Digitales Programm

Sa 10.12. Vladimir Jurowski

20:00 Konzerthaus

Friedrich Goldmann

Sinfonie Nr. 1

Kurt Weill

Konzert für Violine und Blasorchester op. 12

Pause

Igor Strawinsky

„Jeu de cartes“ (Das Kartenspiel) – Ballett in drei Runden

Kurt Weill

„Die Sieben Todsünden“ – Ballett mit Gesang für Solosängerin, Männerquartett und Orchester, Text von Bertolt Brecht (Konzertante Aufführung)

Besetzung

Vladimir Jurowski, Dirigent

Christian Tetzlaff, Violine

Katharine Mehrling, Gesang

Männerquartett des Vocalconsort Berlin

Sebastian Lipp, Tenor I

Kim Schrader, Tenor II

Martin Schubach, Bass I

Tobias Hagge, Bass II

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB)

19.10 Uhr, Beethoven-Saal, Einführung von Steffen Georgi

Konzert mit rbb Kultur

Die Welt ist ein Spielcasino

Jurowski, Tetzlaff, Mehrling und das RSB frönen der Sünde. Der Sünde, Musik zur Selbstreflexion aufzubieten, die viel mehr ist als gefällige Unterhaltung. Erst recht, weil sie durchaus zu gefallen, ja zu faszinieren vermag. Schon der alte Verdi weiß: Tutto nel mondo è burlà - Alles auf der Welt ist ein Spiel. Zuweilen eins mit dem (Höllen-)Feuer, dem des Zwanges zur ständigen Geldvermehrung zum Beispiel, ergänzen Strawinsky, Weill und Goldmann.

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Podcast „Muss es sein?“

Friedrich Goldmann - Sinfonie Nr. 1

jurowski in action jurowski in action

„Für viele war diese Kunst halt scheiße, weil für sie der Sozialismus scheiße war. Die Delegitimierung der DDR als Ganzes …“

Frank Schneider
Alle Texte von Steffen Georgi ©

Wie Frieder Goldmann das Ende der DDR vorwegnahm

Natürlich hätte er sich verwahrt gegen eine solch steile These, Friedrich Goldmann, der renommierte Komponist, dessen Lebens- und Schaffenszeit mehr als zur Hälfte zeitgleich mit dem Bestehen der DDR andauerte. Gegenüber Frank Schneider, dem Freund und Wegbegleiter, habe Goldmann sich so gut wie nie über seine Musik geäußert, konstatiert der Musikwissenschaftler und frühere Intendant des Konzerthauses Berlin – was Schneider nicht davon abgehalten hat, genau Beobachtetes aus der Musik von Goldmann herauszulesen und zu -hören und seinerseits klug darüber zu reflektieren. Sein Buch „Form und Klang – Essays und Analysen zur Musik von Friedrich Goldmann“ sei hier ausdrücklich zur ergänzenden Lektüre empfohlen.

Es ist nicht immer die verbale Intention eines Komponisten, nach der wir suchen sollten, wenn wir uns der Musik nähern wollen. Im Grunde ist sie es nie. Schostakowitsch fühlte sich ratlos, wenn er dazu aufgefordert wurde. Genauso wie Mendelssohn, und Beethoven, und Pärt. Und Hans Werner Henze gestand mir einst, er habe meine Ausführungen über eines seiner Werke mit Interesse und Bewunderung gelesen. Er habe gar nichts gewusst von all dem, was ich aus seiner Musik herausgehört hätte. Aber er wolle ab jetzt gerne meine Formulierungen verwenden, wenn ich es ihm erlaube.

Der Komponist

Friedrich Goldmann wurde 1941 in Chemnitz geboren. Seine musikalische Ausbildung begann 1951 als Mitglied des Dresdner Kreuzchores. Im Alter von 18 Jahren nahm er als Stipendiat der Stadt Darmstadt an den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik bei Karlheinz Stockhausen teil. Den Einladungen Stockhausens, auch an den Kursen 1961/1962 teilzunehmen, durfte er nach dem Mauerbau nicht folgen. Ab 1959 studierte er Komposition an der Dresdner Hochschule für Musik und legte sein Examen 1962 vorzeitig ab.

Von 1962 bis 1964 war Goldmann Meisterschüler von Rudolph Wagner-Régeny an der Akademie der Künste Berlin.

Zugleich arbeitete er als freier musikalischer Assistent am Berliner Ensemble, wo er u.a. Heiner Müller, Luigi Nono und Ruth Berghaus begegnete. Paul Dessau wurde zu dieser Zeit ein enger Freund und Mentor. Von 1964 bis 1968 studierte Friedrich Goldmann Musikwissenschaft an der Humboldt Universität Berlin. Als Dirigent leitete er u.a. die deutschen und französischen Erstaufführungen von Luigi Nonos „Prometeo“, Schönbergs „Moses und Aron“ (Staatsoper Berlin) sowie Uraufführungen u.a. von Lachenmann, Hosokawa und Henze. Auch am Pult des RSB hat er mehrfach Konzerte und Aufnahmen dirigiert. Seit 1980 unterrichtete er an der Akademie der Künste Berlin und ab 1991 als Professor an der Universität der Künste Berlin. Zu seinen Schülern zählten u.a. Enno Poppe, Helmut Oehring, Arnulf Herrmann, Charlotte Seither, Jakob Ullmann, Steffen Schleiermacher und Sergej Newski. Von 1990 bis 1997 stand Goldmann als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neue Musik vor. Seit 1968 bis zu seinem Tod im Jahr 2009 hatte er als freischaffender Komponist in Berlin gelebt. 

Irgendwann ist immer das erste Mal

Die Sinfonie Nr. 1 von Friedrich Goldmann existiert zweimal.

Zum ersten Mal nahm sich der 16-Jährige die Gattung vor, um 1957 einen Versuch zu unternehmen über die wahre Art, eine Sinfonie zu komponieren. Das unvollendete Manuskript liegt in seinem Nachlass in der Akademie der Künste in Berlin. Der zweite Versuch nahm 1972/1973 Gestalt an und erklingt heute Abend im Konzert des RSB. Goldmann war sich wohl bewusst, dass mitten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Sinfonie keine Selbstverständlichkeit mehr sein konnte. Er habe, so Reiner Kontressowitz in seinem Buch „Annäherungen II“ (2020) über Goldmann, die Dialektik thematisieren wollen, „die auch in dieser Sinfonie zwischen den hohen Ansprüchen der Gattung und dem Bewusstsein ihrer Unangemessenheit gegenüber dem gegenwärtigen Entwicklungsstand von Gesellschaft und Musik herrscht“.

Umso mehr interessiert uns nun, wie er mit der historischen Last der Gattung umgegangen ist. Drei Sätze, schnell-langsam-schnell, ein normal besetztes Sinfonieorchester, eine Aufführungsdauer von ca. 22 Minuten. All das sind bereits Bekenntnisse! Sie haben mit sozialistischem Realismus nichts zu tun. Und auch nicht mit einer prononcierten Opposition dagegen. Goldmann führt zu einem frühen Zeitpunkt vor: Das Schubladendenken der Kulturpolitik in Ost wie West greift nicht angesichts ernsthafter Versuche, sich der Herausforderung von großer Musikgeschichte zu stellen. Goldmann ist selbstbewusst genug, um den „Stier Sinfonie“ bei den Hörnern zu packen. Sich auf Nebenschauplätzen zu tummeln, ist ihm keine Herausforderung.

Allegro energico

Mit großer Geste reißt Friedrich Goldmann den Klangvorhang auf, ja er reißt ihn herunter. Riesige Intervalle markieren den Tonraum, den auszufüllen der 32-jährige Komponist beabsichtigt.

