Digitales Programm

Sa 05.10. Marta Gardolińska

20:00 Konzerthaus

Grażyna Bacewicz

Ouvertüre für Orchester

Karol Szymanowski

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 op. 35

Felix Mendelssohn Bartholdy

Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 („Schottische“)

Besetzung

Marta Gardolińska, Dirigentin
Bomsori Kim, Violinistin
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

Es findet keine Einführung zum Konzert statt.

Wild und heiser – mild und leiser
Hochfliegende Emotionen durchpulsen das Debütkonzert der polnischen Dirigentin Marta Gardolińska beim RSB. Aus jüngsten Erfahrungen wissen wir um die fulminante Musik der polnischen Komponistin Grażyna Bacewicz – vielen Violineleven durch ihr knackiges Concertino ein Begriff und darüber hinaus eine der wichtigen Repertoireentdeckungen der letzten Jahre.
Ein surreales Gedicht, „Mainacht“ von Tadeusz Miciński, inspirierte Karol Szymanowski zu den fantastischen Klängen seines Violinkonzertes Nr. 1. „Ich ging einmal durch die Kolonnaden, die Abderrahman für seine Geliebte errichtet hat, in der Amethystnacht war Shéhérazade, Talismane brannten am Himmel … Ich hörte das Brüllen eines Esels – oh, wie verzweifelt – wie eine Hirtenflöte, wild und heiser…“ Über all dem schwebt die Solovioline: zart, schwerelos, betörend, niemals ermattend, niemals gewalttätig.
Diese Traumatmosphäre fortzuspinnen, obliegt Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Autor des „innigsten“ aller Violinkonzerte des deutschsprachigen Raumes im 19. Jahrhundert (siehe Konzert am 18.9.2024). Seine Sinfonie Nr. 3 beschreibt Reiseimpressionen aus Schottland – verdichtet und angereichert durch Mendelssohns vielfach reflektierende Kompositionskunst.

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Grażyna Bacewicz

Ouvertüre für Orchester

Cool bleiben!

Das ist doch mal eine Wucht! Ohne Vorwarnung, dafür mit dröhnenden Pauken und rasenden Streicherfiguren flammt das entfesselte Orchester gegen die Konzertsaaldecke. So frenetisch und außer sich klingt das, dass jemand dick obendrüber in die erste Geigenstimme geschrieben hat: „Cool bleiben!“

Was die polnische Komponistin Grażyna Bacewicz anno 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, an kraftvoller Zuversicht in sechs kompakte Minuten Orchestermusik gießt, macht ihrem Ruf als wichtigste Frau der polnischen Musik kurz vor der Mitte des 20. Jahrhunderts alle Ehre. Die Ouvertüre erklang erstmals 1945 während des Krakauer Festivals für zeitgenössische Musik. Gleichwohl wird Grażyna Bacewicz auf den internationalen Konzertpodien eigentlich gerade erst entdeckt. Das Musikinformationszentrum des Komponistenverbandes der Republik Polen hat im Jahre 2001 auf der offiziellen Internetseite „Culture.pl“ Informationen über die polnische Musik im Allgemeinen und über Grażyna Bacewicz im Besonderen zur Verfügung gestellt. Dort heißt es zum Beispiel über ihr Konzert für Streichorchester, es werde „allgemein als das Opus magnum von Grażyna Bacewicz angesehen, und sie selbst nenne es ihre ‘Neunte Sinfonie’.“ Da reibt sich der deutsche Musikfreund verwundert die Augen. Opus magnum? Neunte Sinfonie? Wie konnte ich daran bisher achtlos vorbeigehen?

