Digitales Programm

Sa 09.03. Petr Popelka

20:00 Philharmonie

Arnold Schönberg

Konzert für Klavier und Orchester op. 42

Gustav Mahler

Sinfonie Nr. 1 D-Dur

Podcast „Muss es sein?“

Werke

Arnold Schönberg

Konzert für Klavier und Orchester op. 42

Von Herzen, im Ernst

Dem zweiten Satz seines Violinkonzertes hat Arnold Schönberg eine so überraschende wie berührende Charakterisierung mit auf den Weg gegeben: „Melodie aus dem Herzen“. Heute Abend wird eine weitere Gelegenheit sein, Arnold Schönberg von der unbeschwerten, ja heiteren Seite zu erleben.

Sie staunen? Bei denjenigen Musikhörern, die sich notorisch auch in Zukunft abschrecken lassen wollen von der vermeintlich gefühllosen Musik des Tönekonstrukteurs, mag diese Facette Schönbergs im besten Fall misstrauische Verwunderung hervorrufen. Melodie? Hingabe? Gefühl? Immerhin befänden sie sich damit durchaus im Einklang mit Schönberg selber, der einmal im Hinblick auf seine Zwölftonkompositionen das Balzac-Wort zitierte: „Das Herz muss innerhalb der Domäne des Kopfes liegen.“

Wenn aber Musikfreunde wären, die Schönbergs fortwährende verbale Selbstdenunziationen genauso tapfer ignorierten wie sie ihre eigene, tief verinnerlichte Angst ausblendeten vor dem abstrakten Theoriekoloss „Zwölftontechnik“, dann hätte der Anflug von persönlichem Gefühl in der Musik zum Beispiel des Klavierkonzertes eine reale Chance, wiederum bis zum Herzen durchzudringen. „Anstatt meine Partituren zu studieren und anstatt herauszufinden, wer ich bin, hatte man versucht, um sich den Problemen zu entziehen, die ich möglicherweise vorbrachte, mich mit Hilfe von Schlagworten abzustempeln: der Zwölftonkonstrukteur, der Atonalist. Was immer ich vorgebracht haben mochte, ob Gutes oder Schlechtes, Schönes oder Hässliches, Zartes oder Rauhes, Wahres oder Falsches, das war ohne Interesse.“ (Arnold Schönberg, Dezember 1949) Hören wir am besten seiner Musik zu!

Heitere Zwölftonmusik

Ganz allein, heiter und verspielt, mit schier kindlicher Geste beginnt das Klavier einen verstohlen verhohlenen Walzer. Fast könnte man an Claude Debussy denken, seine Kinderstücke „Golliwogg's Cakewalk“. Der „Andante“ überschriebene Satz von Schönbergs Klavierkonzert behält seine filigrane, behutsame Faktur bei, indem zuerst Streicher, dann solistische Oboe, Fagott und Flöte kammermusikalisch fein hinzutreten. Es erklingen Violinkantilenen im Orchester wie schon lange nicht mehr bei Arnold Schönberg. Ach so, ja natürlich beruht das Ganze auf einer Zwölftonreihe. Warum auch nicht, ist eben nur eine von vielen Spielarten der Musik. Endlich, so scheint es, gelingt Arnold Schönberg, wonach er lebenslang gestrebt hat: originell zu komponieren, ohne sich aggressiv auszugrenzen.

Bis dahin ist es ein langer, dornenreicher Weg gewesen. Immer noch zögernd und gebremst von verhängnisvoller Pietät, dringen leider erst heute biographische, sehr persönliche Beweggründe Arnold Schönbergs ans Licht, die seine musikalische Ausdrucksweise gleichwohl dramatisch geprägt haben.

Maßgeblichen Anteil daran haben jene beiden Frauen, mit denen Schönberg verheiratet gewesen ist. An der Seite von Gertrud Kolisch, der Schwester seines musikalischen Weggefährten Rudolf Kolisch, sehen wir ihn endlich wieder lächelnd, entspannt. Gertrud Kolisch war 1924 Schönbergs zweite Frau geworden, nachdem Mathilde Schönberg, geborene Zemlinsky, 1923 im Alter von 46 Jahren gestorben war. Während der Ehe mit Mathilde hatte Schönberg 1908 traumatische Erfahrungen gemacht, die ihn von Grund auf veränderten, die ihn möglicherweise zum Absprung in die endgültige Atonalität veranlasst hatten. Mit der Partitur der „Glücklichen Hand“ löste er sich im Sommer 1908 endgültig von den letzten Inseln der Dreiklangsharmonik und der diatonischen Melodiebildung. Hier verwirklichte er zum ersten Mal ein strikt atonales Konzept. Das große Orchester trieb vollkommen ohne Grundton und Konsonanz im Tonmeer. Die Wurzeln waren ausgerissen, der vertraute Boden verlassen. In einem fieberhaften Schaffensrausch komponierte Schönberg fast ein Jahr lang ununterbrochen, malte und dichtete, versuchte, seine Werke aufführen zu lassen. Seine Arbeitswut wirkte wie der verzweifelte Versuch eines Kriegsfreiwilligen, eher den Tod in Kauf zu nehmen, als länger untätig zu leiden. Es sollte mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bis Schönberg sich in dem „kochenden Ozean“ über Wasser halten konnte, in den er sich geworfen fühlte. Erst 1921 baute sich der Komponist aus den Erfahrungen des richtungslosen Umhergetriebenseins ein theoretisches Gerüst, eben jenes der zwölf unabhängigen, aufeinander bezogenen Halbtöne, die Zwölftonmethode. Und in der ersten voll ausgeprägten Zwölftonkomposition, den Klavierstücken op. 23, gibt es einen ebensolchen Walzer, wie er jetzt fast schwerelos durch das Klavierkonzert geistert.

Klavierkonzert zum Genießen

Das Heraufziehen des Nationalsozialismus und die dadurch erzwungene Emigration der Familie Schönberg 1933 in die USA belasteten die seit 1924 wiedergewonnene persönliche Stabilität des Komponisten erneut schwer. Gleichwohl ist es ein Indiz psychischer Gesundung, wenn Schönberg als erstes Werk in der Emigration 1934 eine „Suite im alten Stil“ für Streichorchester komponierte. Selbst dieses Werk, entstanden für ein Studentenorchester, stellte die Streicher des renommierten Los Angeles Philharmonic Orchestra bei der Uraufführung am 18. Mai 1935 unter Leitung von Otto Klemperer vor ernste Schwierigkeiten. Die Suite und das zeitgleich konzipierte Violinkonzert signalisierten jedoch, dass ihr Komponist die Sehnsucht nach Schönheit, nach Vertrautem und Vertrauen, nach Glück und Gefühlen nie ganz aufgegeben hatte. Immer wieder sprach er von einer „Sehnsucht“, zu dem „älteren Stil zurückzukehren“, die „immer mächtig“ in ihm gewesen sei: „Also schreibe ich manchmal tonale Musik“. Und „für mich haben stilistische Unterschiede dieser Art keine besondere Bedeutung.“

Diese Bemerkung mochte jahrzehntelang als hochmütige Polemik eines zutiefst Verletzten gegolten haben, im Klavierkonzert bekommt sie tatsächlich eine hörend nachvollziehbare Berechtigung. So endet der erste Satz mit Anflügen von Versonnenheit und erreicht zuvor immer wieder Inseln der Ruhe, des Unbedrängtseins, des Nichtkämpfenmüssens. Vor diesem Hintergrund tönt das hereinbrechende Blech mitsamt krachendem Schlagzeug im nahtlos folgenden zweiten Satz, einem verkappten Scherzo, nicht wirklich bedrohlich. Eher fühlt man sich an die lapidare und seinerzeit in den USA überaus populäre Stilistik von Kurt Weill erinnert. Oder sollte Arnold Schönberg gar eine späte musikalische Versöhnung mit Igor Strawinsky über sein inzwischen weit stabileres Herz gebracht haben? Jedenfalls tritt Schönbergs Marsch der Soldaten in hörbare Fußstapfen derer von Alban Berg („Wozzeck“) und gar derer von Gustav Mahler. Oder sind es gar Spielzeugsoldaten, die diese überraschend unernste, freche Spielmusik à la Paul Hindemith auftischen? Am Ende leitet der Marsch über in den dritten Satz, Adagio, der anfangs einer Bratschenkantilene von bemerkenswerter Schönheit gehört. Überflüssig zu sagen, dass Schönberg weiterhin mit seiner eingangs offerierten Zwölftonreihe arbeitet und dies getreulich wie immer in der Partitur vermerkt. Mit akribischer Genauigkeit sind dort Haupt- und Nebenstimmen gekennzeichnet zum Zwecke der Hervorhebung während der Interpretation. Das Erfreuliche im Klavierkonzert: Es schadet nicht, darum zu wissen, aber es schadet auch nicht, darum nicht zu wissen, denn die Musik vermag klingend für sich selbst zu sprechen.

