Das RSB und Beethovens Neunte Sinfonie

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielt Beethoven Neunte Sinfonie traditionell zu Silvester. Diese Tradition pflegt das RSB seit mehr als 70 Jahren.

Konstanten

Ludwig van Beethoven wurde nach seinem Tod im Jahr 1827 immer wieder für politische Zwecke in Anspruch genommen. Die teils extremen Umbrüche im Deutschland des 20. Jahrhunderts haben eine Vielzahl mitunter sehr unterschiedliche Interpretationen der Person Beethoven und seiner Werke hervorgebracht. Besonders die Neunte Sinfonie mit ihrem Schlusschor, der Ode an die Freude war für die verschiedenen politischen Strömungen von Interesse.

Ebenso wie Beethoven und seine Neunte, hat das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in den vergangenen 100 Jahren dunkle und strahlende Kapitel der Deutschen Geschichte miterlebt.

Als Orchester, das seit seiner Gründung konstant vonseiten des Staates mitfinanziert wurde, war es eng mit den politischen Entwicklungen verbunden. Beethovens Neunte Sinfonie hat das Orchester oft gespielt. Die Anlässe waren selten frei von Politisierung. Bis heute ist das Werk im ständigen Repertoire des RSB enthalten. Dementsprechend sind Werk und Orchester zu kulturpolitischen Konstanten der Geschichte Deutschlands geworden und es lohnt ein Blick auf die Berührungspunkte im Laufe der vergangenen hundert Jahre.

Unpolitisch politisch

Ludwig van Beethoven lässt sich keiner bestimmten politischen Richtung zuordnen, denn er selbst hat seine Meinung zur Politik, wenn, dann nur mündlich geäußert. Es existieren nach jetzigem Kenntnisstand keine Belegquellen, die Auskunft über Beethovens Haltung gegenüber politischen Themen geben.

Die Auslegung der Biografie des Komponisten und seiner Werke war für die politischen Kräfte im Deutschland des 20. Jahrhunderts dennoch wichtig. Zur Rechtfertigung eines bestimmten Weltbildes nutzten besonders die diktatorischen Regierungen konkrete historische Ereignisse, geschichtsträchtige Personen und Traditionen als Anhaltspunkte, um die Idee der entsprechenden Weltanschauung als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung zu belegen. Wenn es keine entsprechenden Anschlussmöglichkeiten gab, oder bestimmte Teile nicht zur Ideologie passten, wurden diese schlicht ausgelassen, inhaltlich verändert oder ganz neu ausgelegt. Als kulturgeschichtliche Persönlichkeit, deren Kompositionen im Laufe der Jahrhunderte einen sehr hohen gesellschaftlichen Bekanntheitsgrad erreicht hatten, war Beethoven zu einer Größe geworden, die sich die Politik immer wieder zunutze machte.

Zur Zeit der Weimarer Republik war Ludwig van Beethoven sowohl Verfechter der nationalistisch konservativen Strömungen, wie der sozialistischen Arbeiterbewegung. Die Nationalsozialisten inszenierten ihn als einen der Ihrigen. Zur Zeit der Deutschen Teilung wurde Beethoven gleichsam zum kulturellen Vertreter des Ostens und des Westens, jedoch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Mit der Gründung der Europäischen Union war er ein Kämpfer für die europäische Idee mit dem Mauerfall ein Garant für den Frieden. Auch international ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele finden.

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielt Beethoven Neunte Sinfonie traditionell zu Silvester. Diese Tradition pflegt das RSB seit mehr als 70 Jahren.

Am 23. März 1927 spielte das Berliner Funkorchester das Werk zum ersten Mal.

Erste Rundfunkübertragung Beethovens Neunter

Mit dem Tod Ludwig van Beethovens begannen Heroisierungs- und Mystifizierungsprozesse des Komponisten als Vordenker für eine demokratische Gesellschaftsordnung. Zu seinen Geburts- und Todestagen wurden fortan regelmäßig große Feste veranstaltet. Im 20. Jahrhundert entwickelten sich daraus nationale Feierlichkeiten, auf die die Politik zunehmend Einfluss nahm.

