"Ich bin verantwortlich dafür, dass die Noten rechtzeitig und vor allem korrekt auf die Pulte der Musiker kommen",

Carlos Solare, Notenarchivar beim RSB

Um zur Notenbibliothek der Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH (ROC) zu gelangen, braucht man entweder eine sehr genaue Wegskizze – oder man folgt am besten dem Archivar Carlos María Solare.

Vom Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks geht es über lange Gänge, durch unzählige Türen und immer wieder um die Ecke, bis man schließlich im neuen Sendezentrum des RBB, unten im Keller, das Ziel erreicht hat. Dort lagern sage und schreibe 160.000 individuelle Notenausgaben, einsortiert Reihe an Reihe, in mehreren Etagen. Summa summarum, gemessen als Regalmeter, kommen nicht weniger als 1,6 km zusammen!

Von Haus aus Bratschist und Musikwissenschaftler, begann er vor sieben Jahren als Assistent in der Notenbibliothek und ist seit Anfang 2024 hauptverantwortlich für die Belange des RSB bei allem, was mit Notenmaterialien zu tun hat. Unterstützt wird er dabei von Michele Foresi und Mutsumi Shimamaru. 

Als Einrichtung der ROC bedient die Notenbibliothek nicht nur die Bedürfnisse des RSB, sondern auch die der drei anderen Klangkörper, des Deutschen Symphonie-Orchesters, des RIAS Kammerchors und des Rundfunkchors Berlin. Dementsprechend findet sich im Bestand nicht nur Orchesterliteratur, sondern auch Chormusik – dazu viele Gesamtausgaben von Händel bis Schostakowitsch und eine große Menge Kammermusik.

Die Bibliothek ist so alt wie der Rundfunk selbst, also inzwischen 100 Jahre, die Noten selbst sind zum Teil noch älter. Manche tragen Stempel wie „Funkstunde“ oder „Reichsrundfunkgesellschaft“ und verweisen damit auf die 20er- und 30er-Jahre, vieles wurde zu DDR-Zeiten angeschafft, als das RSB im Funkhaus in der Nalepastraße einer intensiven Aufnahmetätigkeit nachging. Signaturen weisen den schnellen Weg zu den gesuchten Noten, auch wenn sie irgendwo ganz oben in den Regalen gelagert sind. Die Signaturen selbst richten sich nicht etwa nach dem Alphabet, sondern nach dem Zeitpunkt, zu dem die Noten ins Archiv gekommen sind.

Steht das Programm für ein Konzert fest, wird Solare aktiv: „Im Idealfall handelt es sich um ein Werk, das wir schon haben, das schon gespielt und für den Gebrauch eingerichtet wurde, so dass der Dirigent gleich damit arbeiten kann.“ Dann muss der Bibliothekar nur die Mappe aus dem Regal ziehen und an das Orchester weitergeben.

Am anderen Ende des Spektrums, bei Raritäten, die nicht im Bestand vorhanden sind, muss erst einmal recherchiert werden: Wo ist das Werk verlegt? Ist es überhaupt im Handel? Kann man es kaufen oder nur leihen?

Einiges Kopfzerbrechen bereitete etwa die 3. Symphonie des ukrainischen Komponisten Borys Ljatoschynskyj, eines Zeitgenossen von Sergej Prokofjew, die in der vergangenen Saison zu erleben war. Hier musste Solare kreativ werden, um brauchbares Notenmaterial zu beschaffen.

Der für Deutschland rechtlich zuständige Verlag konnte nur ein schlecht lesbares handschriftliches Exemplar anbieten, während man in der Ukraine auf eine moderne, per Computersatz erstellte Partitur stieß. Hier musste eine Lösung gefunden werden, die sowohl der urheberrechtlichen Lage als auch der Praktikabilität Rechnung trug.

„Orchesternoten sind Gebrauchsgegenstände“, sagt Solare nüchtern.

Sie müssen immer wieder, wenn nötig, für die Aufführung neu eingerichtet, d. h. beispielsweise bei den Streichern mit Auf- und Abstrichen oder mit Bindebögen versehen werden. Vieles kann übernommen werden, anderes nicht – wenn Dirigent Y etwa andere Vorstellungen hat als Dirigent X, der das Werk beim letzten Mal dirigiert hat.

Dabei wird nach wie vor ganz altertümlich gearbeitet, wie der Archivar bestätigt: „Wir verbrauchen ganz viel Radiergummis und Bleistifte“. Und auch viel Papier, denn heutzutage kommt es durchaus vor, dass Dirigenten ihre eigenen Noten, bereits im Detail eingerichtet, mitbringen und das Material schon vorab als PDF zuschicken, so dass es nur noch ausgedruckt werden muss. Ein entsprechendes Aufführungsverzeichnis wird seit etwa 20 Jahren gepflegt.

Bei Werken, die nicht im Bestand vorhanden sind, wird unterschiedlich vorgegangen: 

Ältere Kompositionen können in der Regel käuflich erworben werden; bei groß besetzten Orchesterwerken der Gegenwart ist es dagegen üblich, sie bei den Verlagen für jedes Konzert auszuleihen. Die Hände gebunden sind allerdings Solare, wenn eine Uraufführung ansteht und die Komponistin oder der Komponist nicht mit dem Werk fertig wird. Dann sind gute Nerven gefragt, damit die Novität pünktlich vor Probenbeginn allen Orchestermitgliedern zur Vorbereitung in die Hand gedrückt werden kann.

Gelegentlich beschweren sich die Musikerinnen und Musiker, dass ihre Stimme wegen zu vieler Eintragungen unüberschaubar geworden ist, dann müssen neue Exemplare beschafft werden. Aber nicht nur alte, zerschlissene Noten werden aussortiert, sondern auch Ausgaben, die in Doubletten oder gar Tripletten vorliegen – wenn man denn vermuten kann, dass sie nie wieder auf die Pulte gelangen werden. Anders gelagert ist der Fall etwa von Beethovens Neunter, die mittlerweile – und zusätzlich zu den älteren Editionen –  in immerhin drei Urtext-Ausgaben vorliegt! Auch wenn sich diese nur minimal unterscheiden: Hier muss selbstverständlich die Wahl des Dirigenten berücksichtigt werden. Als weiteres Beispiel nennt Solare die Bruckner-Symphonien, die bekanntermaßen fast alle in mehreren Fassungen vorliegen: „Hier hat unser Chefdirigent immer ganz genaue Vorstellungen, was er haben möchte.“ Und Carlos María Solare sorgt dafür, dass er bei Probenbeginn die richtige Ausgabe auf seinem Pult vorfindet. 

Früher wurde oft nur die Partitur eines Orchesterwerkes gedruckt. Die einzelnen Stimmen wurden aus Kostengründen per Hand ausgeschrieben. Hatte der Kopist eine saubere Schrift, sind die Stimmen auch heute noch brauchbar.

Bilder

© Peter Meisel