Nichts hat Bestand außer dem Unbeständigen

Dass dabei immer wieder Irritationen auftreten und kein Zustand von Dauer ist, bleibt auch in diesem Werk ein Markenzeichen Schönbergs, des ewig Unsteten. Tief sitzt die Faustische Angst des „Verweile doch, Du bist so schön“.

Zwei kurze Klavierkadenzen geben dem dritten Satz das Gepräge eines ernsten Disputes mit dem Orchester, wobei der hörbar erregte, große Musizierpartner mittels der zweiten Kadenz vom Klavier her nachhaltig beruhigt werden kann, so dass dem „Giocoso“ und „Commodo, grazioso“ des vierten Satzes nichts mehr im Wege steht. Schimmert hier die klassische Rondoform hindurch?

Jedenfalls bringt Schönberg die „vertraute“ Zwölftonreihe erneut ins Spiel, steigert sie zur Apotheose – wie es Rachmaninow nicht anders gemacht hätte. Nach diesem Kokettieren mit dem 19. Jahrhundert schlendert, spielt sich das Klavierkonzert so augenzwinkernd wie effektvoll ins Ziel: keck, trocken, C-Dur!

Bleibt zu erwähnen, dass dem Klavierkonzert ein zu Lebzeiten Schönbergs verschwiegenes (was sonst?) Programm zugrunde liegt: „Das Leben war so leicht / Plötzlich brach Haß aus (Presto) / Eine ernste Situation entstand (Adagio) / Doch das Leben geht weiter (Rondo)“. Es sei dem Hörer anheimgestellt, Bezüge zwischen der Musik, dem Programm und dem Leben Arnold Schönbergs zu erkennen! In einem Begleittext zur „Suite im alten Stil“ hatte Schönberg zum tausendsten Mal für die Moderne geworben, indem er verächtlich wetterte dagegen, „dass nicht nur jener primitiv symmetrische Bau, jene Variationslosigkeit und Unterentwickeltheit als Melodie zu gelten habe, welche das Wohlgefallen der Mediokrität aller Länder und Völker bildet.“ Hören wir einfach vorbei am verbalen Hochmut des polemischen Hirnbohrers und hinein in seine Partituren der 1930er- und 1940er-Jahre: Da ist sie, die anrührende, wiedergewonnene Freude des Arnold Schönberg am Normalen, am Lebendigen, am Dazugehören.

Gustav Mahler

Sinfonie Nr. 1 D-Dur

Gustav Mahler Gustav Mahler

„Ich brachte vorgestern hier meine Erste... Sonderbar geht es mir mit allen diesen Werken, wenn ich sie dirigiere. Es kristallisiert sich eine brennend schmerzliche Empfindung: Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild auswirft! So was wie den Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm scheint mir wie eine brennende Anklage an den Schöpfer.“