Zum 100-jährigen Todestag im Jahr 1927 fand inmitten einer politisch und gesellschaftlich hochbrisanten Phase der Weimarer Republik eine Festwoche in Berlin statt, zu der Ludwig van Beethoven gefeiert wurde. Eine Inszenierung der Oper Fidelio, die Aufführung der Missa solemnis und vieler weiterer Werke Beethovens von allen namhaften Orchestern und Ensembles der Stadt standen auf dem Programm. Im Kontext dieser Feierlichkeiten, die sich auch in einem vielgestaltigen Rundfunkprogramm widerspiegelten, trat das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, zu diesem Zeitpunkt unter dem Namen Berliner Funk-Orchester, erstmals mit der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven auf.

In der Sendung 200 Jahre Orchestermusik am 23. März 1927 spielte das Funk-Orchester unter der Leitung von Bruno Walter die erste Rundfunkübertragung der Sinfonie im Radio. Ein Millionenpublikum konnte Beethoven Neunte nun im Radio hören.

RSB-Konzert zum 125. Todestag von Beethoven

Die darauffolgenden Beethoven-Jubiläen fielen in die Zeit der Deutschen Teilung. Schon das erste Beethoven-Fest nach dem Zweiten Weltkrieg, das sowohl in Berlin, als auch in Bonn gefeiert wurde, zeigt die konfliktiven Verwerfungen zwischen BRD und DDR.

Von beiden Seiten wurde der 125. Todestag des Komponisten für propagandistische Zwecke genutzt. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin war als Teil der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Krieg der DDR-Regierung unterstellt worden und wurde damit gezielt in das Programm der Festwoche eingebunden.

Denn, ob Rundfunk, Presse, später Fernsehfunk, Spielfilm- oder Tonträgerproduktion, der Komplex der Medien wurde in der DDR, als einem in weiten Teilen diktatorisch organisierten Staat, reglementiert und zensiert.

„Die amerikanischen Kulturbarbaren und ihre Lakaien schänden das Andenken Beethovens, indem sie Bonn, seine Geburtsstadt, für die verderbliche nationale Entwürdigung mißbrauchen. Von Bonn aus werden die kosmopolitischen Zersetzungsversuche der großen deutschen Kulturwerte unternommen, um das Nationalbewußtsein des deutschen Volkes zu zerstören. ...

... Von Bonn aus wird die Fremdherrschaft gegen Millionen deutscher Menschen ausgeübt, werden Bruderkrieg und Völkerhaß geschürt, werden Beethovens erhabene Forderungen nach Frieden und Völkerfreundschaft mit Füßen getreten. Von Bonn aus wird ein neues Terrorregime ausgerichtet, das jeden friedliebenden und demokratisch gesinnten Deutschen in Westdeutschland durch Polizeibüttel und Ausnahmegesetze mundtot zu machen versucht. Jeder deutsche Patriot muß seine ganze Kraft einsetzen, damit diese Schmach an Beethovens Geburtsstadt durch den entschiedenen Kampf um die Wiederherstellung der nationalen Einheit und Unabhängigkeit Deutschlands beseitigt wird.“ Zentralkommitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, („Die SED zu Beethovens Geburtstag“, Stellungnahme zum 125. Todestag Ludwig van Beethovens am 26. März 1952, in: Tägliche Rundschau, Ostberlin 1952.)

Auch die Berliner Festwoche 1952 veranstaltete die DDR-Regierung und inszenierte in einer unmissverständlich sozialistischen Rhetorik die Feierlichkeiten in Bonn als feindseligen Missbrauch des Komponisten für die westliche Ideologie. Das RSB trat am 26. März 1952 im Rahmen eines Festaktes unter der Leitung des Chefdirigenten Herrmann Abendroth mit der Neunten Sinfonie auf.

Auch 1970 und 1977 fanden in BRD und DDR Jubiläumsfeste zur Ehrung Beethovens statt. Mit dem Bau der Berliner Mauer hatten sich die politischen Fronten weite verhärtet und derartige Großveranstaltungen waren seitens der Regierungen gleichsam kulturelles Ereignis und politische Bühne zu Propagandazwecken angelegt. In beiden Jubiläumsjahren spielte das RSB im Rahmen der Festwochen.
Anders als 1952 übernahm es jedoch die Aufführung der Missa solemnis, 1970 unter Rolf Kleinert und 1977 unter Heinz Rögner.

