Digitales Programm

Sa 22.10.
Antonello Manacorda
Maximilian Hornung

20:00 Konzerthaus

 

 

Camille Saint-Saëns
(1835 – 1921)
„La Danse macabre“ –
Sinfonisches Poem g-Moll op. 40

Camille Saint-Saëns
Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1
a-Moll op. 33

Pause

Camille Saint-Saëns
Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 2
d-Moll op. 119

Jean Sibelius
(1865 – 1957)
Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82

Besetzung

Antonello Manacorda, Dirigent
Maximilian Hornung,Violoncello
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB)

 

Konzerteinführung von Steffen Georgi
19.10 Uhr
Ludwig-van-Beethoven-Saal

 

Sendetermin

23.10.2022 20:03 Deutschlandfunk Kultur

Leidenschaft aus dem Norden

Vielleicht sollten Italiener wie Antonello Manacorda die stolze Musik des Nordländers Sibelius öfter dirigieren. Denn Sibelius verstand sich als ein leidenschaftlicher Bewunderer des europäischen Südens, für den die „nordische Melancholie die Sehnsucht nach dem aus der Ferne idealisierten Süden“ (Tomi Mäkelä) verkörperte. Vor der stolzen Sinfonie Nr. 5 des finnischen Komponisten flutet Musik von Camille Saint-Saëns den Konzertsaal. Zwei Cellokonzerte, eines brillanter als das andere, und vielleicht gerade deswegen nicht episch weitschweifend, hat der weitgereiste französische Beethovenverehrer komponiert. So kann Maximilian Hornung sein Können gleich an beiden Werken demonstrieren. Den roten Teppich aber legt sich (und uns) Saint-Säens selber aus, einen Ohrwurm mit geradezu teuflischem Grinsen: „La Danse macabre“.

Alle Texte von Steffen Georgi ©

Podcast "Muss es sein?"

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„Camille Saint-Saëns weiß alles, aber es mangelt ihm an Unerfahrenheit.“

Hector Berlioz

Camille Saint-Saëns

La danse macabre

Mouvement modéré de Valse

Echt makaber

Welches Instrument spielen wohl Tod und Teufel? Spielen sie die Pauke? Oder spielen sie vielleicht die Posaune? Nein, die Violine spielen sie! Betören wollen sie uns, verführen, locken und umgarnen. Auch heute Abend obliegt es dem RSB-Konzertmeister Rainer Wolters, den charmanten Tod zu geben, dessen Geigenseufzer im Tonfall des Franzosen Camille Saint-Saëns zur Konzerthausdecke aufsteigen mögen.
Dem ohrwurmträchtigen Orchesterwerk „La Danse macabre“ ging ein Lied voraus, das Camille Saint-Säens 1872 auf das Gedicht „Égalité – Fraternité“ von Henri Cazalis komponiert hatte. Das Gedicht wiederum greift einen alten französischen Aberglauben auf, wonach der Tod jedes Jahr in der Walpurgisnacht mit seiner Geige die toten Seelen verlockt, bis zum Morgengrauen für ihn zu tanzen. Die Teufelsgeige ist absichtlich unrein gestimmt, nämlich muss die E-Saite per „Skordatura“ einen halben Ton tiefer – auf Es – abgesenkt werden, so dass die beiden oberen Violinsaiten im Abstand eines Tritonus, des sogenannten „Diabolus in musica“ intoniert sind. Für das Orchesterwerk verzichtet Saint-Saëns zwar auf den Text, umso deutlicher spricht seine Musik. Diese Qualität des sinfonischen Erzählens bewunderte der Franzose bei Franz Liszt, mit dem er befreundet war. Liszt wiederum - der seinerseits 1849 einen „Totentanz“ für Klavier und Orchester komponiert hatte - wandelte Saint-Säens‘ Werk in eine Klavierfassung um und verhalf ihm dadurch zu enormer Popularität. Die war am Ende so groß, dass Saint-Säens in seinem berühmten „Karneval der Tiere“ reichlich selbstironisch aus dem eigenen „Totentanz“ zitierte.