Mahler an Bruno Walter, New York, 18. Dezember 1909

Meine Zeit wird kommen

„Die I. hat überhaupt noch niemand kapiert als diejenigen, die mit mir gelebt...“, schrieb Mahler 1900 in einem Brief an Ludwig Schiedermair. Jeder Aufführung seiner ersten Sinfonie sah Mahler mit gemischten Gefühlen entgegen. Immer wieder, 1889 in Budapest, 1893 in Hamburg, 1894 in Weimar, 1896 in Berlin, war sie zum Gegenstand gehässiger Kritiken geworden. Das dabei gebrauchte Vokabular sollte Mahler zeit seines Lebens begleiten, von „wirrem Zeug“ und „Kakophonie“, von „Langeweile“ und „Impotenz“ war die Rede, auch von „jüdischem Mauscheln“. Trotz heftiger seelischer Erschütterungen wegen derartiger Injurien versuchte Mahler immer wieder, das Verständnis für seinen sinfonischen Erstling zu befördern. Ein ums andere Mal verspekulierte er sich dabei, so dass alle erläuternden programmatischen Hinweise heute als temporäre, mitnichten hinlängliche Annäherungsversuche angesehen werden müssen, auch wenn sie von Mahler selbst stammen. Die Sinfonie wird inzwischen zumeist in ihrer viersätzigen Form aus dem Jahre 1896 aufgeführt, ohne Satzüberschriften, ohne „Leitfaden“.

Aufschrei eines tief verwundeten Herzens

Am Anfang hatte Mahler 1889 eine „Sinfonische Dichtung in zwei Teilen“ ankündigen lassen (Budapest), wobei der erste Teil aus drei Sätzen mit italienischen Satzüberschriften bestand: Allegro commodo, Andante, Scherzo. Der zweite Teil setzte sich aus einem „Molto appassionato“ und einem vorangehenden „A la pompes funèbres“ zusammen.

Die revidierte Fassung von 1893, aufgeführt zuerst in Hamburg, trug den Titel „Symphonie (‚Titan’) in 5 Sätzen (2 Abtheilungen)“. Mahler präzisierte: „Titan, eine Tondichtung in Symphonieform, I. Teil ‚Aus den Tagen der Jugend’, Blumen-, Frucht- und Dornstücke. I. ‚Frühling und kein Ende’ (Einleitung und Allegro Comodo).

Die Einleitung stellt das Erwachen der Natur aus langem Winterschlafe dar. II. ‚Blumine’ (Andante). III. ‚Mit vollen Segeln’ (Scherzo). II. Teil ‚Commedia humana’. IV. ‚Gestrandet!’ (Ein Todtenmarsch in ‚Callots Manier’). Zur Erklärung dieses Satzes diene Folgendes: Die äussere Anregung zu diesem Musikstück erhielt der Autor durch das in Österreich allen Kindern wohlbekannte parodistische Bild ‚Des Jägers Leichenbegängnis’, aus einem alten Kindermärchenbuch: Die Thiere des Waldes geleiten den Sarg des gestorbenen Jägers zu Grabe; Hasen tragen das Fähnlein, voran eine Kapelle von böhmischen Musikanten, begleitet von musizierenden Katzen, Unken, Krähen etc., und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und gefiederte Thiere des Waldes geleiten in possirlichen Stellungen den Zug. An dieser Stelle ist dieses Stück als Ausdruck einer bald ironisch-lustigen, bald unheimlich brütenden Stimmung gedacht, auf welche dann sogleich V. ‚Dall’ Inferno’ (Allegro Furioso) folgt, als der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im tiefsten verwundeten Herzens.“

Vom Unverständnis zum Missverständnis

Die erläuternden Satzüberschriften entstammen einem Roman von Jean Paul. Dessen romantischer Titelheld, der „Titan“, ist ein mit sich selbst entzweites, einer Bewusstseinsspaltung wegen umherirrendes Genie. Es wäre fatal, den Roman etwa als Sujet im Hintergrund der Mahlerschen Sinfonie zu sehen. Keine literarische Geschichte wird vermittels der Musik erzählt, wie etwa bei Berlioz oder Strauss. Die Jean-Paulschen Szenen mögen höchstens einstimmen auf Ausdruckssphären, Dimensionen und Entwicklungsrichtungen innerhalb der Sinfonie. Aber vielleicht nicht einmal das. Jedenfalls ließ Mahler 1896 für die Aufführung in Berlin alle Titel und Programme entfernen, außerdem fiel dieser letzten Korrektur vor der Drucklegung ein ganzer Satz zum Opfer: Mahler tilgte das Andante, „Blumine“ geheißen, hob die generelle Zweiteilung auf und überführte das Werk somit rein formal endgültig in eine traditionelle viersätzige Sinfonie.