Eine Sappho der Musik

Grażyna Bacewicz wurde 1909 geboren. Fast einhundert Jahre jünger als Fryderyk Chopin, jedoch eine Generation älter als Wojciech Kilar, Henryk Mikolai Górecki oder Krzysztof Penderecki, die polnischen Komponistenstars des renommierten Festivals „Warschauer Herbst“ in den 1960er-Jahren, gehörte sie mit dem vier Jahre jüngeren Witold Lutosławski zu jener Generation von polnischen Komponisten, die vor und nach dem Zweiten Weltkrieg polnische Musikgeschichte mitgeschrieben haben. Ein Stipendium des legendären Jan Paderewski ermöglichte es Grażyna Bacewicz, nach Paris zu gehen und bei Nadia Boulanger Komposition zu studieren. Parallel dazu ließ sie sich als Geigerin ausbilden, so dass die Erste Konzertmeisterin des Polnischen Rundfunk-Sinfonieorchesters in den 1930er-Jahren zu den europaweit anerkannten Musikern gehörte. Insgesamt schrieb sie sieben Violinkonzerte, bei deren Uraufführungen sie meist selbst den Solopart spielte.

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Bacewiczs Kompositionen basierten auf den Erfahrungen, die sie mit dem Neoklassizismus in Frankreich gemacht hatte, wobei sie diesem Stil gerade als Frau eine stets kraftvolle, vital zupackende Note hinzufügte.

Im Übrigen verwehrte sie sich einer Einordnung in eine bestimmte Stilrichtung. „Ich bin nicht einverstanden mit denen, die behaupten, dass ein Komponist, der eine eigene Sprache gefunden hat, sich daran festhalten sollte. Ich finde eine solche Meinung völlig fremd; das behindert die weitere Entwicklung und das Wachstum. Jede Komposition, die heute abgeschlossen wird, gehört morgen schon der Vergangenheit an.“

Forsch und selbstbewusst ging die umtriebige Künstlerin nach dem Ende des Krieges daran, als Komponistin und als Jurorin des Wieniawski-Wettbewerbes der polnischen Musik wieder zu internationalem Glanz zu verhelfen. Einige ihrer Werke fanden Eingang in die Violinausbildung an den Musikschulen in Osteuropa, darunter auch in der DDR. Das Geigespielen hatte Grażyna Bacewicz nach einem Autounfall 1954 selber aufgegeben müssen. Die Komponistin wurde nur 59 Jahre alt, sie starb hoch geehrt im Jahre 1969.

Kurz und knackig

Auf und ab rasen die Streicher zu Beginn der Ouvertüre, in deren Verlauf manche das Morsezeichen „V“ (kurz-kurz-kurz-lang) für victory, für Victoria, für Sieg ausgemacht haben wollen. Stoßweise fahren die Blechbläser dazwischen, mit wilden Einwürfen beteiligen sich die Holzbläser. Die Streicher laufen als perpetuum mobile, bis die Holzbläser einen Andanteabschnitt einleiten.

Während dieser kurzen Atempause übernehmen die Bläser mit ineinander verschlungenen Sololinien die Führung. Streicher und Hörner füllen den Klang. Doch schon stürmen die Violinen wieder los, nehmen das drängende Tempo des Anfangsallegros wieder auf. Markige Blechbläserfanfaren veredeln die Schlussakkorde mit triumphalem Geist. Nach sechs kraftvollen Minuten ist man wie betäubt von dem Orchestersturm. Grażyna Bacewicz führte ihre unglaubliche Energie auf „einen kleinen, unsichtbaren Motor“ zurück, „dank dessen ich in zehn Minuten mache, wofür andere eine Stunde brauchen: Ich laufe, anstatt zu gehen, ich kann fünfzehn Briefe in einer halben Stunde schreiben, sogar mein Puls geht bedeutend schneller als bei anderen, und ich wurde schon im siebenten Monat geboren.“

Der Komponist und Musikschriftsteller Stefan Kisielewski (1911-1991) karikierte 1950 den desolaten Zustand der polnischen zeitgenössischen Musik, indem er am Beispiel von Grażyna Bacewicz aufzeigte, wie man es besser machen kann:

„Man darf mit gutem Gewissen sagen, dass dieses Mal die Würde der polnischen Komponisten von einer Frau, Grażyna Bacewicz, wiederhergestellt wurde. … Mit ihren kompositorischen Ideen hat sie uns endlich aus der Lethargie geweckt, indem sie in ihrer Arbeit einige Verweise auf Bach oder Händel macht, auf die Brandenburgischen Konzerte. Hier haben wir endlich ein ‘heißblütiges Stück’ gesunder und schmackhafter Musik, geschrieben mit männlicher Gestaltungskraft.“

So, da haben wir’s wieder, Frauen sind halt die besseren Männer.