Keine kleinlauten Instrumente gehen zu Werke, sondern Hörner, Trompeten und schrill gestikulierende, hohe Holzbläser. Sie überschlagen sich in bizarren Klangfetzen, meißeln atonale Klangtürme und bauen irgendwie minutenlang zunächst Energie ab. Es rattert und ratscht, rauscht und raschelt im heftig aufgemischten Sinfonieorchester. Bisweilen stellen sich diatonische Klanginseln ein, man meint einen Anflug von Motiven zu hören, B-A-C-H ist darunter und D-Es-C-H. Denn die musikalischen Figuren sind genau definiert, geradezu abgezirkelt: „… zwei Viertongruppen, transponiert und permutiert aus der allbekannten Grundreihe B-A-C-H, ein Verfahren wie es Anton Webern zum Beispiel im Streichquartett Opus 28 praktiziert. Diese Viertongruppe im Kleinterzrahmen erlaubt es ihm, eine chromatische 12-Tonskala aufzubauen … Aber Goldmann geht es nicht primär um konsequente Zwölftönigkeit und schon gar nicht darum, den übermächtigen Johann Sebastian Bach zu ehren, sondern die Viertonfolgen liefern ihm ein kontingentes Material, aus dem er reichlich schöpfen kann. Die Tonfolge B-A-C-H erlaubt vierundzwanzig Permutationen (Fakultät 4!), das ergibt multipliziert mit den Transpositionen der zwölf Halbtöne 288 Viertonfolgen, die ihm als Ausgangsmaterial zur Verfügung stehen.“ (Reiner Kontressowitz) Aleatorische, also frei tonale Passagen unterbrechen die Szene: Einige Geigen erhalten für eine definierte Zeit einen Tonraum vorgegeben, in welchem sie sich in eigenem Tempo frei auf und ab bewegen können. Der Dirigent regelt Anfang und Ende solcher Passagen. Raue, bisweilen aggressive Musik wechselt abrupt mit berührend filigranen, schier zerbrechlichen Episoden. Das Individuum in der Masse? Der pausbäckige Lärm der Ideologie gegen die Selbstbehauptung der Unvereinnahmten?

Lento

Verstörend schön nach dem eingangs Gehörten setzt der zweite Satz ein. Leise, eindringlich, geradezu keusch und rein klingen Haltetöne der Bläser, welche von vielfach geteilten Streichergruppen wispernd befragt und kommentiert werden. Sind es zunächst Flöte und Oboe, so gesellen sich nach und nach Posaune, Trompete, Englischhorn, Klarinette und Bassklarinette dazu.

Das Klavier fungiert hinter den Streichern als Stütze und Impulsgeber. In dem gleichsam geschützten Raum des Lentos getraut sich Goldmann eine weitere, ausführlichere aleatorische Szene.

Die Kompositionsmethode war spätestens seit Krzysztof Pendereckis spektakulären Werken vom Anfang der 1960er-Jahre auch in der zeitgenössischen Musik der westlichen Hemisphäre ein probates künstlerisches Mittel geworden. Ob die DDR-Kulturpolitik dies goutierte oder nicht, scheint Goldmann nicht gekümmert zu haben. Jedenfalls lässt er die Bläser nur auf ihren Mundstücken spielen. So erzeugen sie charakteristische Pfeiftöne. Auch die Violinen sollen laut Partitur „keine klar erkennbaren Töne hervorbringen“. Sie zupfen, schlagen mit dem Holz des Bogens auf die Saiten und spielen hinter dem Steg. Für das Klavier schreibt Goldmann vor: „mit Fingernagel in unregelmäßigen Abständen auf tiefsten Saiten mit jeweils wechselnder Geschwindigkeit kratzen“. Einzelne Passagen sind wie in einer Schleife fünf Sekunden lang unregelmäßig zu wiederholen. Plötzlich dröhnen die Posaunen dazwischen: „Ruhe!“ scheinen sie zu fordern. Wimmelnde Streicher scharen sich erneut um die stoischen Haltetöne der Bläser. Plötzlich ist Ives‘ sagenhafte „Unanswered Question“ nicht weit, nur mit zwischen Bläsern und Streicher getauschten Rollen. Klangreste zum Schluss.

Vivo

Pausbäckiges Blech gibt die Richtung vor im Finale der Sinfonie.

„Hier im dritten Satz treffen das Konzertante, das freie Spielerische gemäß dem traditionellen Rondo-Charakter, auf das Institutionelle, Gesetzliche, dem Sinfonischen Gemäße. Reale Formerfüllung wird karikiert, korrumpiert, sarkastisch kommentiert oder komplett demontiert. Die Rondoform ist am Ende nur noch ein Schatten ihrer selbst.“

Reiner Kontressowitz

Es ist ein Losrennen und Innehalten im Orchester. Immer vor und zurück. Wo sind die Leittiere? Müssen wir gehorchen? Sollen wir aufbegehren? Was treibt uns zu Panik? Was kann uns beruhigen? Einmal mehr verzichten die Holzbläser auf ihre Instrumente, diesmal ganz und gar. Und artikulieren sich trotzdem: zischend! Das Blech jault Glissandi. Die Streicher klopfen „col legno“ (mit dem Holz). Doch steckt hinter dieser Aufregung ein wirklicher Aufruhr? Nachdem man gehörig instrumental-argumentativ übereinander hergefallen ist, kichert und prustet, schimpft und eifert jede/r gegen jede/n. Das wilde Palavern erstarrt in einer Generalpause. Dann? C-Dur! Eine kurze Coda bricht sich von C-Dur aus Bahn, bis das ganze Orchester hörbar abrutscht wie von einer schiefen Bahn.

Pizz und Bumm

Übrig bleiben aufgeregt stotternde Flöten und Klarinetten, laut Partitur genau zehn Sekunden lang. Die übrigen Holzbläser spitzen den Mund – ohne Instrument: „pf…“ – bis der Atem ausgeht. Trompete und Posaune ondulieren ein letztes Mal, das Tomtom macht ein reibendes Geräusch. Ein letztes trockenes Violinpizzikato knipst das Licht aus. Die Pauke schlägt die Tür zu.

Kurt Weill - Konzert für Violine und Blasorchester op. 12

Wenn Bläser eine Geige auf Händen tragen

Die 1930er-Jahre gelten in der Musikwelt als Jahrzehnt des Violinkonzertes, zu Recht. Jedoch keines der dort entstandenen Meisterwerke von Bartók, Berg, Strawinsky, Prokofjew, Hindemith, Hartmann oder Schönberg ist imstande, das Violinkonzert von Kurt Weill aus dem Jahre 1924 in den Schatten zu stellen.

Der geniale junge Dessauer, damals eben entwachsener Kompositionsschüler von Engelbert Humperdinck und Ferruccio Busoni an der Berliner Musikhochschule, warf gleich mehrere Gattungskonventionen über den Haufen, um ein umso schöner funkelndes Juwel aus der jahrhundertealten Tradition herauszukristallisieren.

Zuerst die Form: Die althergebrachte Dreisätzigkeit bleibt auf dem Papier erhalten, indem sie die drei Mittelsätze zu einem zusammenbindet. Die Tempoabfolge schnell-langsam-schnell löst sich auf zugunsten ständig wechselnder, kleinräumiger individueller Tempi, die gleichwohl größere Zusammenhänge in sich tragen.

Dann die Instrumentierung: Keine irgendwie als Orchester zu identifizierende Gruppierung von sorgfältig ausgewählten Instrumenten und dennoch eine achtzehnköpfige Auswahl aus den Mitgliedern eines normalen Sinfonieorchesters korrespondiert mit der Solovioline. Lapidar erklärt Weill gegenüber dem Verlag seinen Plan: „Das Stück ist angeregt durch den – bisher noch nie ausgeführten – Gedanken, die konzertante einzelne Violine einmal einem Bläserchor gegenüberzustellen.” Zu diesem Zeitpunkt kennt er Strawinskys Konzert für Klavier und Blasorchester (ebenfalls mit Pauken und Kontrabässen) noch nicht (am 22. Mai 1924 in Paris uraufgeführt), doch schätzt er dessen „Geschichte vom Soldaten“, die er im Sommer 1923 in Frankfurt gehört hat. In Weills neuem Werk bilden je zwei Flöten, Klarinetten, Fagotte und Hörner, eine Oboe, eine Trompete, dazu Pauken und differenziertes Schlagwerk sowie vier Kontrabässe die „Patchworkfamilie“, in der die kleine Geige ihren Platz finden muss. Es versteht sich von selbst, dass viele, ja fast alle von ihnen im Verlauf des Werkes selber solistische Aufgaben zugewiesen bekommen. Das „Klangkollektiv“ des Violinkonzertes hat unmittelbar abgefärbt auf die Werke des Songstils, mit denen Weill wenige Jahre später spektakuläre Erfolge feiern sollte.

Schließlich die kompositorische Faktur und die Einbindung der Violine darin: Sie legt Weills gerade sich etablierenden Songstil kühn für sich aus und erweist zugleich den kompositorischen Errungenschaften Busonis Reverenz, nimmt auch dessen Italianità geradezu liebevoll in sich auf – zumal Weill im Frühjahr 1924 eine längere Italienreise unternommen hatte, die er unmittelbar darauf und binnen weniger Wochen im Violinkonzert reflektierte.

Die Entstehungszeit war beeinflusst von den letzten Lebenswochen des früh gealterten Idols. Weill nahm daran emotional großen Anteil. „Busoni ist todkrank und wir wissen alle nicht, wo uns der Kopf steht. Selbst zu leiden wäre nicht so schlimm als einen solchen Menschen so entsetzlich leiden zu sehen. Wenn ich nicht bei ihm bin, muss ich mich in die Arbeit stürzen, um den Anblick etwas zu vergessen.” Weill meldete Ende Juni 1924 der Universal Edition in Wien die Vollendung der Partitur des Violinkonzertes. Busoni starb am 27. Juli 1924.

Weill stellte sich als Uraufführungssolisten den ungarischen Geiger Joseph Szigeti vor. Der mit zeitgenössischer Violinmusik erfahrene Szigeti war begeistert – und lehnte aus Zeitmangel ab. So erkor Weill den französischen Geiger Marcel Darrieux (er hatte sich 1923 mit dem ersten Violinkonzert von Prokofjew einen Namen gemacht) als „Taufpaten“ für sein Violinkonzert. Weills Uraufführung fand am 11. Juni 1925 unter Leitung des englischen Dirigenten Walther Straram in Paris statt. Weitere Aufführungen folgten alsbald.

Leise, diskret, aber dann…

Zwei Klarinetten beginnen das eröffnende Andante von moto des Violinkonzertes mit einer introvertierten Melodie, die bisweilen „trocken getupft“ wird von Fagott, Trompete und Schlagzeug. Irgendwann tritt die Violine behutsam dazu, macht dezent auf sich aufmerksam. Noch einmal beginnen zwei Bläser die nächste Runde auf der Entwicklungsspirale des Violinkonzertes, weitere Instrumente treten hinzu, die Violine behauptet energischer ihren Führungsanspruch.

Ein Marsch schält sich heraus. In dem immer noch verschatteten Klangumfeld scheinen verschiedene Anspielungen das uralte „Dies irae“-Motiv aufzugreifen. Über kurze Dialoge schaukelt sich das Ganze bis zum Höhepunkt in gemessenem Schritt („Pesante“) auf. Von diesem Erregungsgipfel leitet eine Violinkadenz („dolce“) die Energien ab in ein Andante tranquillo. Ruhig und quasi schlendernd schließt sich der Kreis.

Im Anfangstempo erklingt noch einmal das Eingangsthema der Klarinetten in Reingestalt, diesmal gespielt von der Violine. Dann entschwebt der Satz in einer aparten Geste aus Klarinette, Fagott, Schlagzeug, Violine und Kontrabass.

Nicht weniger exotisch ist das Klangkolorit des nachfolgenden Notturnos. Xylophon, Violine und Kontrabass einigen sich schüchtern auf einen Marsch im Duktus des Charleston. Peter Bing, ein mit Weill befreundeter Dirigent, will in dem Notturno „ein wahres ,Nachtstück‘ im Hoffmannschen Sinne” erkannt haben. Busoni hütete in seiner 5000 Bände umfassenden Bibliothek in der Berliner Wohnung am Viktoria-Luise-Platz 11 nicht weniger als 53 Bände von E.T.A. Hoffmann. Ob Weill das wusste?

Ohne Übergang gleitet das Notturno in den zweiten Teil, Cadenza. Man könnte vermuten, hier sei das Tummelfeld der Solovioline erreicht. Aber nein, die Trompete beginnt! Es entspinnt sich ein aparter Dialog zwischen Trompete und Violine. Doch man kommt zu keiner Einigung. Also noch einmal von vorn. Schließlich setzt sich die Violine durch und darf endlich eine ausgedehnte Kadenz zelebrieren. Punkt. Generalpause. Erst danach finden Violine und Trompete zu gemeinsamem Handeln. Die Trompete hat das letzte Wort.

Was kein Problem für die Violine ist, denn Teil drei, Serenata, gehört ihr weitgehend allein. Das heißt, sie singt lyrisch verschleierte Kantilenen und wechselt dabei fortwährend die Taktart und damit das Metrum. Die übrigen Instrumente stützen punktuell, nicht ohne gelegentlich (Oboe, Flöte) solistisch der Violine zur Seite zu stehen.

Allegro molto un poco agitato, zum Schluss endlich ein schneller Satz. Die noch immer charmant agierende Violine trifft auf ein zunehmend temperamentvolles Ensemble. Man tauscht die musikalischen Motive, spielt sich behände die Bälle zu. Schließlich tändelt die Combo aus, wohltuend entspannt. Auch die Violine verklingt. Dann aber holen alle Instrumente die lange verborgenen Clownsmasken unter den Mänteln hervor und drehen – wie im Zirkusfinale – noch einmal richtig auf. Immer noch Allegro molto, aber nicht mehr „un poco agitato“, sondern „un poco tenuto“ entlässt uns Kurt Weills Violinkonzert mit einem breiten Grinsen.

Igor Strawinsky - „Jeu de cartes“ (Das Kartenspiel)

Das Leben ist ein Spiel

Ein flüchtiger Blick auf die russischen Intellektuellen und Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts könnte den Eindruck erwecken, sie hätten einer Leidenschaft ganz besonders gefrönt: dem Spielen. Abgesehen davon, dass auch Richard Strauss leidenschaftlich gern „Skat klopfte“, fällt tatsächlich auf, dass russische Künstler zumindest auffällig oft über das Spielen reflektierten, über das Spielen als bitterernste Angelegenheit mit oft tragischem Ausgang. Nikolai Gogols Roman „Die Spieler“ oder Alexander Puschkins „Pique Dame“ bildeten ihrerseits Sujets für Opern von Dmitri Schostakowitsch (1941/1942, unvollendet) und Pjotr Tschaikowsky (1890). Sergei Prokofjew und Igor Strawinsky waren selbst leidenschaftliche Spieler, von Prokofjew hält sich hartnäckig das Gerücht, die Übernahme seiner (amerikanischen) Spielschulden durch den Sowjetstaat soll ihm 1936 die Entscheidung zur Rückkehr in die inzwischen sozialistische Heimat „erleichtert“ haben.

Im Juni des Jahres 1936 erhielt Strawinsky den ersten von mehreren interessanten amerikanischen Kompositionsaufträgen. Edward Warburg und Lincoln Kirstein hatten wenige Monate zuvor das American Ballet gegründet und baten Strawinsky um eine Komposition für ihre neue Compagnie. Der einschlägig renommierte Musiker sagte erfreut zu, weil George Balanchine die Choreographie seiner Komposition übernehmen sollte. Balanchine war Strawinsky aus Diaghilews Kreis wohlbekannt und wurde von ihm geschätzt.

„Strawinsky erschien pünktlich zu jeder Probe und blieb sechs Stunden lang. Abends nahm er den Korrepetitor mit nach Hause und arbeitete die Tempi mit ihm durch. Er war immer mit größter Sorgfalt gekleidet, in Wildlederschuhen und wundervollen karierten Anzügen mit schönen Krawatten, der vollendete Dandy, eine elegante Pariser Ausgabe englischer Schneiderkunst. Während des Durchprobierens pflegte er wie ein Metronom den Takt auf seinen Knien für die Tänze zu schlagen; dann plötzlich bat er um Unterbrechung und schlug eine Änderung vor, indem er heftig gestikulierte, um sich verständlich zu machen. Diese Vorschläge machte er nie versuchsweise, sondern aus dem Gefühl eines Menschen, dessen Autorität keinen Widerspruch duldet, weil er es besser weiß. So entschied Strawinsky zum Beispiel am Ende der ersten Runde, wo Balanchine eine fächerartige Entfaltung der Tänze geplant hatte, um eine Handvoll Karten darzustellen, daß die choreographische Konzeption überladen sei. Er zog einer solchen Variabilität der Bilder eine Wiederholung der wirkungsvollsten Gruppierungen vor. ... An einer anderen Stelle komponierte er noch etwas dazu, um der Choreographie die Möglichkeit weiterer Entfaltung zu geben.“ Lincoln Kirstein

Im November 1936 beendete Igor Strawinsky die Arbeit an „Jeu de Cartes“und reiste im Winter nach New York, um Balanchine wiederzutreffen und mit ihm zusammen an der Choreographie zum „Kartenspiel“zu arbeiten. Am 27. April 1937 wird „Jeu de Cartes“in der New Yorker Metropolitan Opera unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt. 1936 beendete Strawinsky auch die Niederschrift seiner „Chroniques de ma vie“. Sie schließen mit den bezeichnenden Sätzen: „Ich lebe weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft: ich bin in der Gegenwart. Ich weiß nicht, was morgen sein wird, ich kann nur für das eintreten, was mir heute als wahr gilt. Dieser Wahrheit zu dienen, bin ich berufen, und ich diene ihr in aller Unbefangenheit.“

Hoch gepokert

Das achte und vorerst letzte von Strawinskys Balletten handelt – vom Kartenspielen. Ein Pokerspiel „in drei Runden“ nennt sich die Musik von „Jeu de Cartes“.

Die handelnden „Personen“ sind Spielkarten. Ständig mischt sich ein Joker als eitles Zünglein an der Waage ein. Doch statt Glück zu bringen, stiftet er Verwirrung, stört als Bösewicht. Die Konstellation findet sich bei Strawinsky häufig: der Mohr als Gegenspieler Petruschkas, der Teufel in „Die Geschichte vom Soldaten“, der Shadow in „The Rake‘s Progress“ – „das sind verschiedene Hüllen des Verderbers, der die Menschen wie Marionetten regiert und ihre Handlungen lenkt“ (Michail Druskin).

Paradoxerweise hält Strawinsky gerade „Jeu de cartes“für die „deutscheste“ seiner Kompositionen.

Jede neue Pokerrunde wird von einer Marsch-Introduktion eröffnet, die identifiziert ist mit der Rolle des Bankhalters, des Zeremonienmeisters. An dessen Rufe könne er sich gut erinnern, meinte Strawinsky, weil er sie als Kind oft in deutschen Spielcasinos gehört hatte. Vielleicht formte er diese barockisierend-archaische Introduktion im „Pulcinella“-Stil gerade deshalb den Festouvertüren von Georg Friedrich Händel nach? Doch damit nicht genug der Zitate in der eklektischen Ballettmusik. Johann Strauß’ „Die Fledermaus“ und andere Walzer, etwa Maurice Ravels „La Valse“, defilieren vorbei, ebenso das Allegretto scherzando aus Ludwig van Beethovens Achter Sinfonie oder die Ouvertüre zu „Der Barbier von Sevilla“ von Gioacchino Rossini. Atmosphärisch und sogar harmonisch stehen Leo Délibes Ballett „Coppelia“ und manche anmutige Szene von Pjotr Tschaikowsky Pate.

Herz ist Trumpf

In der ersten Runde schaltet der Joker durch geschicktes Taktieren und manchen hinterlistigen Zug bereits einen der drei „Spieler“ aus. Zwei sogenannte Full Houses (zwei Achten, zwei Könige und Joker gegen zwei Sieben und drei Asse) treten gegeneinander an, der Joker kann trotz pompösen Gehabes das Spiel nicht wenden. Die zweite Runde, ein Marsch mit Variationen, zeigt zunächst das Ausscheiden der Buben im Kampf gegen die Könige; danach treten die vier Königinnen einzeln auf, beobachten, wie der Herz-Bube ihnen seine Reverenz erweist („Sostenuto“) und tanzen mit ihm einen „Pas de cinq“. In einem weiteren Marsch schlagen die vier Asse und der Joker die Königinnen, die vom Joker in einem grotesken „Pas de cinq“ verspottet werden. Die dritte Runde bringt schließlich die Entscheidung: Zu einem Walzer-Menuett treten zwei sogenannte Flushs von niedrigen Pik- und Herzkarten auf und ringen um die Vorherrschaft („Presto“). Dann zieht ein Royal Flush (die fünf höchsten) der Herzkarten auf und gewinnt das Spiel. Das Symbol der Liebe triumphiert. Die Niedertracht unterliegt.

Kurt Weill/ Bertolt Brecht - Die Sieben Todsünden

Verführung in den Abgrund

Eigentlich wollte Bertolt Brecht den „falschen Richard Strauss“, wie er seinen musikalischen Mitarbeiter Kurt Weill 1931 während der Proben zu „Mahagonny“ bezeichnet hatte, „in voller Kriegsbemalung die Treppe hinunterstoßen“. Die ehemals erfolgreiche, erfrischend andere künstlerische Liaison der Autoren der „Dreigroschenoper“ schien endgültig beendet, seit Weills Tendenz weg vom Song hin zur (bürgerlichen) sinfonischen Geste immer offenkundiger wurde, während Brecht seine Sache und seine Sprache angesichts des aufziehenden Nationalsozialismus weiter zuspitzte. Der Kampf der Kulturen wurde zum Klassenkampf, sogar zwischen den beiden Geistesverwandten.

Doch Brecht kam sofort, als Weill 1933 rief, um ein nächstes (und letztes) gemeinsames Projekt mit ihm zu besprechen. Es war in dieser ernüchternden politischen (und wirtschaftlichen) Situation die schiere Intelligenz, welche die beiden Intellektuellen erneut eine Zusammenarbeit versuchen ließ. Das Exil – Weill lebte inzwischen in Frankreich, Brecht in der Schweiz – beförderte die praktische Professionalität, mit der sie sich schnell über die sieben Todsünden der Kleinbürger einigen konnten.

Doch bereits beim Titel des neuen Werkes begannen die Spannungen erneut. Hatte Brecht mit bissiger Ironie von den sieben Todsünden der Kleinbürger gesprochen – und die Großbürger damit voller Hohn von der Sünde freigesprochen – wählte Weill die verallgemeinernde, sozial versöhnlerische Variante „Die Sieben Todsünden“.

Ausgerechnet Amerika

Das Thema von den Versuchungen des Geldes, welche den Charakter verderben, ist so alt wie die Kulturgeschichte der Menschheit. Es findet sich im altenglischen morality play „Everyman“ aus der Zeit vor Shakespeare, in der „Comedi von dem reichen sterbenden Menschen“ aus der Feder von Hans Sachs, in einem Gedicht von Albrecht Dürer und 1903 im „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal. Dass Brecht anno 1933 das Thema jedoch auf die bitteren Begleiterscheinungen der jungen, aufstrebenden Gesellschaft in den USA bezog, und eben nicht ansiedelte in den dafür mindestens genauso ergiebigen politischen Sümpfen Europas, mag ihm die „gute Gesellschaft“ (Brechts „Zielgruppe“) bis heute nicht verzeihen.

Während Brecht die sieben Todsünden in erschütternd schmuckloser Sprache aufreiht, der bigotten Scheinmoral im amerikanischen Westen rücksichtslos das Mäntelchen wegzieht, deckt Weill die Brüche mehr oder minder moralisierend zu. Namentlich der Einsatz des Orchesters in üppiger Pracht weist voraus auf den Komponisten des Dramas mit Musik „The Eternal Road“, des Musicals „Street scenes“ oder diverser Hollywoodscores. Weills Musik erinnert kaum noch an den lakonischen Songstil der 1920er-Jahre. Darüber kann auch die virtuos gehandhabte Rolle der Protagonistin nicht hinwegtäuschen, mehr sprechend denn singend.

Aufstieg und Abgesang

Kurt-Weill-Gedenktafel in Paris

Für den im März 1933 auf der Flucht vor den Nazis in Paris eingetroffenen Kurt Weill ergab sich sofort ein lukrativer Auftrag. Gefeiert für „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, die „Dreigroschenoper“ und den „Jasager“, baten ihn die vom ehemaligen Diaghilew-Mitarbeiter Boris Kochno neugegründeten „Ballets 1933“ um ein neues Werk. Es lag nahe, dass Weill versuchen würde, das „Mahagonny“-Erfolgsteam wieder zusammenzubekommen. Nachdem Brecht zugesagt hatte (obwohl Jean Cocteau Weills erste Wahl für das Libretto gewesen wäre, aber abgesagt hatte), wurde Lotte Lenya für die Rolle der Anna I engagiert. Die Ehefrau des Komponisten hatte sich vor kurzem von ihm getrennt, und das Scheidungsverfahren lief bereits. Auch Caspar Neher, der bewährte Bühnenbildner und Ausstatter, kam erneut mit ins Boot. Diaghilews einstiger Solotänzer Georges Balanchine wirkte als Choreograph mit, während die Tänzerin Tilly Losch die Partie der Anna II verkörperte.

Die Uraufführung am 7. Juni 1933 im Pariser Théâtre des Champs Elysées dirigierte Maurice Abravanel, ein Premierenabend scheinbar wie in Berliner Zeiten, Weill, Lenya, Brecht und Neher auf der Bühne vereinigt.

„Es wurde ein großer Abend. Eine Elite feierte Künstler und Interpreten, wie man sie aus der großen Epoche der deutschen Theaterkunst gewohnt war.“

Walter Mehring in der Exilzeitschrift „Das neue Tagebuch“

Aber es ist der Abgesang auf den Abgang der Elite.

Das Haus in Louisiana – ein bigottes Lügengebäude

Völlige Freiheit beim Ausprobieren unkonventioneller Ideen, das war die Bedingung, unter der Kurt Weill den Auftrag angenommen hatte. Heraus kam ein Ballett mit Gesang, eine „epische Kurzoper mit songspielhaften Elementen auf der Basis eines Balletts“ (Gottfried Wagner), eine Geschichte also, die gespielt, getanzt und gesungen werden soll.

Eine kleinbürgerliche Familie aus Louisiana schickt ihre Tochter in die Welt hinaus, damit sie Geld verdiene für ein gemeinsames Haus der Familie. Doch Annas Persönlichkeit zerbricht am Zwiespalt zwischen kalter Berechnung und unschuldiger Lebenslust in zwei Hälften. Anna I, die „kopflastige“ Sängerin und Meisterin des Wortes, kommt als Prinzip Vernunft daher; managt und mahnt ihre bauchgesteuerte Zwillingsschwester, die hübsche, „ein bisschen verrückte“ Anna II. Sie, die Tänzerin, muss ihren Körper hinhalten, kann nur in Form von Bewegungen handeln. Wenige stereotype Antworten („Nicht wahr, Anna?“ – „Ja, Anna“) führen beide Annas auf der Ebene der Sprache zusammen.

Anna I und Anna II, das sind die berühmten zwei Seelen in der Brust einer durch die Verhältnisse gespaltenen Persönlichkeit, die Brecht schon für „Die Ware Liebe“ entworfen hatte, woraus später „Der gute Mensch von Sezuan“ wurde. Für Weill lagen sie „untrennbar in der Natur jeder Frau“.

Dass unterdessen die beiden gesunden und arbeitsfähigen Brüder Annas sich zu Hause abducken, gar das Verhalten ihrer Schwester mit vulgären Kommentaren und pseudoreligiösen Ermahnungen begleiten, ist ein oft übersehener Seitenhieb Brechts. Der Vater bleibt merkwürdig blass, er stimmt lediglich mit ein in den Chor der Mahner. Die Mutter dagegen hat ihre drei „Adamsäpfel“ – Söhne und Vater – fest in der Hand. Mit dröhnendem, patriarchalischem Bass – eine geniale Idee von Weill – gibt sie die Marschrichtung vor, von Denkrichtung kann keine Rede sein. Eine Todsünde um die andere wird Anna vorgehalten von diesen frommen Schmarotzern, die sich als selbsternannte Eigentümer der Moral gebärden, welche die heilige Angst vor den biblischen Todsünden kurzerhand missbrauchen für ihre zutiefst materiellen Interessen.

Brechts stummer Vorwurf der Zuhälterei, die aus dem Schoß der eigenen Familie kriecht, liegt förmlich in der Luft.

Die Todsünderin und ihre Richter

Anna I berichtet die Begegnungen und Abenteuer, welche sie gemeinsam mit Anna II – stets unter vollem Einsatz des Körpers – in sieben Jahren an sieben Stationen durchmachen muss. Die moralinsaure Bewertung der „Taten“ nimmt dagegen die Familie vor.

Zuerst fällt angeblich die Faulheit über die arme Anna her. Doch was weiß schon die nichtsnutzige Familie von ihren Skrupeln, davon, dass ihr das Abzocken geprellter Liebhaber allmählich peinlich geworden ist. In Memphis steigt ihr der Stolz zu Kopf. Als Tänzerin will sie Kunst machen, doch das Volk lacht. Also überwindet sie tapfer den Stolz und zeigt bloß noch ihren Hintern, so wie das die braven Leute mögen. Hauptsache, zu Hause wächst das Haus. In Los Angeles wird ihr beinahe ihre Tierliebe zum Verhängnis. Im Zorn entreißt sie dem Reitlehrer die Peitsche, als der auf ein Pferd einschlägt. Die Moral von der Geschicht‘: Ertrag‘ Brutalität und Ungerechtigkeit, wenn du vorankommen willst.

In Philadelphia klappt es endlich als Solotänzerin. Doch das Girl hat gefälligst zu hungern für die Modelfigur. Wehret der Völlerei! In Boston trifft Anna auf die Liebe. Doch leider gleich doppelt. Einem Gigolo und Habenichts verfällt sie, ein reicher Charmeur ist ihr verfallen. Er kauft sie mit Geschenken. Anna nimmt das Geld des anderen, um den einen auszuhalten. Doch was bleibt da für die Familie? Unzucht nennt man das, wenn die gute Partie wegen eines albernen Gefühls aufs Spiel gesetzt wird!

Anna entwickelt sich: In Baltimore schafft sie es zur lokalen Berühmtheit, weil ihre inzwischen erworbene Geschäftstüchtigkeit im Umgang mit Gefühlen einige Männer in den Selbstmord getrieben hat. Die Wände des heimatlichen Hauses in Louisiana wachsen schneller denn je. Doch jetzt macht sich die Familie Sorgen um ihren guten Ruf. Du sollst nicht habsüchtig sein (gierig schon, aber heimlich).

Ausgerechnet an der letzten Station, in San Francisco, befällt Anna die Verzweiflung. Voller Sehnsucht schaut sie auf all jene, die lieben und leben, ohne dauernd an Geld und Gewinn denken zu müssen. Sie will nicht nach Hause, wo ein schmuckes Häuschen und eine biedere Familie auf sie warten. Doch jede Regung, in der bunten Welt zu verbleiben, wird bedroht vom durch die Familie verhängten Damoklesschwert namens Neid. Anna lässt alle närrischen Instinkte fahren und kehrt in den Schoß ihrer Lieben zurück.

Bittersüße Ambivalenz

Trockener Rhythmus, knappe Aussagen, alltägliche Sprache – der Brecht-Text zielt nicht auf Schönheit. „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ lässt er die verlogene Sippe predigen, Heilsanrufungen wie „Der Herr erleuchte unsere Kinder“ stellen deren Bigotterie bloß.

Der Komponist reagiert bisweilen kongenial auf derlei Satire: In Nr. 6, „Unzucht“, Anna unmissverständlich zur Prostitution auffordernd, säuselt die Familie einen Choral als platte Schnulze.

Weill rahmt die Handlung durch einen Prolog und einen Epilog. Dazwischen verkörpern populäre Tanzformen die verschiedenen Stationen der Reise: Walzer, Furiant, Foxtrott, Shimmy, Dixieland, Tarantella. Sprach- und Musikrhythmus scheinen sich oft gegenseitig zu ergänzen, aber zweitweise entsteht der Eindruck, Musik und Text würden aneinander vorbeireden oder die Musik möchte gar die harten Worte nivellieren. Weill wählt mattgewordene Volksmusikklischees, lädt sie aber emotional süß und bitter zugleich auf.

Drei Ebenen machen die Musik aus. Die Vertonung von Annas Bericht steht an Schmucklosigkeit dem Brechtschen Text nicht nach. Das Orchester hingegen darf situationsillustrierend rauschen, auch wenn sich in die schmissigen Tänze schattige Töne, Ernst und Verdruss mischen. Weills Orchester hat sich seit den Berliner Zeiten deutlich vergrößert, ist sinfonischer geworden, virtuoser. Aber es bleibt dem Hörer überlassen, ob er sich dem Orchesterbad schwelgend hingibt oder ob er sich angesichts des Truges unbehaglich fühlt. Besonders ätzend hat Weill die Familie bedacht.

Ein Männerquartett kommentiert, oft a cappella, Annas Verfehlungen. Dabei erreicht die Karikatur deutscher Männergesangsvereinstümelei herrlich groteske Züge.

Einen Höhepunkt stellt die große Tenorarie in Nr. 7 dar: „Wer seine Habsucht zeigt, um den wird ein Bogen gemacht“, ereifert sich ein Familienmitglied mit der Stimmlage Tenor. Wohlgemerkt, nur wer sie zeigt, ist der Dumme.

Die sieben Todsünden der Kleinbürger - Text von Bertolt Brecht

1 Prolog

Anna 1

Meine Schwester und ich stammen aus Louisiana,
Wo die Wasser des Mississippi unterm Monde fließen.
Wie Sie aus den Liedern erfahren können.
Dorthin wollen wir zurückkehren,
Lieber heute als morgen.

Anna 2

Lieber heute als morgen!

Anna 1

Wir sind aufgebrochen vor vier Wochen
Nach den großen Städten, unser Glück zu versuchen.
In sieben Jahren haben wir’s geschafft,
Dann kehren wir zurück.

Anna 2

Aber lieber schon in sechs!

Anna 1

Denn auf uns warten unsre Eltern und zwei Brüder in Louisiana,
Ihnen schicken wir das Geld, das wir verdienen,
Und von dem Gelde soll gebaut werden ein kleines Haus,
Ein kleines Haus am Mississippi in Louisiana.
Nicht wahr, Anna?

Anna 2

Ja, Anna.

Anna 1

Meine Schwester ist schön, ich bin praktisch.
Sie ist etwas verrückt, ich bin bei Verstand.
Wir sind eigentlich nicht zwei Personen,
Sondern nur eine einzige.
Wir heißen beide Anna,
Wir haben eine Vergangenheit und eine Zukunft,
Ein Herz und ein Sparkassenbuch,
Und jede tut nur, was für die andre gut ist.
Nicht wahr, Anna?

Anna 2

Ja, Anna.

2 Faulheit

Familie

Hoffentlich nimmt sich unsre Anna auch zusammen.
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Sie war ja immer etwas eigen und bequem.
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Und wenn man die nicht aus dem Bett herauswarf,
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Dann stand das faule Stück nicht auf am Morgen.
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Anderseits ist ja unsre Anna ein sehr aufmerksames Kind.
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Sie war immer folgsam und den Eltern treu ergeben.
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Und so wird sie es, wir wollen hoffen,
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Nicht am nöt’gen Fleiße fehlen lassen in der Fremde.
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Der Herr erleuchte unsre Kinder,
Daß sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt.
Er gebe ihnen die Kraft und die Freudigkeit,
Daß sie nicht sündigen gegen die Gesetze,
Die da reich und glücklich machen.

3 Stolz

Anna 1

Als wir aber ausgestattet waren,
Wäsche hatten, Kleider und Hüte,
Fanden wir auch bald eine Stelle in einem Kabarett als Tänzerin,
Und zwar in Memphis, der zweiten Stadt unsrer Reise.
Ach, es war nicht leicht für Anna.
Kleider und Hüte machen ein Mädchen hoffärtig.
Wenn die Tiger trinkend
Sich im Wasser erblicken,
Werden sie oft gefährlich!
Also wollte sie eine Künstlerin sein
Und wollte Kunst machen in dem Kabarett,
In Memphis, der zweiten Stadt unsrer Reise.
Und das war nicht, was dort die Leute wollen,
Was dort die Leute wollen, war das nicht.
Denn diese Leute zahlen und wollen,
Daß man etwas herzeigt für ihr Geld.
Und wenn da eine ihre Blöße versteckt wie’nen faulen Fisch,
Kann sie auf keinen Beifall rechnen.
Also sagte ich meiner Schwester Anna:
„Stolz ist etwas für die reichen Leute;
Tu was man von dir verlangt und nicht
Was du willst, daß sie von dir verlangen.“

Anna 1

Manchen Abend hatt’ ich meine Mühe,
Ihr den Hochmut abzugewöhnen.
Manchmal brachte ich sie zu Bette,
Tröstete sie und sagte ihr:
„Denk an das kleine Haus in Louisiana!“

Familie

Der Herr erleuchte unsre Kinder,
Daß sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt.
Wer über sich selber den Sieg erringt,
Der erringt auch den Lohn.

4 Zorn

Familie

Das geht nicht vorwärts!
Was die da schicken,
Das sind keine Summen, mit denen man ein Haus baut.
Die verfressen alles selber.
Denen muß man mal den Kopf waschen,
Sonst geht das nicht vorwärts,
Denn was die dummen Tiere schicken,
Das sind doch wirklich keine Summen,
Mit denen man ein kleines Haus baut.

Anna 1

Jetzt geht es vorwärts!
Wir sind schon in Los Angeles.
Und den Statisten stehen alle Türen offen.
Wenn wir uns jetzt zusammennehmen
Und jeden Fehltritt vermeiden,
Dann geht es unaufhaltsam weiter nach oben.

Familie

Der Herr erleuchte unsre Kinder,
Daß sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt.

Anna 1

Wer dem Unrecht in den Arm fällt,
Den will man nirgends haben,
Und wer über die Rohheit in Zorn gerät,
Der lasse sich gleich begraben.
Wer keine Gemeinheit duldet,
Wie soll der geduldet werden?
Wer da nichts verschuldet,
Der sühnt auf Erden.
Und so hab’ ich meiner Schwester den Zorn abgewöhnt
In Los Angeles, der dritten Stadt der Reise,
Und die offene Mißbilligung des Unrechts,
Die so sehr geahndet wird.
Immer sagte ich ihr: „Halte dich zurück, Anna,
Denn du weißt, wohin die Unbeherrschtheit führt.“
Und sie gab mir recht und sagte:

Anna 2

„lch weiß es, Anna.“

5 Völlerei

Familie

Da ist ein Brief aus Philadelphia:
Anna geht es gut.
Sie verdient jetzt endlich.
Sie hat einen Kontrakt als Solotänzerin.
Danach darf sie nicht mehr essen, was sie will und wann sie will.
Das wird schwer sein für unsre Anna,
Denn sie ist doch so sehr verfressen.
Ach, wenn sie sich da nur an den Kontrakt hält,
Denn die wollen kein Nilpferd in Philadelphia.
Sie wird jeden Tag gewogen.
Wehe, wenn sie ein Gramm zunimmt,
Denn die stehen auf dem Standpunkt:
52 Kilo haben wir erworben,
52 Kilo ist sie wert.
Und was mehr ist, ist vom Übel.
Aber Anna ist ja sehr verständig,
Sie wird sorgen, daß Kontrakt Kontrakt ist.
Sie wird sagen: Essen kannst du schließlich in Louisiana, Anna.
Hörnchen! Schnitzel! Spargel! Hühnchen!
Und die kleinen gelben Honigkuchen!
Denk an unser Haus in Louisiana!
Sieh, es wächst schon, Stock- um Stockwerk wächst es!
Darum halte an dich: Freßsucht ist vom Übel.
Halte an dich, Anna,
Denn die Freßsucht ist vom Übel.

6 Unzucht

Anna 1

Und wir fanden einen Mann in Boston,
Der bezahlte gut, und zwar aus Liebe.
Und ich hatte meine Not mit Anna,
Denn auch sie liebte, aber einen andern,
Und den bezahlte sie, und auch aus Liebe.
Ach, ich sagte ihr oft:
„Ohne Treue bist du höchstens die Hälfte wert.
Man bezahlt doch nicht immer aufs neue,
Sondern nur für das, was man verehrt.
Das kann höchstens eine machen,
Die auf niemand angewiesen ist.
Eine andre hat nichts zu lachen,
Wenn sie einmal ihre Situation vergißt.“
Ich sagte ihr:
„Setz dich nicht zwischen zwei Stühle.“
Und dann besuchte ich ihn
Und sagte ihm:
„Solche Gefühle
Sind für meine Schwester
Anna der Ruin.
Das kann höchstens eine machen,
Die auf niemand angewiesen ist.
Eine andre hat nichts zu lachen,
Wenn sie einmal ihre Situation vergißt.“
Leider traf ich Fernando noch öfter.
Es war gar nichts zwischen uns. – Lächerlich!
Aber Anna sah uns, und leider
Stürzte sie sich gleich auf mich.

Familie

Der Herr erleuchte unsre Kinder,
Daß sie den Weg erkennen,
der zum Wohlstand führt,
Daß sie nicht sündigen gegen die Gesetze,
Die da reich und glücklich machen

Anna 1

Und sie zeigt ihren kleinen weißen Hintern,
Mehr wert als eine kleine Fabrik,
Zeigt ihn gratis den Gaffern und Straßenkindern,
Der Welt profanem Blick.
Das gibt immer solche Sachen,
Wenn man sich ein einz’ges Mal vergißt.
Das kann höchstens mal eine machen,
Die auf keinen Menschen angewiesen ist.

Familie

Wer über sich selber den Sieg erringt,
Der erringt auch den Lohn.

Anna 1

Ach, war das schwierig, alles einzurenken,
Abschied zu nehmen von Fernando
Und sich bei Edward zu entschuldigen,
Und die langen Nächte,
Wo ich meine Schwester weinen hörte und sagen:

Anna 2

„Es ist richtig so, Anna,
Aber so schwer.“

7 Habsucht

Familie

Wie hier in der Zeitung steht,
Ist Anna schon in Baltimore,
Und um sie schießen sich allerhand Leute tot.
Da wird sie viel Geld verdienen,
Wenn so was in der Zeitung steht.
Das ist gut, das macht einen Namen
Und hilft einem Mädchen vorwärts.
Wenn sie da nur nicht zu gierig ist,
Sonst macht man sich nichts mehr aus ihr.
Wenn sie da nur nicht allzu gierig ist.
Sonst macht man bald einen großen Bogen um sie.
Wer seine Habsucht zeigt,
Um den wird ein Bogen gemacht.
Mit Fingern zeigt man auf ihn,
Dessen Geiz ohne Maßen ist!
Wenn die eine Hand nimmt,
Muß die andere geben;
Nehmen für geben, so muß es heißen,
Pfund für Pfund!
So heißt das Gesetz!
Darum hoffen wir, daß unsere Anna auch so vernünftig ist
Und den Leuten nicht ihr letztes Hemd wegnimmt
Und ihr letztes Geld.
Nackte Habsucht gilt nicht als Empfehlung.

8 Neid

Anna 1

Und die letzte Stadt der Reise war San Francisco.
Alles ging gut, aber Anna war oft müde und beneidete jeden,
Der seine Tage zubringen durfte in Trägheit.
Nicht zu kaufen und stolz
In Zorn geratend über jede Rohheit,
Hingegeben seinen Trieben, Ein Glücklicher!
Liebend nur den Geliebten
Und offen nehmend, was immer er braucht.
Und ich sagte meiner armen Schwester,
Als sie neidisch auf die andern sah:
„Schwester, wir alle sind frei geboren
Und wie es uns gefällt, können wir gehen im Licht.
Also gehen aufrecht im Triumphe die Toren,
Aber wohin sie gehn, das wissen sie nicht.
Schwester, folg mir und verzicht auf die Freuden,
Nach denen es dich wie die andern verlangt.
Ach, überlaß sie den törichten Leuten,
Denen es nicht vor dem Ende bangt!
Iß nicht und trink nicht und sei nicht träge,
Die Strafe bedenk, die auf Liebe steht.
Bedenk, was geschieht, wenn du tätst, was dir läge,
Nütze sie nicht, nütze sie nicht,
Nütze die Jugend nicht, denn sie vergeht.
Schwester, folg mir, du wirst sehen, am Ende
Gehst im Triumph du aus allem hervor.
Sie aber stehen, oh schreckliche Wende,
Zitternd im Nichts vor verschlossenem Tor.“

Familie

Wer über sich selber den Sieg erringt,
Der erringt auch den Lohn.

9 Epilog

Anna 1

Darauf kehrten wir zurück nach Louisiana,
Wo die Wasser des Mississippi unterm Monde fließen.
Sieben Jahre waren wir in den Städten,
Unser Glück zu versuchen.
Jetzt haben wir’s geschafft.
Jetzt steht es da, unser kleines Haus in Louisiana.
Jetzt kehren wir zurück in unser kleines Haus
Am Mississippi-Fluß in Louisiana.
Nicht wahr, Anna?

Anna 2

Ja, Anna.

Abendbesetzung, Kurzbiographien

Katharine Mehrling

Katharine Mehrling ist in der Komischen Oper Berlin oder im Konzertsaal genauso zuhause wie in der Bar jeder Vernunft. Sechs Mal hat sie den Publikumspreis „Goldener Vorhang“ erhalten – als beliebteste Schauspielerin Berlins – und wurde mit dem BZ-Kulturpreis ausgezeichnet.

Der Weg der Schauspielerin, Sängerin & Songwriterin führte nach New York auf die Schauspielschule, zum Theaterdebüt ins Old Vic Theatre im Londoner West End und nach Paris. Sie zog nach Berlin, eroberte Theaterbühnen und Publikum.

Seit ihrem Kurt-Weill-Abend „Lonely House“ – mit Barrie Kosky am Klavier – wird sie als Weill-Interpretin hochgeschätzt, u.a. 2021 beim Edinburgh Festival 2021. Im Jahr 2022 war Katharine Mehrling als Kurt-Weill-Botschafterin „Artist-in-Residence“ des Kurt-Weill-Festes in Dessau.

Ihrer Liebe zum Jazz und zum französischen Chanson widmet sie sich in vielen ihrer Programme und auf mehreren CDs. Gemeinsam mit Jazz-Klarinettist Rolf Kühn hat sie das Album „Am Rande der Nacht“ mit eigenen Liedern produziert. International gibt sie Konzerte zum Beispiel in Joe’s Pub at the Public Theatre in New York oder in The Cabaret in Indianapolis.

Christian Tetzlaff

Konzerte mit Christian Tetzlaff werden oft zu einer existenziellen Erfahrung für Interpret und Publikum gleichermaßen. Der Geiger nimmt den Notentext beim Wort, er versteht Musik konsequent als Sprache, und er liest die großen Werke als Erzählungen, die tiefe Einsichten spiegeln.

Was so selbstverständlich klingt, ist im Konzertalltag ein ganz ungewöhnlicher Ansatz und eröffnet den Zugriff auf die bekannten, großen Werke oft in neuer Klarheit und Schärfe. Dabei benutzt er das Instrument als Mittel zum Sprechen, das freilich nicht allein auf Wohlklang und virtuosen Glanz ausgerichtet sein kann. Und Christian Tetzlaff begibt sich als Musiker in die Grenzbereiche der Gefühle – und der musikalischen Gestaltung. Denn in vielen Werken geht es um nichts Geringeres als um Leben und Tod. In diesem Wahrnehmungsprozess fällt sein Blick immer wieder auch auf vergessene Meisterwerke, wie das Violinkonzert von Joseph Joachim, für das er sich erfolgreich stark gemacht hat, oder das Violinkonzert Nr. 22 von Giovanni Battista Viotti, einem Zeitgenossen Mozarts und Beethovens. Gleichzeitig interpretiert er Beethoven in schier unerhörter Art und Weise.

Voraussetzung für diesen Ansatz sind Mut zum Risiko und spieltechnische Souveränität und eine große Wachheit und Offenheit fürs Leben im Ganzen. Bezeichnenderweise hat Christian Tetzlaff viele Jahre in Jugendorchestern gespielt, in Uwe-Martin Haiberg hatte er an der Musikhochschule Lübeck einen Lehrer, für den die musikalische Interpretation der Schlüssel zur Geigentechnik war – nicht umgekehrt.

Zudem engagiert sich Christian Tetzlaff für gehaltvolle neue Werke, wie das von ihm im Jahre 2013 uraufgeführte Violinkonzert von Jörg Widmann – er pflegt ein ungewöhnlich breites Repertoire und gibt rund 100 Konzerte pro Jahr: Dabei tritt er an der Seite der renommiertesten Dirigenten und Orchester auf vier Kontinenten auf. So war er „Artist in Residence“ bei den Berliner Philharmonikern, hat eine mehrere Spielzeiten umfassende Konzertserie mit dem Orchester der New Yorker Met unter James Levine bestritten und gastiert regelmäßig u.a. bei den Wiener und den New Yorker Philharmonikern, dem Concertgebouworkest und den großen Londoner Orchestern. Dabei arbeitet er mit Dirigenten wie Andris Nelsons, Robin Ticciati und Vladimir Jurowski zusammen. Beim RSB gastiert er 2022 zum vierten Mal nach 2008, 2013 und 2017.

Bereits 1994 gründete Christian Tetzlaff sein eigenes Streichquartett, und bis heute liegt ihm die Kammermusik ebenso am Herzen wie seine Arbeit als Solist mit und ohne Orchester. Das Tetzlaff-Quartett wurde u.a. mit dem Diapason d’or ausgezeichnet, das Trio mit seiner Schwester Tanja Tetzlaff und dem inzwischen verstorbenen Pianisten Lars Vogt für den Grammy nominiert. Aber auch für seine solistischen CD-Aufnahmen hat Christian Tetzlaff zahlreiche CD-Preise erhalten. Er spielt eine Geige des deutschen Geigenbauers Peter Greiner und unterrichtet regelmäßig an der Kronberg-Akademie.

Das RSB in der Philharmonie Berlin, Foto: Peter Meisel

RSB-Abendbesetzung

Violine 1

Erez Ofer, Susanne Herzog, Kosuke Yoshikawa, Andreas Neufeld, Marina Bondas, Franziska Drechsel, Karin Kynast, Bettina Sitte, Anna Morgunowa, Maria Pflüger, Steffen Tast, Susanne Behrens, Antoine Guillier*, Jiho Kang**, Emily Mücke**, Irina Granovskaya**

Violine 2

Nadine Contini, Maximilian Simon, David Drop, Sylvia Petzold, Anne-Kathrin Seidel, Brigitte Draganov, Martin Eßmann, Juliane Manyak, Neela Hetzel de Fonseka, Juliane Färber, Ania Bara, Enrico Palascino, EvaWetzel*, David Marquard*

Viola

Alejandro Regueira-Caumel, Gernot Adrion, Christiane Silber, Elizaveta Zolotova, Emilia Markowski, Jana Drop, Carolina Montes, Alexey Doubovikov, Hyeri Shin, Misha Balan-Dorfman**, Dilhan Kantas**, Daniel Burmeister*

Violoncello

Konstanze von Gutzeit, Ringela Riemke, Jörg Breuninger, Volkmar Weiche, Peter Albrecht, Georg Boge, Christian Bard, Andreas Kipp, Lukas Wittrock*, Anna Kalvelage*

Kontrabass

Hermann Wömmel-Stützer, Stefanie Rau, Georg Schwärsky, Iris Ahrens, Fridtjof Ruppert, Axel Buschmann, Milan Thürer**, Paul Wheatley**

Flöte

Ulf-Dieter Schaaff, Rudolf Döbler, Markus Schreiter

Oboe

Gabriele Bastian, Florian Grube, Gudrun Vogler

Klarinette

Oliver Link, Peter Pfeifer, Christoph Korn

Fagott

Miriam Kofler, Vedat Okulmus**, Clemens Königstedt

Horn

Daniel Ember, Uwe Holjewilken, Frank Stephan, Felix Hetzel de Fonseka

Trompeten

Lars Ranch, Damir Bacikin**, Patrik Hofer, Raphael Mentzen**

Posaune

Hannes Hölzl, Daniel Holthaus**, József Vörös

Tuba

Fabian Neckermann

Neckermann, Fabian

Pauke

Arndt Wahlich

Harfe

Maud Edenwald

Schlagzeug

Tobias Schweda, Minhye Ko**, Hanno Vehling**, Alexandros Giovanos**

Harfe

Maud Edenwald

Klavier

Heike Gneiting**

Gitarre/Banjo

Johannes Gehlmann**

* Orchesterakademie

** Gäste

Kooperation

Logo rbb kulturradio

Das Konzert wird live ab 20.04 Uhr auf rbb Kultur übertragen.

Bild- und Videoquellen

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www.youtube.com/watch?v=gfCgoCMu-ec

www.youtube.com/watch?v=Qf2am7over8

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1919_Ernst_Hoenisch_Portrait_Kurt_Weill.jpg

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Igor_Stravinsky_by_Hilda_Wiener.jpg

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Igor_Stravinsky_by_Arnold_Newman.jpg

Bilder von den Proben © Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin & Peter Meisel

Bild von Katharine Mehrling © Kaspar Wollheim