Dem Kritiker Max Marschalk teilte Mahler am 20. März 1896 brieflich die Beweggründe für sein Schwanken mit: „Seinerzeit bewogen mich meine Freunde, um das Verständnis der D-dur zu erleichtern, eine Art Programm hierzu zu liefern. Ich hatte also nachträglich mir diese Titel und Erklärungen ausgesonnen. Daß ich sie diesmal wegließ, hat nicht nur darin seinen Grund, daß ich sie dadurch für durchaus nicht erschöpfend – ja nicht einmal zutreffend charakterisiert glaube, sondern, weil ich es erlebt habe, auf welch falsche Wege hiedurch das Publikum geriet.“ „Nochmals betone ich, daß sie, wie sie ohnehin erst nachträglich aus der Nötigung durch das Unverständnis konstruiert, so aus Nötigung durch das Mißverständnis weggelassen wurden...“, heißt es ergänzend in dem oben erwähnten Brief an Schiedermair.

Nur der Liebe leben

Erst jüngere Forschung entdeckt allmählich, welche vielgestaltigen weiteren Sinnzusammenhänge in das erste große sinfonische Werk von Gustav Mahler eingewoben sind.

Zu reden wäre von den sinfonischen Traditionen, wie sie seine Noch-Zeitgenossen Brahms und Bruckner auf zwar gegensätzliche, für Mahler dennoch nicht direkt fortführbare Weise verkörperten. Dem angehenden Dirigenten Mahler ging auch auf, was Wagner an einer Sinfonie der Zukunft für undurchführbar gegolten hatte. Mahlers Sinfonie unternahm es nun, im Wege der unablässigen Suche nach dem Königsweg durch die sprichwörtliche Dornenhecke ein neues Sinfoniekonzept zu begründen. Es knüpfte im Anspruch an formale, harmonische und kontrapunktische Komplexität durchaus bei den Altvorderen an, suchte sich zugleich neue Bezugsfelder im Erzählerischen, im Emotionalen, im Gleichnishaften mit der Natur, der Kunst, der Literatur und mit dem Leben an sich. Die Sinfonie wurde durch Mahler um eine entscheidende Dimension erweitert: um die des Persönlichen. Wenn Brahms noch darum zu tun war, Leidenschaften abzustreifen, um die Kunst vor dem Tränenmeer persönlicher Betroffenheit zu bewahren, so nahm Mahler diese Betroffenheit ausdrücklich in seine Kunst wieder auf – ohne ins Gegenteil zu fallen, wie es zeitgleich eine Tendenz der italienischen Oper gewesen sein mag.

Einer, der ihm darin vielleicht hätte nahestehen können, der Kommilitone Hans Rott, verstarb früh und unglücklich, nachdem er 1882 immerhin eine Sinfonie in E-Dur fertiggebracht hatte, auf die Mahler große Stücke hielt und deren Geist er im Scherzo seiner eigenen Ersten förmlich heraufbeschwor. Ein anderer Kommilitone Mahlers, dem kein Glück beschieden war, der nicht die Sinfonie beflügelte, wohl aber mit untrüglichem Gefühl für tragfähige Dichtung das Lied bereicherte, war Hugo Wolf. Mahler selber trug schließlich Lied und Sinfonie und Gebrauchsmusik und Dichtung und vieles „Unschickliches“ mehr zusammen, zuerst in seine Orchesterlieder, dann in die Sinfonie hinein, indem er sie persönlichem Erleben einordnete.