Karol Szymanowski

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 op. 35

„Während des ganzen 19. Jahrhunderts hat der Glaube an die universale deutsche Musik gelebt. Die Legende von ihrem universalen Charakter gehört heute der Vergangenheit an, auch wenn die deutsche Musik weiterhin das reichste Vermächtnis der Weltmusikkultur bleibt.“

Es gärt

Es war eine Hassliebe, die den polnischen Komponisten Karol Szymanowski immer wieder auf die deutsche Musik schielen ließ, nicht anders als Claude Debussy in Frankreich auf Richard Wagner herabschaute. In seinem Ansinnen, der polnischen Musik zu einem modernen europäischen Antlitz zu verhelfen, ließ sich Szymanowksi zunächst gern in den Bann der deutschen Spätromantik ziehen. Er wusste, dass solche Orchesterfluten die polnischen Kritiker „mit Flüchen auf ihren blau angelaufenen Lippen“ aus dem Saal treiben würden. Und in seiner Positionsbestimmung fuhr Szymanowski fort, als müsste er sich selbst ermahnen, „eine große Musik kann auch auf einer anderen Grundlage als im Kreis der deutschen ‚Sensibilität’ entstehen. Auch die Rasseeigentümlichkeiten anderer nationaler Gruppen müssen auf das Niveau der höchsten musikalischen Werte gehoben werden. Es handelt sich freilich nicht nur um formale Valeurs, sondern auch um den ‚Geist’ der Musik, um ihren tiefsten Gehalt.“

Fin de siècle. Jahrhundertwende 1900. Tanz auf dem Vulkan. Letztes Aufbäumen vor dem Zusammenbruch. Opern zerbersten. Sinfonien verlöschen. Musikalische Gattungen verschwimmen wie impressionistische Aquarelle. Richard Strauss, Gustav Mahler, Alexander Skrjabin erweitern die Partituren ihrer Sinfonien um opulente, orchesterfremde Instrumental- und Vokalstimmen, Arnold Schönberg komponiert einen gigantischen Gattungszwitter, die „Gurrelieder“. Kurz danach fegt die formale Schroffheit und klangliche Unerhörtheit eines Strawinsky die romantischen Riesen vom Tisch. So ungefähr. Aber wo springt Szymanowski auf den rasenden Zug auf?

Von der Peripherie ins Zentrum

Musikgeschichte findet mitunter dort statt, wo sie kaum vermutet, geschweige denn wahrgenommen wird, auch geographisch. Karol Szymanowski stammt, der Name weist darauf hin, aus Polen.

Nicht aus Warschau, wo man auch vor knapp 150 Jahren noch am ehesten ein europäisch-hauptstädtisches Musikleben angetroffen hätte, sondern aus Tymoszówka, wo seine Eltern zum wohlhabenden Landadel zählten.

Die Kleinstadt liegt heute fast 800 km hinter der Grenze zu Polen auf ukrainischem Territorium. Der junge Szymanowski fuhr im Winter in die nächstgelegene Stadt: nach Kiew. Frühzeitig erhielt er die Möglichkeit einer gründlichen musikalischen Ausbildung, besuchte die Musikschule Gustav Neuhaus’ und versuchte sich schon bald an ersten eigenen Kompositionen.

Zur Fortsetzung seiner Studien (Harmonielehre, Komposition und Instrumentation) ging er 1901 nach Warschau, wo er Pawel Kochanski, Artur Rubinstein und Grzegorz Fitelberg kennenlernte.

