steht mit dem Yomiuri Nippon Symphony Orchestra in Japan, Deutschland und England auf der Bühne.

Christian Tetzlaff wird regelmäßig gebeten, als Residenzkünstler bei Orchestern und Veranstaltern seine musikalischen Sichtweisen über längere Zeiträume zu präsentieren, so u. a. bei den Berliner Philharmonikern, dem Seoul Philharmonic Orchestra und den Dresdner Philharmonikern. In der Saison 2021/22 wurde ihm diese Ehre bei der Londoner Wigmore Hall zuteil und 2022/23 war er „Portrait Artist” beim London Symphony Orchestra. In der Saison 2024/25 ist Tetzlaff Fokus-Künstler beim Rheingau Musik Festival sowie Artist in Residence bei der Kammerakademie Potsdam.

Christian Tetzlaff spielt eine Geige des deutschen Geigenbauers Peter Greiner und unterrichtet regelmäßig an der Kronberg Academy.
Er lebt mit seiner Frau, der Fotografin Giorgia Bertazzi, und drei Kindern in Berlin.

Das RSB im Konzerthaus Berlin_hochformat, Foto: Peter Meisel Das RSB im Konzerthaus Berlin_hochformat, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Nebel, David
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Bondas, Marina
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Feltz, Anne
Morgunowa, Anna
Pflüger, Maria
Polle, Richard
Stangorra, Christa-Maria
Behrens, Susanne
Ries, Ferdinand
Leung, Jonathan
Kanayama, Elli

Violine 2

Kurochkin, Oleh
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Manyak, Juliane
Hetzel de Fonseka, Neela
Bara-Rast, Ania
Palascino, Enrico
Shalyha, Bohdan
Cazac, Cristina
Sak, Muge

Viola

Rinecker, Lydia
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Markowski, Emilia
Doubovikov, Alexey
Inoue, Yugo
Yoo, Hyelim
Maschkowski, Anastasia
Roske, Martha
Yu, Yue
Olgun, Berkay

Violoncello

Hornig, Arthur
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Kalvelage, Anna
Meiser, Oliwia

Kontrabass

Wömmel-Stützer, Hermann
Figueiredo, Pedro
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Moon, Junha

icon

Flöte

Bogner, Magdalena
Dallmann, Franziska

Oboe

Vogler, Max
Grube, Florian
Vogler, Gudrun

Klarinette

Kern Michael
Pfeifer, Peter
Korn, Christoph

Fagott

Petersen, Jörg
Königstedt, Clemens
Shin, Ysol

Horn

Kühner, Martin
Holjewilken, Uwe
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Dörpholz, Florian
Ranch, Lars
Gruppe, Simone

Posaune

Manyak, Edgar
Schmidt, Fabian
Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud

Percussion

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Wucherpfennig, Dirk

Pauke

Eschenburg, Jakob

Celesta

Inagawa, Yuki

Kooperation

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Bild- und Videorechte

Probenfotos © Peter Meisel

David Afkham © Giesela Schenker

Christian Tetzlaff © Giorgia Bertazzi