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In deutscher Übersetzung als „Totentanz“ nimmt sich „La Danse macabre“ hölzern-bedrohlich aus. Doch Saint-Saëns‘ französische „Danse macabre“ ist ein sinfonisches Poem im Walzertakt, sie bündelt auf engstem Raum seine blitzendsten Fähigkeiten: Ekstase stockt zu Stille, Spuk kippt in Jubel.

Henri Cazalis
Égalité – Fraternité
(Gleichheit – Brüderlichkeit)

Zick und zick und zack, im Takt
Schlägt der Tod mit den Hacken aufs Grab,
Der Tod spielt zur Mitternacht einen Reigen,
Zick und zick und zack, auf seiner Geige.

Der Winterwind weht, die Nacht ist finster,
Aus den Linden kommt ein Stöhnen;
Weiße Skelette huschen durch die Schatten,
Laufen und springen unter weiten Leichentüchern,

Zick und zack und zick und zack, ein jeder zappelt,
Man hört die Knochen der Tänzer klappern,
Ein laszives Paar lässt sich nieder im Moos,
Wie um lange entbehrte Süße zu kosten.

Zick und zack und zack, und weiter schabt der Tod
endlos auf seinem schrillen Instrument.
Ein Schleier ist gefallen! Die Tänzerin ist nackt!
Ihr Partner umarmt sie verliebt.

Die Dame sei eine Marquise oder Baronin, sagt man,
Und der Grünschnabel ein armer Stellmacher.
Wie grässlich! Und nun gibt sie sich hin,
Als ob der Rüpel ein Baron wäre!

Zick, zick und zick, was für ein Tanzboden!
Welch ein Totenreigen, der sich hier vergnügt!
Zick, zack und zack, man sieht in der Runde,
Wie der König neben dem Schurken springt!

Doch pst! Der Tanz ist plötzlich aus,
Rennen und Drängeln, der Hahn hat gekräht;
Ach! Wie schön war’s für die Armen!
Et vive la mort et l‘égalité!

Sie treiben es bunt

Freilich huscht in diesem wilden Tanz der Spuk einer Walpurgisnacht vorüber, stöhnen verdammte Seelen, kichern lüsterne Hexen, bimmeln fromme Glöckchen. Ausgehend von zwölf Glockenschlägen der Harfe wähnen wir uns dank eines sanften Streicherteppichs zunächst in beschaulicher Nachtstimmung. Mitten hinein kreischt die Teufelsgeige ihren dissonanten Weckruf. Wie fremdgesteuert beginnen die Skelette ihren Tanz, immer wilder ruft sie die Geige zu Ekstase und Zügellosigkeit. Erstmals verwendet Saint-Saëns im Orchester das Xylophon. Wofür steht wohl das Geklapper? Immer lauter, immer schneller treiben es die Skelette, fast möchte man sagen „atemlos“. Doch alsbald kräht der Hahn mit Oboenstimme, den Morgen ankündigend. Schluss mit lustig. Die Toten schleichen in ihre Gräber zurück. Der Tod packt die Geige ein - bis zum nächsten Jahr.

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„Ich liebe das, was mich berührt, mehr als das, was mich überrascht.“

Camille Saint-Saëns

Camille Saint-Saëns

Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 33

Allegro non troppo – Animato – Allegro molto – Tempo I
Allegretto con moto – (cadenza) – Tempo I – Un peu moins vite
Molto allegro

Wo uns das Herz aufgeht

„Ich liebe das, was mich berührt, mehr als das, was mich überrascht“. Dieser Satz des französischen Komponisten François Couperin aus dem 18. Jahrhundert eignet sich ideal, um ihn dem auch in der Musikwelt aktuell zu beobachtenden „Verblüffungsmarketing der Berufsinnovatoren“ entgegenzusetzen, wie der F.A.Z.-Musikkritiker Jan Brachmann befindet.