Zusammen u.a. mit Fitelberg gründete Szymanowski im Herbst 1905 den „Vereinsverlag junger polnischer Komponisten“, der auf heftige konservative Kritik stieß. Waren Szymanowskis frühe Klavierkompositionen im Wesentlichen von Chopin und Skrjabin beeinflusst, so klangen seine ersten Orchesterwerke eher nach Wagner, Strauss und Reger. 1910 übersiedelte er nach Wien, wo er von 1910 bis 1914 lebte. Hier kümmerte er sich kaum um Mahler oder Schönberg, sondern lernte die Musik Debussys („Pelleas und Melisande“) und Ravels („Daphnis und Chloe“) kennen, poetisch strukturierte Musik, weniger schwer, weniger akademisch, weniger spätromantisch-tiefbrünstig als die deutsche; eine Musik auch, die „exotische“, orientalische Elemente sich zu eigen machte. Gleichwohl ist es hörbar dieselbe Zeit, in der Schönberg seine „Verklärte Nacht“, Mahler sein „Lied von der Erde“, Zemlinsky seine „Lyrische Sinfonie“, Schreker seine „Gezeichneten“ hervorbrachten.

Neuartige Anregungen erhält Szymanowski auf zwei Italienreisen (1909, 1910 Sizilien) und bei einem Aufenthalt in Nordafrika (1914) und in der Türkei. Die Begegnung 1914 in London mit Igor Strawinsky, dessen Arbeiten für die Ballets Russes von Sergei Diaghilew („Petruschka“, „Feuervogel“) ihn außerordentlich faszinieren, wird zu einem Schlüsselerlebnis ganz anderer Art und beeinflusst entscheidend die künftige musikalische Ausdrucksweise von Karol Szymanowski.

Intensive Studien erschließen ihm die antike arabische und die frühchristliche Kultur. Ganz besonders beeindrucken ihn der glutvolle Detailreichtum der byzantinischen Dekorationskunst, die er auf Sizilien antrifft und die ornamentale Sinnlichkeit der islamischen Kunst insgesamt. Genau davon weiß das Violinkonzert op. 35 ein Lied zu singen…

Unheimlich. Verführerisch.

Wo etwa bei den französischen Klassikern Saint-Saëns und Bizet klassisches Ebenmaß und kristalline Struktur die Orientierung erleichtern, trifft man bei Szymanowski auf Nacht und Nebel. Wegen einer Beinverletzung in der Kindheit vom Militärdienst befreit, verbrachte Szymanowski die Jahre des Ersten Weltkrieges auf dem Familiengut in Tymoszówka und zog sich in seine Innenwelt zurück. Allabendliches Musizieren mit der geliebten Schwester Stanislawa, einer ausgezeichneten Sopranistin, und gelegentlich mit dem befreundeten Geiger Pawel Kochanski ging einher mit intensiven Literaturstudien: Nietzsche, Goethe und zeitgenössische polnische Schriftsteller. Unter denen nahm Tadeusz Miciński (1873-1918) einen besonderen Platz ein. Das surreale, scheinbar halluzinatorische Gedicht „Mainacht“ inspirierte Szymanowski zu den fantastischen Klängen des Violinkonzertes Nr. 1. „Ich ging einmal durch die Kolonnaden, die Abderrahman für seine Geliebte errichtet hat, in der Amethystnacht war Shéhérazade, Talismane brannten am Himmel ... Ich hörte das Brüllen eines Esels – oh, wie verzweifelt – wie eine Hirtenflöte, wild und heiser. Aber noch nie war der menschliche Kehlkopf der Seele gewachsen. Es stöhnen die Verdammten aus dem Abgrund. … Pan spielt Rohrflöte im Eichenhain, Ephemeriden fliegen im Tanz über Blumen und Seen – in verliebter Umarmung, verwirrt, ewig jung, heilig...“ Szymanowski hatte das Thema Shéhérazade bereits im ersten seiner Klavierstücke „Masques“ behandelt. Gleich in den ersten Takten des Violinkonzertes stellt er den Zusammenhang her durch ein explizites Zitat aus dem Klavierstück.

Das Violinkonzert folgt einem einzigen großen Bogen. Das Soloinstrument öffnet ein Füllhorn melodischer Einfälle, es zaubert Beschwörungen in immerwährendem rhapsodischem Fluss. Dionysische Exaltation wechselt mit versonnener Psychospielerei.

Zur singenden Geige treten diverse Schlagzeuginstrumente hinzu. Kaum möchte man eine Figur mit dem ordnenden Verstand erfassen, hat sie sich bereits wieder verflüchtigt – und der nächsten Platz gemacht. Jeglicher angespannte Akademismus, wie er zeitgleich andere Komponisten umtrieb, ist diesem Werk Szymanowskis fern. So wäre es müßig, nach Themen und deren Entwicklung zu suchen. Alles befindet sich im Fluss, nichts ist abgeschlossen. Soloinstrument und Orchester definieren und interpretieren sich ständig neu, auch indem sie einander kommentieren. Prismatische Kleingliedrigkeit und großer melodischer Bogen gehen eine geheimnisvolle Symbiose ein. Die stilistische Vielgesichtigkeit spielt mit verschiedenen Verzierungstechniken im Solopart auf folkloristische, hörbar nichteuropäische Musik an. Das Raffinement des Orchestersatzes indes beruft sich auf Strawinsky, Ravel und Debussy. „Szymanowski erweist in diesem Nachtstück par excellence aber auch noch anderen Kollegen seine Referenz: Da klingt die sehnsüchtige Chromatik von Wagners ‚Tristan’ an, die sich ganz am Ende des Stückes in einem Beinahe-Zitat zu erkennen gibt, aber auch das ‚Vogelkonzert’ aus Schrekers ‚Fernem Klang’und der dunkle, dionysische Tonfall von Schrekers ‚Spielwerk’ – zwei Opern, die Szymanowski seit seiner in Wien mit Schreker geschlossenen Freundschaft besonders liebte.“ (Frank Harders-Wuthenow)

Die geplante Aufführung des Konzertes im Februar 1917 in St. Petersburg unter Leitung von Alexander Siloti mit Pawel Kochanski als Solist wurde wegen der revolutionären Ereignisse abgesagt. So fand die Premiere erst am 1. November 1922 in Warschau statt. Es spielte der Konzertmeister der Warschauer Nationalphilharmonie, Józef Oziminski, als Solist.

Der Widmungsträger, Szymanowskis langjähriger Freund und Vertrauter Paweł Kochański, der das Werk später noch häufig aufführen sollte, komponierte die Kadenz, die noch heute gebräuchlich ist.

Felix Mendelssohn Bartholdy

Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 („Schottische“)

Schottlands Raunen

Welche Musik beschwört sturmgepeitschten Regen über wilder Landschaft? Wie klingen Wolken, die sich vor die Sonne schieben? Mit welchen Tönen reagieren die Menschen auf ihre Umgebung? Felix Mendelssohn Bartholdy vermochte solche Fragen musikalisch zu beantworten. Denn wer wollte leugnen, dass seine „Schottische Sinfonie“ schottisch und die „Italienische“ italienisch klingt? Auch Robert Schumann vertraute dem geographischen Sinn, als er 1842 die neue Sinfonie seines Freundes rezensierte: „...so mögen wohl auch die Phantasie des Meisters, als er jene alten im schönen Italien gesungenen Melodien wieder in seinen Papieren fand, holde Erinnerungen umspielt haben, so dass, bewusst oder unbewusst endlich dieses zarte Tongemälde entstand.“ Was Schumann für italienische Melodien hielt, waren die herben Weisen aus Schottland.

Ein Meister in der Schilderung von Stimmungen, scheint Mendelssohn die „Schottische“ dem Land und dessen Leuten abgelauscht zu haben. Doch der Romantiker reflektiert, statt zu beschreiben: Das Balladenhafte macht den Reiz der „Schottischen“ aus.

Nicht Maria Stuart verewigt Mendelssohn in seiner Musik, sondern den Widerhall der alten Gesänge, die ihm in den Ruinen von vergangenen Zeiten zu künden scheinen. Keine Dudelsackmelodie übernimmt er direkt, aber das Klarinettenmotiv im Scherzo deutet suggestiv auf ein imaginäres Volksfest hin. An anderer Stelle übermannt den Komponisten ein Gefühl von Großartigkeit und Weite. Doch das widerfährt ihm auch in Italien. So wird „Robert Schumanns Fehlspekulation bei Lichte besehen immer verständlicher.“ (Hans-Christian Schmidt)

Gelebt und geliebt

1829 fuhr Felix Mendelssohn Bartholdy zum ersten Mal nach England, das ihn so beeindruckte, dass er in seinem kurzen Leben weitere neun Mal wiederkam.