Das bestand einmal zum Beispiel in der profanen Aufgabe, als junger Kapellmeister in Kassel im Juni 1884 auf das Schauspiel „Der Trompeter von Säckingen“ von Josef Viktor von Scheffel binnen zwei Tagen eine Bühnenmusik liefern zu müssen. Zu seiner eigenen Überraschung gelangen ihm diese „lebenden Bilder“ so gut, dass er „große Freude daran hatte“. Scheffels Ruhm ist heute vergangen, nicht aber Mahlers Musik: „Wie du dir denken kannst, hat sie nicht viel mit Scheffelscher Affektiertheit gemein, sondern geht eben weit über den Dichter hinaus …“ (Mahler an Friedrich Löhr). Die Musik fand nach Auskunft von Zeitzeugen Eingang in Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ (ein Terminus, den auch Scheffel verwendete) – und in die Sinfonie Nr. 1. In welchem Maße, können wir freilich nicht mehr überprüfen, denn die Partitur der Bühnenmusik zu „Der Trompeter von Säckingen“ ist verloren. Immerhin erinnerte sich der Kritiker Max Steinitzer (1864–1936) an fünf Takte eines Trompetensolos aus der Bühnenmusik (überliefert in der Mahlerstudie von Paul Stefan, 1920), die 1966 in einem Manuskript aufgefunden wurden, welches in New York unter Papieren zur Sinfonie Nr. 1 mit Mahlers Hinweis auf den „Blumine“-Satz der D-Dur-Sinfonie lag.

In besagter Bühnenmusik ging es um ein Ständchen, das der Trompeter Werner seiner Angebeteten Margarete darbringt „in der Mondnacht nach dem Schlosse … über den Rhein hinüber geblasen“, wie es eine zeitgenössische Schilderung beschrieb.

Zur Trompete tritt der Gesang einer Oboe: Im Duett der beiden Instrumente gibt sich das Paar zu erkennen, während Streicher und Harfe zart begleiten. Mahler nannte das Ganze eine „Liebesepisode“. Womit ein letztes Stichwort gegeben ist. Denn da sind noch die Frauen. Johanna Richter hieß eine Sängerin am Theater in Kassel, in die sich Mahler bis zur Selbstaufgabe verliebt hatte, der er zahlreiche Gedichte schrieb, von denen vier zwischen 1883 und 1885 zu den ergreifenden „Liedern eines fahrenden Gesellen“ wurden. Weder erwiderte Johanna Richter Mahlers Avancen, noch scheute sich der, eine Abschrift der Trompetenserenade später Marion Mathilde von Weber zu verehren, in die er sich nach 1887 in Leipzig verliebte.

Der Tau auf den Gräsern

„Wie ein Naturlaut“ soll die Einleitung des ersten Satzes klingen. Lautmalerisch imitiert Mahler Vogelgezwitscher, Kuckucksrufe, beschwört mit einem schier endlosen Orgelpunkt der Streicher eine merkwürdig fahle Frühlingsmorgenstimmung. Aus der Ferne ertönt eine Weckfanfare. Das Leben erwacht zur Vollstimmigkeit, sinkt aber rätselhaft in die Nacht zurück, um – nun weniger keusch – noch einmal aufzustehen. Das Lied „Ging heut’ morgens über’s Feld“, Nummer 2 aus „Die Lieder eines fahrenden Gesellen“, stellt das hauptsächliche thematische Material für den ersten Satz zur Verfügung. Konstituierendes Intervall ist die fallende Quarte. Allmählich wächst aus verfremdeter Idylle ein selbständiges Gebilde, in dem Natur nur mehr schöne Kulisse für das Spiel anderer Mächte ist.

Aufdrehen im Scherzo

Das Scherzo überdreht vom ersten Ton an, ist herzerfrischend übermütige Stetl-Musik, prall gefüllt mit jiddischen Idiomen. Es verwendet ebenfalls ein frühes Lied Mahlers, den Ländler „Hans und Grete“ (1880). Darüber hinaus steht es in böhmischer und österreichischer Volkstradition; sehr derb, sehr ländlich, spart es nicht mit Anmut im Trio, einer gutmütigen Referenz an Hans Rott und an Anton Bruckner, den Orgellehrer der beiden jungen Komponisten. Und die Sinfonien Nr. 2 und 3 weisen weitere Schlüsselstellen auf, die sich auf Hans Rott zurückverfolgen lassen! Ebenso finden sich in den späteren Sinfonien zahlreiche Brücken zum pantheistischen Sinnbild der Blumen und deren für Mahler essentielle Botschaften...

Am Ende des Scherzos ist in die Partitur eingetragen: „Ganzes Orchester scharf abreißen“. Danach folgt „eine ziemliche Pause“. Bruno Walter erfuhr von Mahler, dass hier „ein katastrophenartiges Ereignis“ eingetreten sei.

Ob es der Tod war, der zum wiederholten Male in Mahlers persönlicher Umgebung gewütet hatte? Vater, Mutter und Schwester sind 1889, im Jahr der Uraufführung der Sinfonie, kurz nacheinander gestorben. Oder war es einmal mehr eine zerbrochene Liebe, für Mahler stets ein existenzbedrohendes Ereignis?

Der Mond als Totenschädel

Der anschließende Trauermarsch bereitet das Finale vor. Ungelenk, vom Schicksal schwer beladen steigt das erste Thema aus der Tiefe, vorgetragen vom Solokontrabass, prozessionsartig abgenommen vom Fagott und der Tuba, begleitet vom Trauermarschrhythmus der Pauken. Es ist die Moll-Variante des alten Kanons „Bruder Martin, schläfst du noch“ (französisch: „Frère Jacques, dormez-vous?“). Vor diesem dumpf-gespenstischen Hintergrund stolpern Marionetten einher. Oder sind es die Tiere, welche (wie auf den von Mahler erwähnten Märchenillustrationen) den Jäger zu Grabe tragen? Ihre schwermütigen Tanzschritte ahmen einen linkischen Gassenhauer nach. Wie verwandelt erscheint die „Lindenbaum“-Melodie aus dem vierten der „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Was sucht sie in solch resignativem Kontext? Sie spendet Trost hier wie dort – nichts als den Tod versüßend. Gestopfte Hörner und Trompeten, mit dem Bogenholz geschlagene Violinen und hohle Schläge von Becken und Tamtam verbreiten eine gespenstische Atmosphäre, „als ruhte plötzlich der Mond als Totenschädel auf dem blauen Samt der Himmelsdecke.“ (Richard Specht)

Blitzartig bricht das Finale mit einem schmerzvollen Aufschrei in das hoffnungslose Brüten. Gleichsam als Korrektiv des bislang kaum miteinander verbundenen Geschehens der ersten drei Sätze, deckt es die musikalische und geistige Herkunft des Vorausgegangenen auf, durchlebt noch einmal alle Stürme und Leidenschaften, verhält sich sinnstiftend für die ganze Sinfonie. Die Erste schließt anno 1888 noch in großartigem D-Dur. Aber der Schlussakkord stolpert dem Siegeschoral nach.

Kurzbiographien

Petr Popelka

Innerhalb kürzester Zeit hat sich Petr Popelka als einer der inspirierendsten Dirigenten seiner Generation einen Namen gemacht. Der Tscheche ist seit der Saison 2022/2023 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Radio-Symphonieorchesters Prag und seit August 2020 Chefdirigent des Norwegischen Rundfunkorchesters in Oslo. In der Saison 2022/2023 debütierte er beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Gewandhausorchester, Staatskapelle Berlin, Bamberger Symphoniker und kehrt u. a. zur Sächsischen Staatskapelle Dresden, Wiener Symphoniker (TV-Konzert „Frühling in Wien“), Danish National Symphony Orchestra und Bergen Philharmonic Orchestra zurück. Eine Neuproduktion von Strauss‘ „Elektra“ führt ihn an die Osloer Oper und Schostakowitschs „Nase“ wieder an die Semperoper Dresden. Zusammen mit seinen Orchestern aus Prag und Oslo wird er außerdem Schönbergs monumentale „Gurre-Lieder“ zur Aufführung bringen. Frühere Debüts führten ihn u.a. zur Tschechischen Philharmonie, NDR Elbphilharmonie Orchester, hr-Sinfonieorchester, Deutschen Radio Philharmonie und Mozarteumorchester Salzburg.

Neben dem Dirigieren nimmt das Komponieren eine wichtige Position in Petr Popelkas künstlerischer Arbeit ein.

Pierre-Laurent Aimard

Pierre-Laurent Aimard gilt weithin als Schlüsselfigur der Musik unserer Zeit und hat eng mit vielen führenden Komponisten zusammengearbeitet, darunter György Ligeti, Karlheinz Stockhausen, George Benjamin, Pierre Boulez und Oliver Messiaen.

Zur Feier des 100. Geburtstags von György Ligeti im Jahr 2023 wird Aimard während der gesamten Saison Werke des Komponisten in Zusammenarbeit aufführen, darunter Seoul Philharmonic/Robertson für sein Konzert für Klavier; Der gefeierte deutsche Jazzpianist Michael Wollny arbeitet an einem Improvisationsprojekt rund um die Etüden und zelebriert den Komponisten weiterhin durch sein einzigartiges Konzertprogramm.

Durch seine Professur an der Hochschule Köln sowie zahlreiche Konzertvortragsreihen und Workshops weltweit wirft Aimard ein inspirierendes Licht auf die Musik aller Epochen. Zuvor war er außerordentlicher Professor am College de France in Paris und ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Im Frühjahr 2020 startete er nach mehrjähriger Arbeit eine große Online-Ressource „Explore the Score“ neu, die sich auf die Aufführung und Vermittlung von Ligetis Klaviermusik in Zusammenarbeit mit dem Klavier-Festival Ruhr konzentriert.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Ofer, Erez
Wolters, Rainer
Nebel, David
Herzog, Susanne
Yoshikawa, Kosuke
Neufeld, Andreas
Bondas, Marina
Drechsel, Franziska
Kynast, Karin
Tast, Steffen
Pflüger, Maria
Morgunowa, Anna
Feltz, Anne
Polle, Richard
Sak, Mug
Leung, Jonathan

Violine 2

Contini, Nadine
Simon, Maximilian
Drop, David
Petzold, Sylvia
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Hetzel de Fonseka, Neela
Bauza, Rodrigo
Bara-Rast, Ania
Palascino, Enrico
Kang, Jiho
Kanayama, Ellie
Hadiwara,

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Zolotova, Elizaveta
Drop, Jana
Montes, Carolina
Inoue, Yugo
Yoo, Hyelim
Kantas, Dilhan
Roske, Martha
Maschkowski, Anastasia
Balan Dorfman, Misha

Violoncello

von Gutzeit, Konstanze
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Weiche, Volkmar
Albrecht, Peter
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Bard, Christian
Kipp, Andreas
Kim, Jean

Kontrabass

Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Buschmann, Axel
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim
Thüer, Milan

Flöte

Schaaff, Ulf-Dieter
Döbler, Rudolf
Schreiter, Markus
Kronbügel, Annelie

Oboe

Bastian, Gabriele
Grube, Florian
Vogler, Gudrun
Herzog, Thomas

Klarinette

Kern Michael
Pfeifer, Peter
Pfanzelt, Barbara
Korn, Christoph

Fagott

You, Sung Kwon
Voigt, Alexander
Königstedt, Clemens

Horn

Ember, Daniel
Klinkhammer, Ingo
Mentzen, Anne
Hetzel de Fonseka, Felix
Brox, David
Trautmann, Benno
Diz, Luis
Siveret, Efe

Trompete

Dörpholz, Florian
Ranch, Lars
Niemand, Jörg
Gruppe, Simone
Hofer, Patrik

Posaune

Manyak, Edgar
Vörös, József
Hauer, Dominik
Lehmann, Jörg

Tuba

Rodehorst, Elias

Harfe

Edenwald, Maud

Percussion

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Reddemann, Ingo

Pauke

Wahlich, Arndt
Eschenburg, Jakob

Bildrechte

Portrait Petr Popelka © Baalbaki Khalil
Petr Popelka © Peter Adamik
Bilder Probe Orchester © Peter Meisel
Portrait Pierre-Laurent Aimard © Marco Berggreve
https://www.youtube.com/watch?v=UdGkoTH7os4