„Auch für Camille Saint-Saëns, einen großen Rationalisten französischer Musik, war 150 Jahre später die Vernunft nur ein Vorraum des Hörens und die Innovation allenfalls ein Nebenprodukt der Bezauberung. Die Musik müsse vielmehr dorthin reichen, so Saint-Saëns, wo ‚uns das Herz aufgeht‘.“ Das sollte dem Komponisten im ersten Violoncellokonzert gelungen sein, wenn man dem Uraufführungs-Rezensenten der Revue et gazette musicale de Paris glauben möchte: „Wir müssen sagen, dass uns das Cellokonzert als ein schönes und gutes Werk von ausgezeichnetem Gefühl und vollkommener Geschlossenheit erscheint, und wie immer ist die Form von größtem Interesse.“ Die Form bezieht ihren Reiz aus der gleichsam durchkomponierten Qualität des Konzertes. Alle drei Sätze gehen attacca ineinander über. Außerdem benutzen sie das gleiche thematische Material, so dass auch von innen heraus eine Klammer zwischen den charakterlich sehr unterschiedlichen Teilen besteht. Schließlich gelingt es dem Komponisten, das solistische Violoncello nicht nur virtuos zu fordern, sondern all seine musikalischen Reize wirklich hörbar zu machen, ohne vom Klang des Orchesters zugedeckt zu werden. Dazu bedient sich Saint-Saëns einer so ausgetüftelten wie natürlich erscheinenden Orchesterbehandlung. Mehr noch:

Saint-Saëns setzt das Orchester als echten Partner des Solisten ein, welches auf Augenhöhe am musikalischen Geschehen beteiligt ist.

Diese Errungenschaft Mozarts und Beethovens ist im 19. Jahrhundert in Frankreich noch nicht sehr populär. Berlioz und Saint-Saëns wollen daran ganz entschieden etwas ändern.
Zuletzt sei Franz Liszt erwähnt, dessen Idee der sinfonischen Dichtung großen Einfluss auf das musikalische Denken von Camille Saint-Saëns hat. Die Einsätzigkeit auf der Basis eines übergreifenden thematischen Materials verbunden mit einer facettenreichen Erzählkunst im a-Moll-Cellokonzert des Franzosen gehen direkt auf Liszt zurück. So ist es die glückliche Vereinigung der lyrischen Qualität des Soloinstrumentes mit stupender instrumentaler Virtuosität und sorgfältiger Orchesterbehandlung, welche das Werk zu einem Meisterwerk der Gattung qualifiziert. Nicht nur Dmitri Schostakowitsch und Sergei Rachmaninow sehen im Violoncellokonzert Nr. 1 von Saint-Saëns das größte aller bis dahin komponierten Cellokonzerte.

Camille Saint-Saëns

Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 2 d-Moll op. 119

Allegro moderato e maestoso
Andante sostenuto – Più mosso – Tempo I
Allegro non troppo – Cadenza ad libitum
Mouvement du premier morceau – Molto allegro

Zweiter Versuch

Dreißig Jahre ist es her, dass Camille Saint-Saëns mit dem Violoncellokonzert a-Moll Maßstäbe für die Gattung gesetzt hat. 1902 widmet er sich erneut dieser Besetzung, inzwischen um mannigfaltige Erfahrungen reicher. Immerhin erlebt der 1835 Geborene die dramatischen Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen um die vorletzte Jahrhundertwende hautnah mit. Ein Bannerträger Beethovens in Frankreich, avanciert er bis zu seinem Tod 1921 zu einem der ersten Filmkomponisten der Welt. Mit dem in Deutschland ausgetragenen Parteienstreit zwischen den vermeintlich Konservativen um Brahms und den Neudeutschen um Liszt im Gefolge Wagners hat er sich ebenso auseinanderzusetzen wie mit dem Impressionismus Claude Debussys und den nachfolgenden modernen Strömungen. Der Untergang der französischen Monarchie und der Erste Weltkrieg fallen in seine Lebensspanne.
Und dennoch ist Saint-Saëns auch im zweiten Violoncellokonzert immer noch er selbst.

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Er bringt mitten in unsere moderne Unruhe etwas von der Süße und Klarheit vergangener Zeiten, etwas, das wie das Fragment einer verschwundenen Welt erscheint.