In Großbritannien errang er seine ersten auswärtigen künstlerischen Erfolge. Im Frühjahr 1829 dirigierte er in London (wie vorher in Berlin) Bachs Matthäuspassion, spielte Klavierkonzerte von Weber und Beethoven und stellte im Lande Shakespeares seine „Sommernachtstraum“-Ouvertüre und weitere Kompositionen aus eigener Feder vor. Die Engländer waren begeistert von dem jungen, eleganten, geistreichen Deutschen, der so gewandt im Englischen sich auszudrücken wusste.

Nach getaner Arbeit begaben sich Mendelssohn und sein Freund Karl Klingemann im Juli 1829 auf Ferientour per Postkutsche und zu Fuß in die Northern Highlands nach Schottland und auf die Hebriden. Tief beeindruckt von rauer Landschaft, düsterer Geschichte und den Naturgewalten von Wasser und Luft, beschloss er anlässlich des Besuches der Ruinen von Schloss Holyrood bei Edinburgh die Komposition einer Sinfonie über dieses Land.

„In der tiefen Dämmerung gingen wir heut nach dem Palaste, wo Königin Maria gelebt und geliebt hat; es ist da ein kleines Zimmer zu sehen, mit einer Wendeltreppe an der Tür (...). Der Kapelle daneben fehlt nun das Dach, Gras und Efeu wachsen viel darin, und am zerbrochenen Altar wurde Maria zur Königin von Schottland gekrönt. Es ist da alles zerbrochen, morsch, und der heitere Himmel scheint hinein. Ich glaube, ich habe heut da den Anfang meiner Schottischen Symphonie gefunden.“

Tatsächlich notierte er damals vor Ort die ersten sechzehn Takte der langsamen Einleitung, ein Thema, das er noch mehrmals, u.a. in den Oratorien „Elias“ und „Paulus“ verwenden sollte. Auch die „Hebriden“-Ouvertüre geht auf diese Reise zurück, doch kein Takt zwischen beiden Werken wäre austauschbar.

Beflügelnde Tristesse

Wie stark Mendelssohn beim Arbeiten von Umgebung und Bedingungen abhängt, zeigt die weitere Entstehungsgeschichte der „Schottischen“. 1830 bricht er nach Italien auf, um 1831 aus Rom zu schreiben: „Vom 15. April bis 15. Mai ist die schönste Jahreszeit in Italien: – wer kann es mir da verdenken, dass ich mich nicht in die schottische Nebelstimmung zurückversetzen kann? Ich habe die Symphonie deshalb für jetzt zurücklegen müssen.“ Die Skizzen aus Italien zeitigen eine andere Sinfonie – nicht minder ein typisches Lebensgefühl treffend.

Zur „Schottischen“ kehrt Mendelssohn erst wieder im Winter 1841/1842 in Berlin zurück. Hier findet er die notwendige Tristesse, um sich in „schottische Nebelstimmung“ versetzen zu können. Gerade hat ihm der preußische König eine Lebensstellung an seinem Hof verweigert. Und die Singakademie übergeht Mendelssohn und wählt einen anderen zum Direktor. So wird die „Schottische“ am 3. März 1842 im Gewandhaus zu Leipzig uraufgeführt. Mendelssohn dirigiert sie kurz darauf in England und widmet sie der Königin Victoria von Großbritannien und Irland. Noch zu seinen Lebzeiten erscheint sie in Leipzig bei Breitkopf & Härtel gedruckt.

Krieg der Melodien

Musikalisch folgt die „Schottische“ den Fußstapfen von Beethovens „Pastorale“ mit ihren Naturschilderungen. Beide haben eines gemeinsam: Beethovens Prämisse „mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“. Nicht das Faktum an sich, sondern das von ihm ausgelöste Gefühl wird Musik.

Alle vier Sätze erwachsen aus einer einheitlichen Grundstimmung. Mendelssohn wollte sie nahtlos aneinander (attacca) aufgeführt wissen, wie er sich als Dirigent sowieso leidenschaftlich gegen die „stimmungsmordenden“ Hüstel-Pausen zwischen den Sätzen einer Sinfonie wandte.

Wenn den Sätzen dennoch Charaktere zuzuordnen wären, stünde der erste Satz für die „Nebelbilder“ (mit Coda aus Gewitter und Sturm), der zweite gäbe den volkstümlichen Liedern der einfachen Leute Ausdruck, der dritte stimmte einen pastoral-elegischen Gesang an – nicht ohne hymnisches Blühen im Mittelteil, und der letzte Satz bezöge sich auf die kriegerischen Ereignisse in der schottischen Geschichte. Fünf „Liedanfänge“ kämpfen im Finale (das ursprünglich „Allegro guerriero“ heißen sollte) keine wirklich grausige Schlacht. Sie tummeln sich vielmehr auf stürmischer See vor der schottischen Küste. Schließlich ist der sichere A-Dur-Hafen erreicht.

Texte © Steffen Georgi

Kurzbiographien

Marta Gardolińska

Marta Gardolińska ist derzeit Musikdirektorin der Opéra National de Lorraine und Erste Gastdirigentin des Orquestra Simfònica de Barcelona. Internationale Aufmerksamkeit erlangte sie 2018 als Young Conductor in Association beim Bournemouth Symphony Orchestra, wo sie zwei sehr erfolgreiche Abonnementkonzerte leitete. Dies führte zu einem Dudamel-Stipendium beim Los Angeles Philharmonic in der Saison 19-20, das eine Einladung als zweite Dirigentin neben Gustavo Dudamel für die mit einem Grammy ausgezeichnete Live-Aufnahme der Ives-Sinfonie Nr. 4 durch die Deutsche Grammophon beinhaltete. Anschließend kehrte Marta nach Los Angeles zurück, um ihr Debüt mit dem Orchester in der Hollywood Bowl zu geben, gefolgt von einer sofortigen Wiedereinladung.

In dieser Saison kehrt Marta zum Swedish Radio Symphony Orchestra zurück und gibt ihr Debüt beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem Toronto Symphony Orchestra, dem Minnesota Orchestra sowie beim Stavanger Symphony Orchestra, dem Oslo Philharmonic, dem RAI Torino Orchestra und dem Hallé Orchestra. Marta wird außerdem ihr Debüt an der Dresdner Semperoper geben, wo sie La Traviata dirigieren wird, und sie wird Eugen Onegin an der Opéra National de Lorraine dirigieren.

Zu den jüngsten Höhepunkten zählen Debüts mit dem London Symphony Orchestra, dem Swedish Radio Symphony Orchestra, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dem Orchestre National du Capitole de Toulouse, dem Orchestre Chambre de Paris, dem Royal Scottish National Orchestra, dem Polish National Radio Symphony Orchestra und dem Scottish Chamber Orchestra.

Bomsori Kim

„Diese Geigerin ist zu allem bereit: Mit Virtuosität, Präsenz, Klarheit und einem warmen, reichen Ton versteht es Bomsori, sich jeden Moment zu eigen zu machen“ – Crescendo Magazine

Im Februar 2021 unterzeichnete Bomsori in Berlin den Exklusivvertrag mit dem Label Deutsche Grammophon.
Bomsori hatte das Privileg, unter der Leitung zahlreicher Dirigenten wie Fabio Luisi, Jaap van Zweden, Marin Alsop, Lahav Shani, Vasily Petrenko, Pablo Heras-Casado, Hannu Lintu, Sakari Oramo, Anja Bilhmaier und Giancarlo Guerrero mit zahlreichen führenden Orchestern aufzutreten, darunter das New York Philharmonic, das Dänische Nationalorchester, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Moskauer Symphonieorchester, Montreal Symphony Orchestra, Belgisches Nationalorchester, Warschauer Nationalphilharmonie, NDR Radiophilharmonie Hannover, Finnisches Radio-Sinfonieorchester, Helsinki Philharmonic Orchestra, Camerata Salzburg, Münchner Kammerorchester, Kammerorchester Basel u.a.

