Digitales Programm
Sa 02.03. Wandelkonzert
19:00 Futurium
Steve Reich
„Different Trains“ – Streichquartett mit Zuspiel
Besetzung
Enrico Palascino, Violine
Philipp Beckert, Violine
Yugo Inoue, Viola
Peter Albrecht, Violoncello
Eine gemeinsame Veranstaltung des Futuriums und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin.
Nachts im Museum…
Das RSB und das Futurium bringen das Haus der Zukünfte bei einem Wandelkonzert auf eine ganz besondere Weise zum Klingen.
An verschiedenen Orten in der Ausstellung und dem Lab des Futuriums erklingt Musik. Als Solist:innen oder in kleinen Gruppen bieten die Musiker:innen Stücke verschiedener Komponist:innen dar. Einen gewöhnlichen Programmablauf gibt es dabei nicht. Die Besucher:innen können sich von der Musik durch das Haus treiben lassen.
Steve Reich
„Different Trains“ – Streichquartett mit Zuspiel
Zug um Zug
America – Before the war
Europe – During the war
After the war
„Erinnerungen an meine Kindheit inspirierten mich zu ‚Different Trains’“; schrieb Steve Reich im Vorwort zur Partitur des 1988 entstandenen Werkes. Als Kind geschiedener Eltern reiste er von 1939 bis 1942 häufig zwischen New York, wo der Vater lebte, und Los Angeles, dem Wohnort der Mutter, hin und her. „Obwohl ich diese Reisen als aufregend und romantisch empfand, wurde mir natürlich später klar, dass ich mich als Jude in Europa in Europa zu der Zeit in Zügen ganz anderer Art befunden hätte.“
„Different Trains“ verwendet Bandaufnahmen von historischen Zuggeräuschen, elektronisch veränderte Sprachfragmente von drei Holocaust-Überlebenden (Rachella, Paul, Rachel), Erinnerungen von Reichs Gouvernante Virginia und dem ehemaligen Zugbegleiter und Pullman-Schaffner Lawrence Davis. Mit diesen Sprachfragmenten korrespondieren drei vorab aufgenommene und ein live im Konzert spielendes Streichquartett.
Das Werk besteht aus drei Teilen, die ohne Pause aufeinander folgen. Während die beiden ersten die fatalen Unterschiede der Zugfahrten in Amerika und in Europa während des Krieges dokumentieren, handelt der dritte Teil von der Zeit nach dem Krieg. Einige Worte des alten Schaffners erhalten eine beklemmende Doppelbedeutung. „But today, they’re all gone“ bezieht sich auf die ausrangierten Luxuswaggons des Mercury Limited, kann aber ebenso auf die Opfer der Vernichtungslager bezogen werden.
Steve Reich gehört zu den Exponenten der „minimal music“, einer amerikanischen Erfindung, die seit Ende der 1950er Jahre u.a. von La Monte Young, Steve Reich, Terry Riley und Philip Glass als Gegenströmung zu den europäischen Konstrukten der seriellen Musik entwickelt worden war.
Die Vorbilder mögen in außereuropäischen Kulturen liegen, etwa in afrikanischen Rhythmus-Rastern oder in indischen Klangflächen, die über mehrere Stunden nur geringste „Fortschritte“ machen. Aber auch die insistierende Rotationsmotorik eines Anton Bruckner hat so unbewusst wie zweifellos Pate gestanden.
„Different Trains“ nutzt das für die „minimal music“ charakteristische Prinzip der Wiederholung kleinster thematischer Strukturen für den Einbau der Sprachfragmente in die musikalische Textur. Die Streichinstrumente imitieren dabei so genau wie möglich die Sprach- und Geräuschmelodie des Gesagten.
„Entgegen gewissen modernistischen Erwartungen zum Thema Collage sollen die Wortfetzen nicht nur reines Geräusch sein. Schon in Bezug auf ‚It's gonna rain’ und ‚Come Out’ hatte Reich darauf bestanden, dass die verschobenen Wiederholungen die Wortbedeutung keinesfalls verdecken oder gar auslöschen, sondern jene zusammen mit der inhärenten Melodizität der gesprochenen Wortfolge deutlich verstärken. ... Bezeichnenderweise endet deshalb das Stück auch mit der Erinnerung an ein namenloses Mädchen im Lager, dessen schöne Stimme die Nazis begeisterte: ‚Und als sie aufhörte zu singen, sagten sie: mehr, mehr. Und sie applaudierten.’ Das Verstummen dieser Stimme ist nicht einzuholen, weder durch die verbalen Berichte der Überlebenden, geschweige denn durch die musikalische ‚Verarbeitung’ dieser Berichte. Es ist daher mit Giorgio Agamben zu fragen, inwieweit überhaupt von Zeugenschaft zu sprechen ist im Hinblick auf die Opfer der Grausamkeiten, also diejenigen, die nicht überlebt haben.“ (Martin Klebes)
Wegen der Wichtigkeit der Sprachfragmente für das Verständnis des gesamten Werkes seien sie hier aufgeführt, um ihre Semantik trotz eventuell schwieriger akustischer Verständlichkeit deutlich herauszuheben.