Romain Rolland, 1908

Vergleichbar interessant ist erneut die Form des Werkes. Zwei Sätze diesmal, die ihrerseits mehrfach unterteilt sind und erhebliche Kontraste in sich bergen, und doch überwölbt ein übergreifender, zyklischer Zusammenhalt das gesamte Werk. „Der erste Satz besteht aus einem kraftvoll bewegten Kopfsatz und einem lyrischen ornamentischen langsamen Satz. Der zweite Satz führt nach einem Perpetuum mobile-Allegro über eine frei deklamierende Kadenz des Solisten zur Wiederaufnahme des Anfangs des Kopfsatzes, um Molto allegro mit leidenschaftlicher Verve zu schließen.“ (Christoph Schlüren) Trotz der Virtuosität des Vorgängerwerkes wartet das d-Moll-Cellokonzert noch einmal mit einem gesteigerten Schwierigkeitsgrad auf. Stellenweise schreibt der Komponist den Solopart in zwei Notensystemen, wie es sonst nur bei Klavierwerken üblich ist.

Die Urauführung am 4. Februar 1905 in Berlin spielt der niederländische Cellist und Widmungsträger des Konzertes Joseph Hollmann. Camille Saint-Saëns ist sich jedoch von Anfang an bewusst: „Der Schwierigkeitsgrad des Werkes ist viel zu hoch, als dass es den gleichen Erfolg haben könnte wie mein erstes Cellokonzert.“ Mögen die Fertigkeiten solch herausragender heutiger Cellisten wie Maximilian
Hornung daran etwas ändern!

Jean Sibelius

Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82

In einem Satz

Schluss mit unserer Zivilisation
Wie schreibt man anno 1915 Sinfonien? Das Potential der Jungen hatte jahrzehntelang nur dem Zweck gedient, das Bestehende zu vervollkommnen und im Zuge dessen eines Tages alt zu werden. Doch am Ende des Jahrhunderts hatte sich der kollektive ödipale Druck über mehrere Generationen bis zum Bersten aufgestaut. Beflügelt von der Technikbegeisterung des anbrechenden Industriezeitalters und mit schäumendem nationalem Über-Mut riss das neue Jahrhundert das Erbe der Väter nieder und stürmte vorwärts und hinein in den Ersten Weltkrieg. Die alte Kultur explodierte, implodierte, versank, zerfiel, ignorierte selbstverliebt Katastrophen, rettete sich auf Inseln und musste doch der Moderne Platz machen.


Jean Sibelius hatte 1911 mit der Sinfonie Nr. 4 ein herbes Werk vorgelegt, ein Dokument der Rat- und der Ruhelosigkeit, die sich dem gefälligen Hören erheblich versperrte. 1912 versetzte ihn der Untergang der „Titanic“ in tiefes Nachdenken. Am 18. August 1914, wenige Tage nach Ausbruch des Krieges, notierte er: „Vermutlich Schluss mit unserer Zivilisation.“ Während des Krieges fühlte er sich zurückgeworfen auf ein kleines Dasein am Rande der sich untereinander mordenden „Zivilisation“, abgeschnitten von den kulturellen Verwerfungen, aber auch irgendwie davor bewahrt. Sibelius und mit ihm einige andere Komponisten wie Elgar, Stanford, Vaughan Williams, Bruch, Reger oder Strauss verstanden sich nicht als Lordsiegelbewahrer der hergebrachten Kunst, aber die aus ihrer Sicht pubertären Schrillheiten vieler Kollegen waren ihre Sache noch viel weniger.

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Jean Sibelius, 1913

Naturmystik und Lebensangst
Sibelius beschloss, das Formmodell der Sinfonie umzuschmieden. Er rückte wieder ab von den harmonischen Vorposten, die er in der Vierten eingenommen hatte, befragte aber die grundsätzliche Struktur eines erklärtermaßen Hauptwerkes seiner Kunst. So nimmt es nicht Wunder, dass in der Frühphase der Komposition ab Frühjahr 1912 weder die Gattung noch irgendeine benennbare Form klar vor seinem inneren Auge standen. Er notierte musikalische Ideen, Inspirationen, ohne zu wissen, ob er sie für eine Oper, ein Streichquartett oder eine Sinfonie verwenden würde. Von Tonpoem und sinfonischer Fantasie war die Rede, einsätzig, mehrsätzig, thematisch zusammenhängend, optimistisch oder depressiv? Wer weiß schon, wohin die Reise geht?


Im Sommer 1914, voller trotziger Hoffnung, richtete Sibelius sich innerlich daran auf, dass ihm just nach Ausbruch des Weltkrieges „ein wunderbares Thema“ eingefallen wäre. Wenige Wochen später hieß es in einem Brief an Axel Carpelan: „Wieder weit unten. Aber ich kann schon den Berg sehen, den ich mit Sicherheit besteigen werde (…) Gott wird die Tür für einen Augenblick öffnen und sein Orchester wird die Sinfonie Nr. 5 spielen.“ Ein solcher Moment ereignete sich am 21. April 1915:

Heute um zehn vor 11 habe ich sechzehn Schwäne gesehen. Eines meiner größten Erlebnisse! Herrgott, welche Schönheit! Sie kreisten lange über mir. Verschwanden im Sonnendunst wie ein glitzerndes Band. Ihr Ruf gehört dem gleichen Holzbläsertyp an wie der von Kranichen. Der Schwanengesang ist jedoch der Trompete ähnlicher… Ein leiser Refrain, der an das Weinen eines kleinen Kindes erinnert. Naturmystik und Lebensangst! Das Thema des Finales der Fünften Sinfonie: Legato in den Trompeten!!

Jean Sibelius

Erde, Würmer und Elend
Genauso sollte es am Ende werden. Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Immer wieder legte Sibelius das Manuskript zugunsten anderer Werke zur Seite, zweifelte daran, dass ihm die Sinfonie je gelingen würde. „Am Abend war ich mit der Sinfonie beschäftigt. Diese wichtige Beschäftigung, die mich geheimnisvoll fasziniert. Als ob unser Herrgott Mosaikstücke aus dem Boden des Himmels heruntergeworfen hätte und anschließend mich gebeten hätte, herauszufinden, was für ein Muster dort gewesen ist.“ Dann plötzlich: „Die Herbstsonne scheint. Die Natur leuchtet in Abschiedsfarben. Mein Herz singt wehmütig und die Schatten werden länger. Adagio meiner Sinfonie Nr. 5? Dass ich, ein armer Kerl, so reiche Momente erleben darf!“ (10. Oktober 1915). Und: „Mir ist ein wunderbares Thema eingefallen. Adagio für meine Sinfonie – Erde, Würmer und Elend, Fortissimo und Sordinen, viele Dämpfer. Aber die Melodien göttlich!!“ (November 1915).


Bereits kurz nach der Uraufführung griff der Komponist erneut tief in die Substanz der Sinfonie ein, fasste u.a. den ersten und zweiten Satz zu einem kontrastreichen Doppelsatz zusammen und verstärkte die bemerkenswerte Schlusslösung im Finale durch instrumentale Reduktion. Schließlich folgte 1919 noch eine dritte Fassung, die dem langsamen Satz mehr Raum und Dichte gab, aber auch im Finale einige Änderungen rückgängig machte. Der Komponist am 22. April 1919, erleichtert: „Sinfonie Nr. 5 – mirabile, oder soll ich sagen horribile dictu. Fertig, in ihrer endgültigen Fassung. Ich habe mit Gott gerungen.“ Bereits sechs Tage später der nächste Zusammenbruch, Sibelius wollte die Sätze II und III ganz streichen, tat es dann doch nicht. Noch einmal legte er Hand ans Finale, dann endlich: „Jetzt ist sie gut.“


Für den Sibelius-Biographen Erik Tawaststjerna öffnete die Sinfonie 1978 den Blick auf das Universum: „Die Sinfonie Nr. 5 tönte in meinem Kopf, als ich den ersten Mondspaziergang der Astronauten im Fernsehen sah und ich erfuhr später, dass BBC gerade diese Töne als Hintergrundmusik für die Landung auf den Mond benutzt hatte. Und von da gingen die Reisen meiner Fantasie sowohl zeitlich als auch räumlich immer weiter: Zur Entstehung und zum Untergang der Planeten, zum Funkeln der fernen Milchstraßen.“

Ringen mit Gott
Es zeichnet das hohe Ethos des Sinfonikers Sibelius aus, dass er nicht Kunst um der Kunst willen anfertigte (wie etliche seiner zeitgenössischen Kollegen), sondern dass er mit einer Sinfonie ein Bekenntnis ablegen wollte. Dieses konnte von Sinfonie zu Sinfonie ein anderes sein, gemeinsam war ihnen allen jedoch der Anspruch, menschheitsrelevante Botschaften aufzuspüren und zu übermitteln. So findet der tiefe Höreindruck des ersten Satzes der Sinfonie Nr. 5 einen möglichen Erklärungsansatz. Zu vernehmen sind im Tempo molto moderato und im eher unauffälligen 12/8-Takt ein vages Hörner-Erwachen, einzelne Vogelstimmen (Fagotte, Oboen, Flöten). Trotz eines einsetzenden Violinthemas mit gegenrhythmischen Akzenten und einer Trompetenfanfare (mit Flötenecho) bleibt die Musik über lange Zeit unentschlossen. Tremolo-Klangflächen repräsentieren Unruhe ohne Ereignisse.

Pauken Pauken

Verantwortung für das latente Rumoren tragen nicht zuletzt die Pauken, sie sind fast immer präsent, meist unterschwellig.

Das langsam sich steigernde Wachsen und Suchen in der Natur gemahnt mitunter an Bruckner, aber ohne dessen architektonisch ordnende Bauprinzipien aufzugreifen. Erik Tawaststjerna hat die Themen für die Sinfonie Nr. 5 in Sibelius‘ Skizzenbuch gründlich analysiert. Der Musikwissenschaftler kristallisiert zwei Thementypen heraus: solche aus „Schrittimpulsen“ und solche aus „Schaukelimpulsen“. Letztere vermögen zu schwingen, sich aufzuschwingen, eine späterhin wichtige Qualität!


Fast unmerklich nehmen alle Parameter allmählich Fahrt auf, Tempo und Lautstärke, Instrumentierung und Dichte, Tonumfang und Formbewusstsein. Ein Largamente bremst die Entwicklung erneut aus und provoziert einen weiteren Anlauf, ein geschlosseneres Auftreten von thematischen Gedanken (forte e patetico), eine Lösung aus der ohnehin nicht sonderlich starken Es-Dur-Bindung hin zu einem befreienden H-Dur und ein Totalcrescendo über acht Takte (poco a poco meno moderato – al Allegro moderato, 3/4-Takt), das sich noch weiter steigert, ma poco a poco stretto.


Aus dem Fluss heraus hat soeben der ursprünglich zweite Satz begonnen, ein Scherzo, ohne anfangs als solches erkennbar zu sein. Ein Weg scheint gefunden, auch die Rückkehr nach Es-Dur geschieht problemlos und völlig selbstverständlich. Holzbläser dominieren über einem freudig-unruhigen Streichergrund. Marcatissimo – wieder in H-Dur – setzt die Trompete (mit Paukenunterstützung) ein neues Thema. Die Hörner und ein Fagott stimmen bekräftigend ein, die Flöten antworten relativierend. Erstaunlicherweise behalten sie Recht. Das von den Flöten vereinfachte Thema etabliert sich, treibt durch alle Instrumentengruppen das Geschehen weiter voran in Richtung Vivace molto. Jetzt endlich, so scheint es, ist der Komponist in seinem Element. Energiewelle auf Energiewelle jagt dem Schlusspresto entgegen, mit dem der große Doppelsatz in strahlendem Es-Dur ostentativ verhallt.

Schwäne und Kraniche und Wildgänse
Choralartige Liegeakkorde der Hörner, Klarinetten und Fagotte eröffnen den langsamen Satz, Andante mosso, quasi allegretto. In lichtem G-Dur und in wiegendem 3/2-Takt steigt ein verschmitztes, an eine Volksmelodie erinnerndes Pizzicato-Thema in den Streichern auf, assistiert von den die Töne sachte hintupfenden Flöten. Eine Naturidylle à la Mahler entfaltet ihren Charme, Beethovens „Pastorale“ scheint als Vorbild auf. Nach einer deftigeren Passage – auch dies im Sinne zum Beispiel von Beethovens „lustigem Zusammensein der Landleute“ – beruhigt ein Quasi-Trio-Mittelteil (Tranquillo) in Es-Dur die Gemüter. Sibelius gelingt eine behutsame Rückblende in den A-Teil. Doch er wiederholt ihn nicht einfach, sondern gestaltet ihn als mehrfach variierte und in der Substanz erweiterte Version. Dann passiert etwas: Nach einem Pianissimo-Scharnier dräuen die Blechbläser mit düsteren Dissonanzen und ganztönig aufragenden melodischen Zeigefingern. Doch die Streicher bewahren in ihrem stoischen Pizzicato die Contenance und führen den Satz zusammen mit den Holzbläsern in einen sonnigen Schluss.


Das Finale nun, Allegro molto, ist der bemerkenswerteste Satz der Sinfonie, der ihr ohne Zweifel den Ruhm eingebracht hat. Er beginnt mit einem Perpetuum mobile der Streicher, auf das die Hörner ihr feierlich-erhabenes Hymnenthema aus leeren Quinten, Sexten und Septen setzen, eben den eingangs erwähnten Schwanengesang. Das Thema hat Orgelpunktqualität und entfacht eine erste Ausbreitungsphase des Majestätischen im ganzen Orchester. Aber es ist noch zu früh für die Apotheose. Es folgt ein freudig wispernder Mittelteil (Misterioso), in den die Kontrabässe und Celli schon einmal verstohlen den Schwanen-Hymnus wieder einschmuggeln.

Allmählich erhebt er sich wieder, wird jetzt aber von – ebenfalls hymnischen – Gegenstimmen nachdenklich und melancholisch eingefärbt. Erst danach vermag sich in einem allgemeinen Largamente assai das inzwischen wohlbekannte Finalthema durchzusetzen – und zeigt dabei seine Schatten und Brüche sehr glaubhaft ebenso mit auf, wie es nach konstruktiver Auseinandersetzung endgültig die Oberhand behält.

Mitwirkende

Antonello Manacorda

Antonello Manacordas Vielseitigkeit als Dirigent liegt in der Fülle seiner musikalischen und kulturellen Prägungen begründet: In Turin in eine italienisch-französische Familie hineingeboren, in Amsterdam ausgebildet und seit vielen Jahren in Berlin zu Hause, war Manacorda Gründungsmitglied und langjähriger Konzertmeister des von Claudio Abbado ins Leben gerufenen Mahler Chamber Orchestra, bevor er bei Jorma Panula, dem legendären finnischen Lehrer, ein Dirigierstudium absolvierte.

Heute ist Antonello Manacorda in Opernproduktionen an den bedeutendsten Opernhäusern der Welt ebenso häufig zu erleben wie am Pult führender Sinfonieorchester. Mittelpunkt seiner Arbeit ist die Kammerakademie Potsdam, der er seit 2010 als Künstlerischer Leiter vorsteht und mit der er eine Reihe von preisgekrönten Aufnahmen vorgelegt hat. Eine Tournee führte das Ensemble gemeinsam mit dem Solisten Christian Teztlaff u.a. nach Frankfurt, Köln, Berlin, Hannover und Hamburg.

2020/2021 dirigierte Antonello Manacorda an der Wiener Staatsoper Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“, an der Bayerischen Staatsoper „Così fan tutte“ und „Die Zauberflöte“ sowie Webers „Der Freischütz“. Zuvor debütierte er an der Metropolitan Opera in New York („Le nozze di Figaro“). Als Konzertdirigent war er zuletzt bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden, dem Royal Stockholm Philharmonic, den Wiener Symphonikern, der NDR Radiophilharmonie, dem SWR-Symphonieorchester sowie dem Boulez Ensemble eingeladen. Beim RSB ist er seit 2018 zum dritten Mal zu Gast.

Maximilian Hornung

Maximilian Hornung hat sich in den letzten Jahren als einer der führenden Cellisten seiner Generation etabliert.

Als Solist konzertiert er mit renommierten Klangkörpern wie dem London Philharmonic Orchestra, dem Pittsburgh Symphony Orchestra, dem Philharmonia Orchestra, dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem Orchestre National de France, der Tschechischen Philharmonie, den Wiener Symphonikern, dem Schwedischen Rundfunk-Sinfonieorchester, der Kammerphilharmonie Bremen, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und den Bamberger Symphonikern unter Dirigenten wie Daniel Harding, Yannick Nézét-Séguin, Mariss Jansons, Esa-Pekka Salonen, David Zinman, Pablo Heras-Casado, Semyon Bychkov, Bernard Haitink, Manfred Honeck, Antonello Manacorda, John Storgårds , Michael Francis, Mario Venzago, Jonathan Nott, Andrew Manze, Krzysztof Urbański und Robin Ticciati.

Zu seinen Kammermusikpartnern zählen unter anderem Anne-Sophie Mutter, Antje Weithaas, Hélène Grimaud, Daniil Trifonov, Christian Tetzlaff, Lisa Batiashvili, François Leleux, Joshua Bell, Yefim Bronfman, Herbert Schuch, Lars Vogt, Hisako Kawamura, Jörg Widmann und Tabea Zimmermann. Er musizierte gemeinsam mit dem Arcanto-Quartett und dem Cuarteto Casals und wird von zahlreichen Festivals eingeladen, darunter Salzburg, Schwetzingen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Rheingau, Luzern, Verbier, Lockenhaus, Ravinia und Hong Kong. Regelmäßig ist er zu Gast auf Podien wie den Philharmonien in Berlin, Köln und Essen, dem Wiener Musikverein, dem Concertgebouw Amsterdam und der Londoner Wigmore Hall. Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) musiziert er 2022 zum ersten Mal.

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Rainer Wolters, Susanne Herzog, Andreas Neufeld, Philipp Beckert, Franziska Drechsel, Karin Kynast, Bettina Sitte, Anne Feltz, Misa Yamada, Richard Polle, Susanne Behrens, Marina Bondas, Divna Toncic, Sophia Maiwald*, Antoine Guillier*, Seika Koike**

Violine 2

Johannes Jahnel, David Drop, Sylvia Petzold, Anne-Kathrin Seidel, Brigitte Draganov, Martin Eßmann, Maciej Buczkowski, Juliane Manyak, Neela Hetzel de Fonseka, Juliane Färber, Ania Bara, Eva Wetzel*, David Marquard*, Cathy Heidt*

Viola

Lydia Rineker, Gernot Adrion, Christiane Silber, Elizaveta Zolotova, Emilia Markowski, Jana Drop, Alexey Doubovikov, Carolina Montes, Lucia Nell, Hyeri Shin, Mikhail Balan-Dorfman, Maximilian Procop

Violoncello

Konstanze von Gutzeit, Ringela Riemke, Jörg Breuninger, Volkmar Weiche, Peter Albrecht, Georg Boge, Andreas Weigle, Christian Bard, Andreas Kipp, Anastasia Deligiannaki*

Kontrabass

Marvin Wagner, Stefanie Rau, Georg Schwärsky, Axel Buschmann, Iris Ahrens, Nhassim Gazale, Fridtjof Ruppert, Paul Wheatley**

Flöte

Ulf-Dieter Schaaff, Franziska Dallmann, Markus Schreiter

Oboe

Mariano Esteban Barco, Gudrun Vogler

Klarinette

Michael Kern, Peter Pfeifer

Fagott

Miriam Kofler, Clemens Königstedt

Horn

Martin Kühner, Anne Mentzen, Uwe Holjewilken, Felix Hetzel de Fonseka

Trompete

Lars Ranch, Jörg Niemand, Simone Gruppe

Posaune

Hannes Hölzl, Fabian Schmidt**, Jörg Lehmann

Tuba

Fabian Neckermann

Pauken

Jakob Eschenburg

Schlagzeug

Tobias Schweda, Frank Tackmann, Konstantin Thiersch**

* Orchesterakademie
** Gäste

Konzert mit

Bild- und Videoquellen

RSB ohne und mit Dirigent: Peter Meisel

Maximilian Hornung: Marco Borggreve

Fliegende Schwäne: Pixabay

Pauke: percussionmaster11

Antonello Manacorda: Nikolaj Lund