Neben dem Gewinn des 62. Internationalen Musikwettbewerbs der ARD ist Bomsori Preisträgerin des Internationalen Tschaikowsky-Wettbewerbs, des Queen-Elisabeth-Wettbewerbs, des Internationalen Jean-Sibelius-Violinwettbewerbs, des Internationalen Joseph-Joachim-Violinwettbewerbs Hannover, des Internationalen Musikwettbewerbs Montreal, des Internationalen Musikwettbewerbs Sendai und des 15. Internationalen Henryk-Wieniawski-Violinwettbewerbs. Bomsori erhielt 2018 den Young Artist Award des koreanischen Ministeriums für Kultur, Sport und Tourismus und 2019 den Young Artist Award der Korean Music Association. Im Jahr 2020 wurde sie von der Stiftung Academia Platonica mit dem 4th G.rium Artists Award ausgezeichnet.
Im Juni 2021 veröffentlichte Bomsori ihr erstes Deutsche-Grammophon-Soloalbum, Violin on Stage, mit der NFM Breslauer Philharmonie und Giancarlo Guerrero; das Duo-Album mit dem Pianisten Rafał Blechacz mit Werken von Fauré, Debussy, Szymanowski und Chopin erschien im Februar 2019 bei der Deutschen Grammophon.

Sie spielt auf der Guarnerius del Gesù-Violine „ex-Moller“, Cremona, 1725, die dank der großzügigen Bemühungen der Samsung Foundation of Culture of Korea und der Stradivari Society of Chicago, Illinois, ausgeliehen wurde.

Das RSB im Konzerthaus Berlin, Foto: Peter Meisel

Abendbesetzung

Violine 1

Wolters, Rainer
Herzog, Susanne
Neufeld, Andreas
Bondas, Marina
Beckert, Philipp
Drechsel, Franziska
Kynast, Karin
Feltz, Anne
Tast, Steffen
Stangorra, Christa-Maria
Sak, Muge
Leung, Jonathan

Violine 2

Contini, Nadine
Petzold, Sylvia
Draganov, Brigitte
Eßmann, Martin
Buczkowski, Maciej
Hetzel de Fonseka, Neela
Palascino, Enrico
Shalyha, Bohdan
Cazac, Cristina
Moroz, Georgii

Viola

Regueira-Caumel, Alejandro
Adrion, Gernot
Silber, Christiane
Markowski, Emilia
Doubovikov, Alexey
Maschkowski, Anastasia
Roske, Martha
Yu, Yue

Violoncello

Eschenburg, Hans-Jakob
Riemke, Ringela
Breuninger, Jörg
Boge, Georg
Weigle, Andreas
Kipp, Andreas
Fijiwara, Hideaki
Kim, Jean

Kontrabass

Wagner, Marvin
Figueiredo, Pedro
Rau, Stefanie
Schwärsky, Georg
Ahrens, Iris
Gazale, Nhassim

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Flöte

Schaaff, Ulf-Dieter
Schreiter, Markus
Dallmann, Franziska

Oboe

Papai, Szilvia
Grube, Florian
Herzog, Thomas

Klarinette

Kern, Michael
Pfeifer, Peter
Korn, Christoph
Simpfendörfer, Florentine

Fagott

You, Sung Kwon
Voigt, Alexander
Kopf, Mario

Horn

Kühner, Martin
Klinkhammer, Ingo
Stephan, Frank
Hetzel de Fonseka, Felix

Trompete

Kupriianov, Roman
Niemand, Jörg
Gruppe, Simone

Posaune

Hölzl, Hannes
Hauptmann, Nicolai
Lehmann, Jörg

Tuba

Neckermann, Fabian

Harfe

Edenwald, Maud
Dessus, Anne

Percussion

Tackmann, Frank
Thiersch, Konstantin
Schmid, Adrian
Mertens, Max
De Groote, Sophie

Pauke

Eschenburg, Jakob

Celesta/Klavier

Inagawa, Yuki
Von Radowitz, Florian

Bild- und Videorechte

Portrait Marta Gardolińska © Bart Barczyk
Portraits Bomsori Kim © Kyutai Shim
https://www.youtube.com/watch?v=yKbjJ7mOmGE
Bilder Orchesterprobe © Peter Meisel
https://www.youtube.com/watch?v=Z2pFA_BolGU