Text © Steffen Georgi
I. America – Before the war
„from Chicago to New York“ (Virginia)
„one of the fastest trains“
„The crack* train from New York“ (Mr. Davis) (*crack in the older sense of „best“)
„from New York to Los Angeles“
„different trains every time“ (Virginia)
„from Chicago to New York“
„in 1939“
„1939“ (Mr. Davis)
„1940“
„1941“
„1941 I guess it must’ve been“ (Virginia)
II. Europe – During the war
„1940“ (Rachella)
„on my birthday“
„The Germans walked in“
„walked into Holland“
„Germans invaded Hungary“ (Paul)
„I was in second grade“
„I had a teacher“
„a very tall man, his hair was concretely plastered smooth“
„He said, ‘Black Crows invaded our country many years ago’“
„and he pointed right at me“
„No more school“ (Rachel)
„You must go away“
„and she said ‘Quick, go!’“ (Rachella)
„and he said ‘Don't breathe!’“
„into those cattle wagons“ (Rachella)
„for 4 days and 4 nights“
„and then we went through these strange sounding names“
„Polish names“
„Lots of cattle wagons there“
„They were loaded with people“
„They shaved us“
„They tattooed a number on our arm“
„Flames going up to the sky – it was smoking“
III. After the war
„and the war was over“ (Paul)
„Are you sure?“ (Rachella)
„The war is over“
„going to America“
„to Los Angeles“
„to New York“
„from New York to Los Angeles“ (Mr. Davis)
„one of the fastest trains“ (Virginia)
„but today, they’re all gone“ (Mr. Davis)
„There was one girl, who had a beautiful voice“ (Rachella)
„and they loved to listen to the singing, the Germans“
„and when she stopped singing they said: More, more. And they applauded“
Besetzung Streichquartett
Enrico Palascino
Enrico Palascino, 1982 in Turin geboren, ist seit 2011 Mitglied im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Er tritt regelmäßig als Kammermusiker und Solist auf und spielt als Aushilfe auch beim Hessischen Rundfunk, dem Bayerischen Rundfunk, dem Westdeutschen Rundfunk und dem Konzerthausorchester Berlin. Er bekam seinen ersten Geigenunterricht mit 8 Jahren, studierte später mit Giacomo Agazzini am Conservatorio Giuseppe Verdi di Torino und setzte dann, dank der Claudio Abbado Musikstiftung DESONO, sein Studium bei Valeri Gradow in Mannheim und Stephan Picard in Berlin fort.
Nebenbei absolvierte er ein Zusatzstudium der Kammermusik mit Susanne Rabenschlag in Mannheim und wurde mit dem Yuval Quartett Bundeswettbewerbspreisträger. Es folgten Auftritte u.a. bei den Schwetzinger Festspielen, Live-Aufnahmen mit Deutschlandradio sowie Tourneen in Spanien und Italien.
2016 folgte er seiner Familie nach Namibia. Dort gründete er mit der Sängerin Gretel Coetzee eine Musikschule für benachteiligte Kinder in Windhoek (YONA). Er half bei der Neugründung des Namibian National Symphony Orchestra (NNSO), veranstaltete Konzerte, komponierte und arrangierte Namibische Volkslieder und setzte sich in die Öffentlichkeit dafür ein, ein besseres Verständnis der klassischen Musik in Namibia zu ermöglichen.
Seit August 2018 ist er wieder nach Berlin zurückgekehrt, wo er sich auch weiterhin für YONA und das NNSO engagiert. In seiner freien Zeit trainiert er leidenschaftlich Triathlon.
Philipp Beckert
Philipp Beckert wurde in Dresden geboren. Er besuchte die Spezialschule für Musik und studierte Violine an den Musikhochschulen in Dresden, Leipzig und Berlin.