Sonderkonzerte zum 200. Geburtstag von Beethoven

Der 200. Geburtstag Beethovens im Jahr 2020 sollte als erstes Beethoven-Jubiläumsjahr des 21. Jahrhunderts ein bundesweites Festjahr im Zeichen des Komponisten werden.

Ausgerichtet wurde es von der eigens dafür gegründeten Beethoven Jubiläums GmbH mit Sitz in Bonn. Fast täglich sollte an einem Ort der Bundesrepublik Beethovens Musik in einem Konzert zu erleben sein.

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin war für ein Sonderkonzert zum Fest der Chorkulturen am 1. Mai 2020 in der Berliner Philharmonie eingeplant, zu dem Chöre aus Singapur, Brasilien, Südafrika, Russland, Belgien, von den Philippinen, aus Norwegen und Slowenien, dem Libanon und den USA erwartet wurden.

Der Schlusschor der Neunten Sinfonie von Beethoven war neben anderen Chorwerken als Programm vorgesehen. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie konnte das großangelegte Festjahr jedoch nur bis Anfang März stattfinden, was die Streichung eines großen Programmteils, damit auch des Chorkonzerts zur Folge hatte.

Zum Neubeginn

Sonderkonzerte außerhalb des Rundfunkprogramms und des saisonalen Konzertspielplans gehörten von Beginn an zu den festen Aufgaben des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin: Einweihungskonzerte, zum Beispiel für den Berliner Funkturm im Jahr 1926 oder für das „Haus des Rundfunks“ in der Masurenallee 1931, die zwischen 1941 und 1944 regelmäßig stattfindenden Wunschkonzerte für die Wehrmacht oder Parteitagskonzerte der SED während der Teilung Deutschlands. Und auch in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs wie etwa im Jahr 1945, wenige Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs, oder 1989, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer, ergriff das RSB Initiativen zu Sonderkonzerten. Speziell in letztgenannten Fällen fiel die Auswahl des Repertoires auf Beethovens Neunte Sinfonie.

Infolge der vollständigen, bedingungslosen Kapitulation der deutschen Truppen am 8. Mai 1945 und des Sieges der Alliierten gestaltete sich die Situation in Deutschland chaotisch, waren die Menschen orientierungslos. Die Aufteilung Deutschlands und Berlins in die vier Besatzungszonen unter Führung der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion zog auch die Dezentralisierung des vormals „Großdeutschen Rundfunks“ und somit die Aufteilung von Rundfunkanstalten und Sendern nach sich. Der „Berliner Sender“, zu dem auch das Rundfunk-Sinfonieorchester fiel unter die Leitung der sowjetischen Besatzungszone und nahm in den Wirren der Nachkriegstage und unter provisorischen Umständen 13. Mai 1945 den Sendebetrieb wieder auf.

funkkonzerte

Radiospruch zur ersten Sendung nach dem II. Weltkrieg (DRA): Hier anhören

Bereits am 18. Mai 1945, nur zehn Tage nach Inkrafttreten der Kapitulationserklärung, fand im Großen Sendesaal ein öffentliches Rundfunkkonzert statt: Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielte Ludwig van Beethovens Neunte Sinfonie „als Aufruf zum Neubeginn, zur demokratischen Erneuerung Deutschlands.“

Erstes Rundfunkkonzert nach dem II. Weltkrieg dirigiert von Artur Rother

Gedenkkonzert für die Opfer des Stalinismus

Am 5. Dezember 1989 fand ein weiteres Sonderkonzert auf Initiative der Mitglieder des Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin statt: ein Konzert zur Erinnerung an die Opfer des Stalinismus.

Es wurde kein Preis für die Eintrittskarten erhoben, auch verlangten die Mitwirkenden kein Honorar; Erlöse, die sich unter anderem aus Spenden ergaben, sollten gemeinnützigen Zwecken zugeführt werden.

„Die Saaltüren blieben offen – das hatte auch Symbolcharakter: Alle sollten es hören, was hier gesagt wurde, leise, unpathetisch, doch darum nicht weniger eindringlich. Anderthalbtausend Zuhörer erlebten die Veranstaltung […] im Großen Saal des Schauspielhauses Berlin, nicht zu zählen sind jene, die in anderen Räumen des Hauses, im Foyer und schließlich draußen auf dem Platz der Akademie Konzert, Ehrung, Gedenken erlebten. Als der Schlußchor der IX. Sinfonie längst verklungen war, flackerten draußen auf den Stufen des Schinkelbaus und um das Schiller-Denkmal noch Kerzen – bewegende Lichtzeichen dafür, tausendfach begangenes Unrecht nicht zu vergessen.“

Manfred Meier, „Tausendfaches Unrecht nicht zu vergessen. Sonderkonzert für die Opfer stalinistischer Verfolgung in der DDR

Zum Jahreswechsel

Die wahrscheinlich längste Konzerttradition des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, die sich ab dem Jahr 1947 manifestierte, sind die jährlichen Silvesterkonzerte in Berlin, zu denen die Neunte Sinfonie Ludwig van Beethovens bis heute erklingt.

Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 übernahm das sozialistische Regime diese Tradition und integrierte sie fortan als einen elementaren Bestandteil in den Kanon der Feiertagsprogramme.
Die Silvesterkonzerte fanden bis zur Fertigstellung des Palastes der Republik 1976 in der Berliner Volksbühne statt. Aufgrund des großen Interesses der Bevölkerung wurde die Tradition auf insgesamt drei Konzerte am 30. und 31. Dezember sowie eine Ausstrahlung über den Rundfunk erweitert.

Mit dem Fall der Mauer im Jahr 1989 und dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik brach diese Tradition nicht ab. Im Gegenteil legte das Orchester, das bereits in den Monaten vor der Wende durch kritische Statements gegenüber der politischen Führung skandalös aufgefallen war, explizit Wert darauf, „eine Spielzeit zu beginnen, in der es ohne ‚kulturpolitische‘ Bevormundung einem ‚unbegrenzten‘ Publikum nachhaltige Konzerterlebnisse bieten kann“.
So sollte auch Beethovens Neunte Sinfonie zum Jahreswechsel nicht vom Spielplan verschwinden. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin entschied sich nach dem Mauerfall 1989 für die Fortschreibung ihrer Silvesterkonzert-Tradition und hat diese Entscheidung in den vergangenen Jahren immer wieder bekräftigt. Heute finden die Silvesterkonzerte im Konzerthaus Berlin statt. Das Orchester verständigt sich auf einen öffentlichkeitswirksamen und transparenten Weg der Auseinandersetzung, der diese Tradition kritisch und diskursiv in den Blick nimmt.

Silvesterkonzerte am 2022

Ganz aktuell ist die gesellschaftspolitisch konnotierte Aufführungsidee der Neunten Sinfonie zum Silvesterkonzert 2022 im Kontext des Kriegs in der Ukraine: Der russische Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, Vladimir Jurowski, teilte sich die Aufführung der Neunten Sinfonie mit der ukrainischen Dirigentin Natalija Ponomartschuk. Jurowski übernahm den ersten und zweiten Satz, Ponomartschuk das Adagio und das Finale mit dem Schlusschor zu Schillers Ode„An die Freude“ mit einem internationalen Solistenquartett. Vorangestellt war dem Werk eine Auftragskomposition von Ralf Hoyer auf einen Text von Kerstin Hensel, welches Vladimir Jurowski bereits 2020 der Sinfonie voranstellen wollte. Pandemiebedingt konnte auch dieses Konzert nicht stattfinden. „Es geht mir um eine sinnvolle Ergänzung, die nicht überflüssig erscheint, sondern als sinfonischer Prolog für Mezzosopran und Orchester einen zeitgemäßen Ausgangspunkt markiert, der auf den Beginn der Sinfonie bereits eine andere Hörperspektive eröffnet.“

„Das ist unsere Hommage an die Kultur eines Landes in höchster existentieller Gefahr.“

Vladimir Jurowski

Bildrechte, Audioquellen

Kunstinstallation Bonner Marktplatzes mit Beethoven Statuen © Giaccomo Zucca/ Bundesstadt Bonn

Video Gedenkkonzert für die Opfer des Stalinismus

Bild Silvesterkonzert 2022 © Peter Meisel