Zeitgleich besuchte er Meisterkurse bei Ruggiero Ricci, Ion Voicu, Saschko Gawriloff und André Gertler. Philipp trat als erster Geiger in die Dresdner Philharmonie ein und wurde später stellvertretender Konzertmeister. Seit 1996 ist er Mitglied des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin in der Gruppe der ersten Violinen. Philipp Beckert war in Kammerkonzerten des RSB mit Solowerken von Eugene Ysaÿe und Niccolò Paganini zu hören. 2005 präsentierte er das „Beckert Quartett Berlin” (BQB) im Rahmen der RSB-Kammerkonzerte zusammen mit Franziska Drechsel, Andreas Willwohl und So Yung Lee.
Im Jahr 2010 stellte er auf Anregung von Marek Janowski ein hochkarätig besetztes Ensemble zusammen, um das Oktett von Franz Schubert einzustudieren, bei dem er selbst den Part der ersten Geige übernahm. Das Oktett wurde anlässlich eines Schlüterhofkonzertes des RSB im Deutschen Historischen Museum aufgeführt.
Zusammen mit der israelischen Pianistin Einav Yarden spielte Philipp Beckert in weiteren Kammerkonzerten des RSB 2011 Beethovens Kreutzersonate, wie auch im Jahr 2013 die Violinsonate von César Franck. 2015 übernahm er den Part der ersten Geige im Streichsextett „Verklärte Nacht” von Arnold Schönberg, wiederum in einem Schlüterhofkonzert. Als Solist musizierte er mit der Dresdner Philharmonie sowie dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt. Darüber hinaus wirkte er an zahlreichen Uraufführungen zeitgenössischer Komponisten mit. Beim Hamburger Label Es-Dur erschien die CD mit dem Oktett von Franz Schubert sowie dem Oktett „Dunkle Lichter” von Mario Wiegand.
2016 spielte Philipp Beckert mit seinen Kollegen Ulf Dieter Schaaff, Andreas Willwohl und Georg Boge die Flötenquartette von Wolfgang Amadeus Mozart für das niederländische Label PENTATONE auf CD ein.
Yugo Inoue wurde 1995 in Tokio geboren. Im Alter von fünf Jahren begann er mit dem Geigenspiel und wechselte mit 16 Jahren zur Bratsche. Er studierte an der Tokyo University of the Arts bei Toshihiko Ichitsubo und seit 2020 bei Veit Hertenstein an der Hochschule für Musik Detmold.
Yugo Inoue
Orchestererfahrung sammelte er 2021 bis 2023 als Akademist beim WDR Sinfonieorchester, sowie bei Aushilfstätigkeiten im hr-Sinfonieorchester. Weitere Impulse bekam er durch Meisterkurse bei Hariolf Schlichtig, Tabea Zimmermann und Nobuko Imai. Seit 2023 spielt er in der Bratschengruppe des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin.
Peter Albrecht
Peter Albrecht begann im Alter von neun Jahren, Violoncello zu spielen. Nach seinen Studien bei Walther Nothas (München), Alexander Baillie (Bremen) und Michael Sanderling (Frankfurt/Berlin) begann er 2002 als Cellist im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Nebenbei absolvierte er das Konzertexamen, welches er im Sommer 2005 abschloss. Außerdem nahm er an zahlreichen Meister- und Kammermusikkursen teil, u. a. beim Artemis-Quartett, bei Henry W. Meyer, Frans Helmerson, Anner Bylsma, Ralph Kirshbaum und Johannes Goritzki. Er musiziert gemeinsam mit Nadine Contini, Martin Eßmann und Christiane Silber im Contini-Quartett sowie im Celloquartett „Just four Cellos“ mit Volkmar Weiche, Jörg Breuninger und Christian Raudszus.
Programm des Abends
19 Uhr Foyer
Einführung
durch Clara Marrero, Orchesterdirektorin des RSB & Stefan Brandt, Direktor des Futuriums
19.20 Uhr Futurium Lab
Benjamin Britten „Sechs Metamorphosen nach Ovid“ für Oboe solo
19.20 Uhr Denkraum Mensch (Ausstellung)
Steve Reich „Different Trains“ – Streichquartett mit Zuspiel
20 Uhr Denkraum Natur (Ausstellung)
Mauricio Kagel Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen (Auszüge)
20.25 Uhr Denkraum Mensch (Ausstellung)
Steve Reich „Different Trains“ – Streichquartett mit Zuspiel
20.40 Uhr Futurium Lab
Benjamin Britten „Sechs Metamorphosen nach Ovid“ für Oboe solo
21.15 Uhr Foyer
Nebojša Jovan Živković - Trio per uno für drei Schlagzeuger
21.45 Uhr Foyer
Ausklang mit DJ Arno
Eine gemeinsame Veranstaltung des Futuriums und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin.